Titel
Zu diesem Buch
Widmung
Prolog
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Epilog
Nachwort und Danksagung der Autorin
Die Autorin
Die Romane von Amy Harmon bei LYX
Impressum
Infinity Plus One
Roman
Ins Deutsche übertragen von
Corinna Wieja und Jeannette Bauroth
Bonnie Rae Shelby ist ein Superstar. Sie füllt die größten Hallen des Landes und hat mehr Geld, als sie jemals ausgeben könnte. Ihr Leben scheint ein wahr gewordener Traum. Aber all das ändert sich, als ihre Zwillingsschwester Minnie stirbt, ohne dass Bonnie die Gelegenheit hatte, sich von ihr zu verabschieden. Von einem Moment auf den anderen will nichts mehr einen Sinn ergeben – am allerwenigsten die Tatsache, dass Minnie tot ist und Bonnie noch lebt. Nach dem Abschlusskonzert ihrer Tournee in New York trifft Bonnie daher eine Entscheidung. Sie klettert auf eine Brücke, fest entschlossen zu springen. Doch in letzter Sekunde ergreift ein Mann ihre Hand und zieht sie wieder nach oben. Finn Clyde will New York eigentlich so schnell wie möglich hinter sich lassen und in Nevada ein neues Leben beginnen. Dass Bonnie ihn nun anfleht, sie auf seine Reise mitzunehmen, ist so ziemlich das Letzte, was er gebrauchen kann. Da er sie aber auch nicht allein ihrem Schicksal überlassen möchte, willigt er schließlich ein. Bonnie und Finn könnten unterschiedlicher nicht sein: Er will seine Vergangenheit vergessen, sie nicht an ihre Zukunft denken. Doch auf ihrer abenteuerlichen Reise quer durch die USA stellen sie fest, dass sich die wirklich wichtigen Dinge im Leben manchmal nur im Hier und Jetzt finden lassen …
Für meine Mom, die Mathematikerin – brillant, blond und bezaubernd
Der Fernseher war eingeschaltet, plärrte in voller Lautstärke. Es lief irgendein Promimagazin. Die Moderatorin saß mit ernster Miene hinter einem Tisch, was ihr und der Sendung wohl einen seriösen, glaubwürdigen Anstrich verleihen sollte. Ihre Sonnenstudiobräune und die falschen Wimpern machten die Wirkung von Tisch und ernster Miene jedoch gleich wieder zunichte. Er beugte sich vor, um den Fernseher auszuschalten, da tauchte plötzlich sein Gesicht auf dem Bildschirm auf. Lächelnd, den Arm um ihre Taille geschlungen, sah er zu ihr hinunter. Ihre linke Hand lag auf seiner Brust, und sie strahlte ihn an. Wie hypnotisiert ließ er den Arm wieder sinken. Ein altes Schwarz-Weiß-Foto wurde eingeblendet, und er verharrte völlig erstarrt, während die Moderatorin ihren Text in die Kamera sprach:
»Bonnie Parker lernte Clyde Barrow im Januar 1930 in Texas kennen. Die Weltwirtschaftskrise hatte ihren Höhepunkt erreicht; die Menschen waren arm, verzweifelt und ohne Hoffnung. Die neunzehnjährige Bonnie Parker und der zwanzigjährige Clyde Barrow bildeten keine Ausnahme. Obwohl sie einander wenig zu bieten hatten – Bonnie war bereits verheiratet, lebte jedoch nicht mehr mit ihrem Ehemann zusammen, Clyde war ein Überlebenskünstler, der nichts weiter besaß als ein Vorstrafenregister –, wurden sie unzertrennlich. In den darauffolgenden vier Jahren hinterließen sie eine blutige Spur im staubigen Süden, raubten Banken, Geschäfte und Tankstellen aus, töteten Polizisten und Zivilisten und führten ein Leben auf der Flucht, das nur von gelegentlichen Gefängnisaufenthalten unterbrochen wurde. Eine Filmrolle aus einem Fotoapparat und einige Gedichte von Bonnie, die man in ihrem Schlupfwinkel in Joplin, Missouri, entdeckte, machten das junge Verbrecherpärchen unvergessen. Ihre Geschichte hat die Menschen weltweit fasziniert. Sie waren jung, wild, verliebt und rücksichtslos. Immer den unausweichlichen Tod vor Augen, flüchteten sie vor dem Gesetz, und im Mai 1934 ereilte sie ihr Schicksal. Auf einer einsamen Straße in Louisiana gerieten sie in einen Hinterhalt und starben gemeinsam im Kugelhagel; über einhundertdreißig Schüsse durchsiebten ihre Körper und ihren Wagen. Ihre jungen Leben waren ausgelöscht und ihrer Verbrechensserie ein Ende gesetzt worden, aber in den Erinnerungen der Menschen lebten sie weiter.
Hat sich die Vergangenheit nun wiederholt? Erleben wir eine moderne Version der Geschichte von Bonnie und Clyde? Ein Liebespaar auf der Flucht, das eine Spur aus Chaos hinter sich herzieht? Zwar sind die beiden Fälle nicht identisch, dennoch gibt es bemerkenswerte Parallelen. Und man muss sich fragen, ob nicht gar zu früher Ruhm und Reichtum in gewisser Weise die Auslöser dieser Ereignisse sind. Statt der Armut, die für Bonnie und Clyde in den 1930er-Jahren zum Alltag gehörte, stoßen wir nun auf das andere Extrem. In beiden Fällen mussten junge Menschen zu schnell erwachsen werden, sich zu früh den harten Realitäten des Lebens stellen und rebellierten schließlich gegen das System.
Wir erleben es immer wieder – eine vielversprechende Karriere, ein sensationelles Talent. Und wir alle stellen uns die Frage: Was ist aus Bonnie Rae Shelby geworden?«
Elf Tage zuvor
»Ich habe gehört, dass alle beim Fallen schreien – sogar, wenn sie freiwillig gesprungen sind.«
Die Stimme kam wie aus dem Nichts, ließ mich zusammenzucken und jagte mir ein Ziehen durch die Magengrube, als hätte ich schon losgelassen und befände mich im freien Fall. Wer da mit mir sprach, konnte ich nicht sehen. Der Nebel war zu dicht und bot mir damit die perfekte Gelegenheit, unbemerkt in das samtige Weiß einzutauchen. Die dicken Schwaden lullten mich in ein trügerisches Gefühl der Sicherheit, umhüllten mich wie ein Kokon und gaukelten mir vor, sie würden mich auffangen und ich könnte mich eine Weile darin verstecken. Mit feuchtem Atem flüsterte mir der Nebel zu, dass das Loslassen leicht und schmerzlos sein würde, dass ich nicht in den Abgrund stürzen, sondern von einer Wolke getragen werden würde. Ein Teil von mir wollte jedoch in den Abgrund stürzen. Deshalb war ich hier. Und ich bekam diesen Song einfach nicht aus dem Kopf. Die Strophe, in der es darum ging, dass man im Himmel für immer zusammen sein könnte.
Oh my darling Minnie Mae, up in heaven, so they say
And they’ll never take you from me, anymore
I’m coming, coming, coming, as the angels clear the way
So farewell to the old Kentucky shore.
»Komm da runter.« Wieder diese Stimme. Körperlos. Ich konnte nicht mal erkennen, aus welcher Richtung sie kam. Sie klang tief, rau. Die Stimme eines Mannes. Nach dem Klang zu urteilen, war er wohl nicht mehr ganz so jung, vielleicht etwa so alt wie mein Vater. Daddy hätte auch versucht, jemanden, der auf einem Brückengeländer steht, mit guten Worten wieder runterzuholen. Oder mit einem Lied. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln. Seine Stimme beherrschte meine frühesten Kindheitserinnerungen. Tief und Folksongs schmetternd, mit dem typischen Südstaatler-Singsang, der zu meinem Markenzeichen geworden war. Anfangs hatte ich immer die Melodiestimme gesungen, Daddy hatte den Tenor beigesteuert und Gran die Begleitstimme. Wir konnten stundenlang singen. Und das taten wir auch. Darin waren wir gut. Dafür lebten wir. Aber ich wollte nicht mehr dafür leben.
»Wenn du nicht runterkommst, komm ich rauf.«
Ich zuckte erneut zusammen. Ich hatte ganz vergessen, dass er da war. Ganz einfach so. Mein Gehirn war wie die Luft um mich herum völlig vernebelt, als hätte ich sie tief eingeatmet.
Er sagte runter statt herunter und verschluckte das R am Ende, sodass es ein wenig wie ein A klang – »runta«. Ich konnte den Akzent nicht einordnen. Einen Moment lang war ich verwirrt. Boston. Genau. Ich war in Boston. Gestern war ich in New York City und davor in Philadelphia gewesen. Und vergangenen Montag in Detroit, oder? Ich versuchte mich an all die Aufenthalte in all den Städten zu erinnern, doch in meinem Kopf verschwamm alles zu einem undeutlichen Bild. Ich bekam nie viel von den Städten zu sehen, in denen ich auftrat. Ein Ort glich dem anderen.
Plötzlich balancierte der Mann neben mir auf dem Geländer, die Arme, wie ich, gegen das Metall gestemmt. Er war groß. Ziemlich groß, wie ich nach einem raschen Seitenblick feststellte. Unvermittelt hatte ich ein Gefühl, als ob mir das Herz in die Magengrube rutschte, dort dumpf aufschlug und wie ein Ball herumhüpfte, und mir wurde schlecht. Mein Magen war leer, nichts Neues. Ich fragte mich, ob der Mann ein Vergewaltiger oder Serienkiller war. Aber eigentlich spielte das keine Rolle, entschied ich müde. Falls er mich vergewaltigen oder ermorden wollte, konnte ich einfach loslassen. Problem gelöst.
»Wissen deine Eltern, wo du bist? Gib mir ihre Telefonnummer und ich ruf sie an.« Da war es wieder, am Ende von »Telefonnummer«, das verschluckte R, das wie ein A klang – »Numma«. Seine Stimme ähnelte doch nicht der meines Vaters. Daddy war in den Bergen von Tennessee geboren und aufgewachsen. In Tennessee sprechen wir die Rs aus. Wir rollen unsere Zungen um das R wie um ein Zitronenbonbon, bevor wir es loslassen.
»Soll ich jemanden für dich anrufen?«, fragte er, als ich keine Antwort gab. Ohne ihn anzusehen, schüttelte ich den Kopf. Ich hielt den Blick nach vorn in den Nebel gerichtet. Das weiße Nichts gefiel mir. Es beruhigte mich. Ich wollte diesem Nichts näher sein. Deshalb war ich auf das Geländer geklettert.
»Schau mal, Kindchen. Ich kann dich hier nicht allein lassen.«
Auch das R von hier war kaum wahrnehmbar. Sein Akzent faszinierte mich, dennoch wünschte ich mir, er würde endlich aufgeben und verschwinden.
»Ich bin kein Kind. Du kannst mich also sehr wohl hier allein lassen.« Mir fiel auf, wie trotzig meine gerollten Rs klangen, ebenso trotzig wie meine Worte.
Ich spürte seinen Blick auf meinem Gesicht ruhen und sah ihn an. Nahm ihn zum ersten Mal bewusst wahr. Er trug eine Strickmütze, die er sich tief in die Stirn und über die Ohren gezogen hatte, so wie ich. Es war kalt. Meine Mütze hatte ich von meinem Sicherheitschef geklaut, zusammen mit einem riesigen Kapuzenshirt, das jemand in meiner Garderobe vergessen hatte. Seine Mütze sah aus, als sei sie ein Teil von ihm. Er hatte sie ganz sicher nicht gestohlen. Zottelige, lange blonde Haare lugten darunter hervor, seine breiten Augenbrauen waren jedoch beinahe so dunkel wie die Wolle seiner Mütze – schwarze Balken über Augen von undefinierbarer Farbe. In der nebligen Dunkelheit konnte man nur unterschiedliche Grautöne erkennen. Mit starrem Blick, den Mund leicht zusammengekniffen, fixierte er mich überrascht. Offensichtlich hatten wir uns beide geirrt. Ich war kein Kind und er kein älterer Mann. Er war höchstens ein paar Jahre älter als ich, wenn überhaupt.
»Nein, wie ein Kind siehst du wirklich nicht aus«, sagte er. Sein verblüffter Blick wanderte zu meiner Brust, wie um sich zu vergewissern, dass ich tatsächlich weiblich war. Ich hob eine Augenbraue und reckte das Kinn, um ihn auf diese Weise wortlos aufzufordern, mir ins Gesicht zu schauen. Es funktionierte; er hob den Blick und redete in besänftigendem Ton auf mich ein.
»Wenn du springst, wirst du aller Wahrscheinlichkeit nach sterben. Vielleicht wirst du den Fall sogar genießen, aber den Aufprall ganz sicher nicht; der wird sich so richtig scheiße anfühlen. Und falls du doch nicht stirbst, wirst du dir wünschen, du hättest es nicht überlebt oder wärst erst gar nicht gesprungen. Und dann wirst du um Hilfe rufen. Aber dann ist es zu spät, denn ich spring dir bestimmt nicht hinterher, Texas.«
»Ich kann mich nicht erinnern, dich darum gebeten zu haben, Boston«, gab ich zurück, ohne ihn über meinen tatsächlichen Heimatstaat aufzuklären. Offenbar schien jeder, der das R rollend aussprach, aus Texas stammen zu müssen.
Sein Blick ruhte kurz auf meinen Stiefeln und glitt dann abschätzend nach oben zu meinem Gesicht. »Du und ich, wir beide wissen doch, dass du es sowieso nicht tun wirst. Also beende das Drama, kletter runter, und ich bring dich, wohin du willst.«
Er hatte genau das Falsche gesagt. Ich spürte, wie die Wut meinen leeren Magen füllte und in meine Kehle hinaufschoss wie Flammen in einem Aufzugschacht. Tränen liefen mir über die Wangen, der natürliche Schutz meines Körpers gegen das Inferno, das in mir wütete. Ich fühlte mich erschöpft. Völlig ausgelaugt. Emotional und körperlich am Ende. Ich war es leid, dass jeder glaubte, er könne mich bevormunden und mir sagen, was ich wann wie und mit wem zu tun hatte. Ich war es leid, nie eigene Entscheidungen treffen zu können, und beschloss, dies an Ort und Stelle zu ändern. Seine Bemerkung bestärkte meinen Entschluss nur noch. Ich sah sofort, wann er diese Tatsache begriff. Sein Mund formte einen stummen Fluch, und er riss erschrocken die Augen auf.
Ich beugte mich nach vorn in den Nebel und ließ los.
∞
Als meine Zwillingsschwester starb, wurde der Tod für mich sehr real. Ich dachte fast unaufhörlich daran, und weil ich sie mehr liebte als alles andere auf der Welt, wollte ein Teil von mir bei ihr sein, wo immer sie auch war. Ich begann, über meinen eigenen Tod nachzudenken und mir die Umstände auszumalen, wie es passieren könnte. Diese Todessehnsucht kam jedoch nicht von jetzt auf gleich; sie schlich sich ganz allmählich ein. Es fing mit einem Gedanken an, der in den dunkelsten Ecken des Verstandes aufflackert, wie eine Geburtstagskerze, kurz bevor man sie ausbläst. Nur dass die Todessehnsucht wie eine dieser magischen Kerzen ist, die man ausbläst und die gleich darauf wieder aufflammen. Wieder und wieder. Und jedes Mal, wenn sie erneut aufflackert, brennt sie ein wenig länger und strahlt ein wenig heller. Das Licht erscheint beinahe warm. Freundlich. Ganz und gar nicht so, als ob es einen verbrennen würde.
Irgendwann wird der flackernde Gedanke zur Möglichkeit und die Möglichkeit zum präzisen Vorhaben, mit einem Plan A und einem Plan B. Und manchmal auch Plan C und D. Und bevor man sich’s versieht, nimmt man auf vielerlei beiläufige Arten Abschied. Man denkt, vielleicht ist das meine letzte Tasse Kaffee. Das letzte Mal, dass ich mir die Schuhe binde oder die Katze streichele. Das letzte Mal, dass ich diesen Song singe. Und mit jedem »letzen Mal« nimmt die Erleichterung zu, so wie beim Abhaken anstrengender Aufgaben auf einer langen Liste. Irgendwann reihen sich die kleinen Kerzen im Kopf wie brennende Brücken aneinander. Leute, die sterben wollen, brechen sämtliche Brücken hinter, vor und neben sich ab. Und dann springen sie hinunter.
An diesem Abend hatte ich alle lächelnd und mit sanften Worten aus meiner Garderobe geworfen. Ich hatte nicht geschrien, geweint oder mich wie eine Diva aufgeführt. Das war nicht meine Art. Das war Grans Job. Ich bat lediglich darum, einen Moment allein gelassen zu werden. Die Tour ging an diesem Abend zu Ende, alle waren in Feierlaune. Am Vorabend hatte ich ein Konzert im Madison Square Garden gegeben, und Gran schwebte im siebten Himmel. An diesem Abend traten wir in einer weiteren sehr berühmten Halle mit »Garden« im Namen auf, dem TD Garden. Ich weiß, ich hätte darüber vor Freude aus dem Häuschen sein sollen. Aber das war ich nicht. Ich fühlte mich so leer wie eine riesige, ausgehöhlte Wassermelone. Daddy hatte die Wassermelonen oben immer wie ein Ei geköpft und dann wie Eiscreme ausgelöffelt, Löffel für Löffel, bis nur noch die leere Schale übrig geblieben war. Anschließend hatte er den »Deckel« wieder draufgesetzt, sodass die Melone wie frisch gekauft aussah. Mehr als einmal hatte meine Mutter ihn verflucht, wenn sie mal wieder feststellen musste, dass das Innere sauber ausgekratzt war.
Alle waren gegangen – mein Stylist Jerry, meine Make-up-Stylistin Shantel und die Frauen und Freundinnen der Crew, die den letzten Abend der Tour mitfeiern wollten. Die Show war endlich vorüber. Na ja, so gut wie. Ich verließ die Bühne vor dem letzten Song. Die Vorgruppe und meine Band beendeten das Konzert mit dem Medley, das wir immer zum Ende eines Konzerts spielten.
Ich hatte behauptet, mir sei schlecht. Aber bevor ich die Bühne verließ, habe ich meinen Auftritt so absolviert, wie man es von mir erwartete. Ich habe die Songs aus meinem letzten Album gesungen und die Lieblingssongs der vorausgegangenen drei. Mit vier eingespielten CDs und dem Album mit all meinen Songs aus der Castingshow Nashville Forever, das kurz nach meinem Sieg veröffentlicht worden war, hatte ich mich in der Branche etabliert, einen Grammy gewonnen und galt als Schlagzeilengarant. Mein letztes Album Come Undone hatte sogar Platin erreicht.
Ich hatte meine Verpflichtungen erfüllt. Niemand konnte mir nachsagen, ich hätte nicht geliefert. Ich hatte mir die Seele aus dem Leib gesungen, während ich in meinem sorgfältig ausgewählten Kostüm – kunstvoll zerrissene, hautenge blaue Jeans, ein schwarzes Seidentop und hochhackige rote Cowgirlstiefel – über die Bühne tänzelte. Die Mischung sollte die Grenzen zwischen Pop-Prinzessin und Countrysängerin verwischen, um meine Marktchancen zu maximieren.
Die Scheinwerfer auf der Bühne sorgten für unerträgliche Hitze, doch mein Make-up hielt tadellos. Die falschen Wimpern und raffiniert aufgetragenen Schichten Lidschatten, Eyeliner und Mascara ließen meine dunkelbraunen Augen groß und seelenvoll wie Welpenaugen erscheinen. Mein Gesicht wurde von langen, goldblonden Locken umrahmt, die typische Bonnie-Rae-Shelby-Frisur, die kleine Mädchen im ganzen Land zu imitieren versuchten. Ich hätte ihnen sagen können, wie leicht das ist. Ich hatte mir die Locken im Laden gekauft. Das kann jeder. Okay, inzwischen waren Haarteile teuer geworden, aber das war nicht immer so gewesen.
Als Minnie damals wegen der Chemotherapie die Haare auszufallen begannen, beschlossen wir, uns gemeinsam den Kopf zu rasieren. Unsere hellbraunen Haare rieselten zu flauschigen Teppichen auf den Boden. Wir waren Zwillinge. Eineiige Zwillinge. Sogenannte Spiegelbildzwillinge. Wenn Minnie einen kahlen Schädel bekommen würde, dann wollte ich ebenfalls Glatze tragen. Das stand für mich fest. Gran meinte jedoch, mit einer Glatze könnte ich nicht auf die Bühne gehen, weshalb sie mir am Tag des Castings für Nashville Forever von unserem Bus- und Essensgeld eine Perücke mit langen, aschblonden Locken kaufte.
»Dolly Parton trägt immer Perücken, Bonnie«, hatte Gran fröhlich erklärt, während sie mir das Teil über den glatten Kopf zog. »Schau dich an! Blond steht dir, Bonnie Rae. Du siehst aus wie ein kleiner Engel. Das ist gut. Genau das wollen wir. Engelslocken passend zu deiner Engelsstimme.«
Seitdem hatte ich immer Engelslocken getragen, allerdings keine Dolly-Perücke mehr. Inzwischen verwendete ich Extensions, ließ mir die Haare färben, und ein Friseur, eine Make-up-Stylistin, ein Stylist und ein Security-Team begleiteten mich auf Reisen. Ich hatte auch eine Pressesprecherin, einen Agenten und einen Anwalt auf Kurzwahl. Und Gran. Gran war von allem ein wenig, hauptsächlich aber meine Managerin.
Gran wollte nicht, dass ich ohne sie in die Garderobe ging. Gran war schlau. Und tough. Manchmal auch ein wenig fies und Furcht einflößend. Sie ahnte, dass etwas nicht stimmte. Sie hat die brennende Brücke gerochen; sie konnte nur den Rauch nicht sehen.
»Gib mir nur einen Augenblick, Gran. Ich bin einundzwanzig. Man kann mich eine halbe Stunde allein lassen, ohne dass die Welt deswegen untergeht.« Meine Stimme klang seelenruhig, doch in mir herrschte Aufruhr. Ich war so eine Lügnerin. Grans Welt würde an diesem Abend untergehen. Welche Ironie. Sie nickte kurz und wandte sich ab, um sich ums Geschäft zu kümmern.
Nun war ich allein.
Ich betrachtete mich in dem großen Spiegel vor mir. In der Garderobe gab es überall Spiegel. Ich fuhr über meine Locken und blinzelte ein paarmal. Dann holte ich die Schere, die ich aus Jerrys kleinem Zauberkasten hatte mitgehen lassen, und fing an zu schneiden. Schnipp, schnipp, schnipp. Die Engelslocken verteilten sich um meine Füße herum wie sechs Jahre zuvor. Ein paar Strähnen landeten auf meinen Schultern und in meinem Schoß. Eine Locke fiel vorn auf mein Shirt, und ich fing an zu lachen. Mit den Haaren im Ausschnitt sah ich aus wie ein Mann mit Möpsen. Lachend schnitt ich weiter, bis kaum noch Haare übrig waren. In kurzen, zerrupften Büscheln standen sie mir vom Kopf ab und waren sogar noch kürzer als Damons. Damon saß während der Come-Undone-Tour an den Drums. Ich fand ihn heiß, aber Gran ließ ihn nicht in meine Nähe, weil er angeblich Herpes hatte. Ich war mir jedoch ziemlich sicher, dass der eigentliche Grund, warum sie ihn von mir fernhalten wollte, sein Penis war. Sie tat alles in ihrer Macht Stehende, um die Kerle auf Abstand zu halten.
Als ich sah, was von meinen Haaren noch übrig war, wandelte sich mein Lachen in ein komisches Hicksen, das auch ein ersticktes Schluchzen hätte sein können. Jetzt gab es kein Zurück mehr, und Minnie war nicht da, um sich ebenfalls die Haare abzuschneiden. Ich verdrängte die Schuldgefühle und zupfte mir die falschen Wimpern von den Lidern. Die schwarzen Spinnenbeinchen an meinen Augen leisteten Widerstand. Ich zuckte leicht zusammen, als ich sie abriss. Anschließend entfernte ich das Make-up mit einer Handvoll Feuchttücher und zog mir eine Wollmütze über die Überreste meiner Engelslocken. Die Beanie roch nach Bär – es war seine Mütze – und unvermittelt stieg wieder dieser Schmerz in mir auf, der noch schwerer zu unterdrücken war als die Schuldgefühle. Ich würde Bär vermissen. Und er mich.
Die roten Stiefel und die Jeans musste ich anbehalten. Ich hatte keine anderen Klamotten griffbereit und ohnehin keine Zeit zum Umziehen. Daher schlüpfte ich in das viel zu große Tour-Sweatshirt, auf dessen Rücken in langen Reihen unsere Tourdaten von 2013 und 2014 aufgelistet standen. Allein beim Anblick der Schrift überkam mich abgrundtiefe Erschöpfung. Ich zog die Kapuze über die Beanie, sodass sie mein Gesicht beschattete, als wäre ich ein Möchtegern-Gangster. Da ich es eilig hatte, ließ ich die Haarsträhnen einfach auf dem Boden und dem Schminktisch verstreut liegen. Außerdem wollte ich, dass Gran die abgeschnittenen Haare sah. Ich weiß nicht, warum, aber es schien mir irgendwie wichtig.
An der Tür blieb ich abrupt stehen. Ohne Geld konnte ich mir kein Taxi nehmen und auch nicht mit dem Bus fahren, und ich hatte weder meine Tasche noch meine Kreditkarten dabei. Die trug ich nie mit mir herum. Das war nicht nötig. Wenn ich etwas brauchte, sorgte Gran oder jemand anderes dafür, dass ich es bekam. Volle zehn Sekunden lang geriet ich in Panik, bis ich Grans Designertasche auf dem Schminktisch entdeckte. Ich konnte kaum fassen, dass sie die hier liegen gelassen hatte.
Gran war länger arm gewesen als reich, und arme Leute wie wir haben ihr Geld immer gern in Reichweite. Wir stopfen es unter die Matratzen und in unsere BHs und höhlen Wände für unsere Schätze aus. Gran hatte diese Arme-Leute-Mentalität beibehalten und würde die alten Gewohnheiten vermutlich bis an ihr Lebensende nicht ablegen. Sie sorgte immer dafür, jederzeit flüssig zu sein. Ich vermutete, dass sich in ihrem Portemonnaie weitaus mehr befand, als ich für das Taxi benötigte, aber ich wurde allmählich nervös, denn mir lief die Zeit davon. Also schnappte ich mir Grans Handtasche, ohne nachzusehen, was sich darin befand, zog den Kopf ein und öffnete die Tür. So, wie ich Gran kannte, hatte sie mindestens hundert Riesen im Safe des Tourbusses gebunkert. Und die konnte sie gerne behalten.
Niemand wartete vor der Garderobentür, und soweit ich weiß, hat mir auch niemand einen zweiten Blick geschenkt, als ich das Gebäude verließ. Ich achtete darauf, nicht zu schnell zu gehen.
Nachdem der Fluchtgedanke vor ein paar Wochen in mir aufgeflackert war, hatte ich mir an all meinen Auftrittsorten einen Überblick über die Ausgänge verschafft. Bär im Schlepptau ging ich, unter dem Vorwand, mir die Beine vertreten zu wollen, die labyrinthartigen Flure und riesigen Katakomben aller Stadien und Arenen ab. Es war zu einem Spiel geworden. Wo ich ging und stand, spielte ich »Was wäre, wenn?« und plante meine wilde Flucht. Träumte davon. Malte sie mir in allen Einzelheiten aus. Nun war es also endlich so weit – ich verließ eine Arena, die als Symbol für den Erfolg eines Superstars galt. Und warf keinen Blick zurück.
∞
Sobald ich die eiserne Brückenstrebe losließ, tat es mir auch schon leid. Ich fragte mich, ob sich wohl jeder am Ende seines Lebens so fühlte. Kein Film lief vor meinem inneren Auge ab, keine Bilder blitzten auf. Es gab nur einen kurzen Moment völliger Gewissheit, dass jetzt alles vorbei war und ich die Ziellinie überquert hatte. Wie in Zeitlupe kippte ich nach vorne, meine Füße standen immer noch auf dem Geländer. Ich spürte, wie der Fremde neben mir hastig nach mir griff. Er krallte eine Hand in mein gestohlenes Sweatshirt und zog mich zurück, wodurch ich auch den letzten Halt verlor. Meine Beine knickten weg, aber statt nach vorne zu fallen, fiel ich nach hinten und schlug mit der linken Seite gegen das Metallgeländer, auf dem wir eben noch gestanden hatten. Auch er verlor das Gleichgewicht und stieß gegen meine Schulter. Alle viere von mir gestreckt, landete ich schmerzhaft halb auf dem Fremden, halb auf dem nassen Betonstreifen vor dem Geländer. Sofort versuchte ich mich aufzurichten und wehrte mich voller Wut gegen seinen Griff. Schon wieder hatte mich jemand daran gehindert, eine eigene Entscheidung zu treffen.
»Lass das!«, rief er und schnappte nach Luft, als ich ihm den Ellbogen zwischen die Rippen drückte, um aufzustehen. »Bist du verrückt?«
»Ich bin nicht verrückt!«, schrie ich. »Wer bist du überhaupt? Verschwinde! Ich habe dich nicht um Hilfe gebeten!«
Bei dem Gerangel war mir meine Mütze abhandengekommen. Ich tastete den Boden danach ab, konnte sie aber nicht finden. Der Verlust von Bärs Mütze erschütterte mich mehr als die Nahtoderfahrung. Ich schlang die Arme um den Kopf, setzte mich vor das Geländer und zog schwer atmend und gegen die Tränen anblinzelnd die Beine zur Brust. Vielleicht weinte ich gar nicht um die Mütze. Vielleicht weinte ich aus Erleichterung oder Angst oder auch, weil ich nicht wusste, was ich jetzt tun sollte. Ich hatte nie weiter als bis zur Brücke gedacht. Ich wusste, dass ich es nicht noch einmal schaffen würde, auf das Geländer zu klettern, und mir war auch klar, dass es keinen Sturz in den Nebel mehr geben würde. Von dieser lockenden Versuchung war ich geheilt. Zumindest für den Augenblick.
»Wenn ich so einen Frisurunfall gehabt hätte, würde ich auch heulen«, sagte der Fremde, hockte sich neben mich und reichte mir meine Mütze. Ich zog sie rasch über meine zerrupften Haare.
»Ich bin Clyde.« Er ließ die Hand ausgestreckt, als erwarte er, dass ich sie zur Begrüßung schüttelte. Wie betäubt starrte ich auf seine großen Hände. Alles an ihm war groß, aber so riesig wie Bär war er nicht. Bär war stämmig wie ein Bulle und gebaut wie eine menschliche Wand, was er im Grunde genommen auch war. Clyde wirkte schlaksig und schmal, hatte breite Schultern, und seine Hände sahen zupackend und stark aus.
»Clyde«, wiederholte ich benommen. Es war keine Frage. Ich probierte den Namen aus. Er passte nicht zu ihm. Er sah nicht aus wie ein Clyde. Clyde war der Name des Typen, dem in Grassley, Tennessee, die kleine Tankstelle mit nur einer Zapfsäule gehörte. Dort, in der kleinen Stadt am Fuße der Berge, hatte ich gelebt, bis ich sechzehn war und Gran meine Eltern davon überzeugte, dass wir alle reich werden könnten, wenn sie ihr erlaubten, mich nach Nashville zu bringen. Der Clyde aus Grassley hatte nur noch zwei Zähne und spielte gern auf seinem Banjo mit nur zwei Saiten. Zwei Zähne, zwei Saiten. Das war mir früher gar nicht aufgefallen. Vielleicht war zwei die Glückszahl vom alten Clyde.
»Wie heißt du, verrücktes Mädchen?«, fragte der neue Clyde. Er hielt den Arm immer noch ausgestreckt und wartete darauf, dass ich mit ihm per Handschlag Freundschaft schloss.
»Bonnie«, antwortete ich und begann wie verrückt zu lachen. Mein Name war Bonnie und seiner Clyde. Bonnie und Clyde. Wenn das nicht einfach perfekt war. Ich ergriff seine Hand. Als meine Finger darin verschwanden, fühlte ich mich beherzt und befreit zugleich, so, als sei doch noch nicht alles vorbei für mich.
»Ja. Klar. Verstehe schon. Du willst mir deinen Namen also nicht verraten. Von mir aus.« Clyde zuckte mit den Schultern. »Dann nenn ich dich eben Bonnie.« Clyde dachte offensichtlich, ich würde mich über ihn lustig machen, aber wie es aussah, war er nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Seine Stimme glich einem tiefen, sanften Rumpeln, und ich fragte mich unwillkürlich, ob er mit seiner Bassstimme singen konnte.
»Läufst du vor etwas davon, Bonnie?«
»Kann sein«, antwortete ich. »Vielleicht lasse ich auch nur etwas hinter mir.«
Forschend glitt sein Blick über mein Gesicht, und ich senkte den Kopf. Ich wusste nicht, welche Art von Musik er mochte. Vermutlich nicht meine Art von Musik. Allerdings war mein Gesicht in den vergangenen sechs Jahren so ziemlich überall zu sehen gewesen, weshalb die Chancen, dass er mich erkannte, relativ hoch standen, ob er nun Country-Pop mochte oder nicht.
»Sollen wir jemanden anrufen?«
»Ich will niemanden anrufen! Ich will niemanden sehen. Ich will auch nicht deine Komplizin sein und mit dir Banken ausrauben, Clyde. Ich möchte jetzt allein sein. Ich will, dass du gehst. Okay?« Meine Stimme klang wie ein Fauchen, aber das war mir egal. Ich wollte ihn unbedingt loswerden. Sobald das »Verschwinden« von Bonnie Rae Shelby bekannt wurde, würde er sich zusammenreimen, wer ich war. Und wenn das geschah, musste ich schon so weit fort sein, dass es keine Rolle mehr spielte, wann und wo er mich gesehen hatte.
Er stieß einen tiefen Seufzer aus und fluchte leise. Dann richtete er sich auf und ging. Mehrere Autos zischten vorüber, wie Windstöße aus dem Nichts, und ich fragte mich unvermittelt, ob Clyde zu Fuß unterwegs war. Vielleicht hatte er mich deshalb bemerkt. Eine andere Erklärung fiel mir nicht ein. Ich sah mich um, als ob der Nebel mir die Antwort enthüllen könnte. Stattdessen drehte sich mir der Kopf nur noch mehr. Ich wusste nicht mal, wo ich mich befand.
Ich stand auf und lief Clyde hinterher. Er war bereits im Nebel verschwunden. Die Hände in die weiten Taschen meines Sweatshirts gestopft, beschleunigte ich das Tempo und lauschte dabei angestrengt auf seine Schritte. Hoffentlich war er nirgendwo abgebogen. Quatsch! Wir befanden uns ja auf einer Brücke. Also konnte er nur in eine Richtung gegangen sein, ohne mir wieder über den Weg zu laufen. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ihn verfolgte, nachdem ich ihn eben erst so erfolgreich vertrieben hatte. Ich wusste jedoch nicht, was ich sonst tun sollte.
Der Klang meiner Schritte auf der Brücke veränderte sich leicht, und ich erreichte eine breitere Stelle. Verkehrskegel trennten die Fahrspuren von einer Haltebucht, in der ein weißer Laster mit der Aufschrift »Boston Municipal« stand. Ein ramponierter, orangefarbener Chevy Blazer parkte mit pulsierenden Warnblinkern direkt dahinter. Clyde saß mit gespreizten Beinen und verschränkten Armen auf der breiten Stoßstange, als hätte er auf mich gewartet.
»Ist das deiner?« Ich deutete auf den alten Chevy.
»Ja.«
»Warum hast du hier gehalten?«
»Ich konnte ja wohl schlecht dahinten bei dir im Nebel stehen bleiben, ohne eine Massenkarambolage auszulösen.«
»Warum hast du überhaupt angehalten?«
»Weil ich auf dem Geländer ein Kind gesehen habe, das in den Mystic River springen wollte.«
»Wie?« Meine Stimme klang ungläubig, fast ein wenig vorwurfsvoll.
Er sah mich verwundert an.
»Wie konntest du mich bei diesem Nebel überhaupt sehen?«, wurde ich deutlicher.
Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich habe ich im rechten Augenblick hingeschaut. Und da warst du.«
Überrascht trat ich einen Schritt zurück. »Du hast also hier angehalten und bist zurückgelaufen? Wegen mir?« Ich war völlig baff. »Warum?«
Meine Frage ignorierend stand er auf und ging zur Fahrertür. »Hast du für heute vom Springen genug, Bonnie?«
»Was, wenn ich Nein sage?«, antwortete ich herausfordernd und verschränkte die Arme.
Er wandte sich langsam zu mir um. »Also, soll ich dich jetzt irgendwo hinbringen? Zu einer Bushaltestelle oder nach Hause? Ins Krankenhaus? Sag mir, wohin du willst, und ich bring dich hin. Okay?«
Ich wusste nicht, was ich machen oder wohin ich gehen sollte. Ich drehte mich im Kreis und rieb mir über die Arme, während ich meine Möglichkeiten überdachte und darüber grübelte, wie es jetzt weitergehen sollte, doch mein Kopf blieb leer. Ich war müde, so unglaublich müde. Vielleicht konnte mich Clyde einfach am nächsten Hotel absetzen, damit ich dort ein paar Tage oder Jahre lang durchschlafen konnte, bis meine Welt wieder in Ordnung war. Oder zumindest so lange, bis ich etwas Klarheit gewonnen oder neuen Mut gefasst hatte, was mir beides im Moment fehlte.
Ein Polizeiauto raste vorbei, dann noch eins. Die blitzenden Signallichter ließen die neblige Dunkelheit wie eine von Rauch geschwängerte Bar erscheinen, komplett mit psychedelischer Discokugel. Clyde und ich zuckten gleichzeitig zusammen, als die Sirenen losheulten. Unsere Blicke trafen sich.
»Kommst du?«
Ich nickte und ging zur Beifahrertür. Erst leistete sie beim Öffnen ein wenig Widerstand, aber als ich kräftig am Griff zog, schwang sie auf. Ich ließ mich auf den zerschlissenen Sitz fallen und warf die Tür zu. Während Clyde sich in den spärlichen Verkehr auf der Brücke einfädelte, lehnte ich mich ans Fenster. Im Auto war es noch warm, und im Radio lief klassische Musik. Ich mochte klassische Musik nicht besonders. Erstaunlich, dass Clyde so was gefiel. Er wirkte eher wie ein Typ, der auf Pearl Jam oder Nirvana stand. Mit seiner Strickmütze und dem Siebentagebart sah er Kurt Cobain sogar ein bisschen ähnlich. Er hielt den Blick nach vorne gerichtet, aber vermutlich merkte er, dass ich ihn und den ganzen Kram in seinem Auto gründlich musterte. Entweder zog er um oder er wollte verreisen. Die Rückbank war vollgestellt mit Kisten, Armeerucksäcken, einem Stapel Decken und einer ziemlich traurig aussehenden Pflanze. Hinter dem Rücksitz konnte ich den Hals eines Gitarrenkoffers entdecken. Plötzlich verspürte ich den unwiderstehlichen Drang, den Koffer über die Sitze hinweg in die Arme zu ziehen, als ob ich allein durch eine solche Umarmung meinen Weg finden könnte – oder zumindest Trost, wie schon so oft.
»Wohin bist du unterwegs?«, fragte ich.
»Westwärts.«
»Westwärts? Was ist das hier – ein John-Wayne-Film? Eine Menge Städte liegen westlich von Boston. Wie weit nach Westen fährst du denn?«, hakte ich nach.
»Vegas«, antwortete er.
»Aha.« Las Vegas. Eine lange Fahrt. Wie lange wohl? Ich hatte nicht den leisesten Schimmer. Man musste dafür das ganze Land durchqueren. Eine Riesenstrecke.
»Ich bin ebenfalls auf dem Weg dorthin«, log ich enthusiastisch.
Er sah zu mir herüber und seine Augenbrauen verschwanden fast ganz unter der dicken Mütze. »Du bist auf dem Weg nach Vegas?«
»Na ja, ganz so weit will ich eigentlich nicht. Äh, nur … nach Westen«, ruderte ich zurück. Er sollte nicht annehmen, dass ich die Absicht hatte, die ganze Strecke bis nach Las Vegas mit ihm zu fahren, obwohl das plötzlich gar keine so schlechte Idee zu sein schien. »Nimmst du mich ein Stück mit?«
»Schau mal, Kindchen …«
»Clyde?«, unterbrach ich ihn. »Ich bin kein Kind mehr. Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Ich bin nicht minderjährig und weder aus dem Gefängnis noch aus der Irrenanstalt ausgebrochen. Ich bin kein Ku-Klux-Klan-Mitglied und auch keine Bibelverkäuferin, obwohl ich an Gott glaube und mich nicht schäme, das zuzugeben. Ich werde meinen Glauben jedoch für mich behalten, falls dir das Probleme bereitet. Ich habe etwas Geld, kann mich also an den Benzin- und Lebensmittelkosten beteiligen oder was immer wir sonst so benötigen. Ich brauche nur eine Mitfahrgelegenheit nach … Westen.« Zum Glück hatte er das Ziel anfangs so vage definiert; das kam mir jetzt, wo ich eine Richtungsangabe brauchte, sehr gelegen.
Clyde lächelte. Nur ein kurzes Zucken seiner Mundwinkel, aber immerhin. Er schien mir nicht gerade der Smiley-Typ zu sein. »Du hast nichts bei dir außer dem, was du am Körper trägst, und einer kleinen Handtasche, und dein Name ist nicht Bonnie, also versteckst du dich ganz offensichtlich vor jemandem oder bist ausgerissen, und das heißt, dass du Ärger an der Backe hast«, sagte er. »Und ich kann ganz sicher keinen Ärger gebrauchen.«
»Ich habe Geld und kann mir unterwegs das Nötigste besorgen. Ich reise mit leichtem Gepäck.« Ich zuckte mit den Schultern. »Wer braucht im Himmel schon einen Koffer?!«
Clyde gab einen erstickten Laut von sich und sah mich fassungslos an. Ich konnte es ihm nicht verdenken. Ich hatte nur einen Witz machen wollen, aber ich hörte mich an wie eine Wahnsinnige. Ich fühlte mich auch ein wenig wahnsinnig. Schnell sprach ich weiter: »Und zu deiner Information, mein Name ist tatsächlich Bonnie. Aber du siehst nicht aus wie ein Clyde.«
»Clyde ist mein Nachname«, erklärte er nach kurzem Zögern. »Man nennt mich schon so lange so, dass ich den Namen mittlerweile automatisch verwende.«
»Deine Freunde nennen dich also Clyde?«
»Äh, ja. Meine Freunde.« Clydes Ton fiel etwas scharf aus, woraus ich schloss, dass ich einen wunden Punkt getroffen hatte, über den er nicht reden wollte.
»Tja, meine Freunde und Familie sagen Bonnie zu mir. Du darfst mich auch gern so nennen. Auch wenn es schon ein wenig komisch ist.«
»Bonnie und Clyde«, sagte er leise.
»Jap. Hoffen wir bloß, dass unser kleines Abenteuer ein besseres Ende nimmt als ihres.«
Clyde reagierte nicht darauf. Ich wusste nicht, ob er mich nun nach Las Vegas mitnehmen würde oder nicht, allerdings hatte er auch nicht ausdrücklich Nein gesagt. Die kleine Stimme in meinem Kopf, die der von Gran ziemlich ähnelte, teilte mir mit, dass ich ganz offiziell nicht mehr alle Latten am Zaun hätte. Wahrscheinlich war mein Verstand – im Gegensatz zu meinem Körper – auf der Brücke ins Wasser geplumpst und baden gegangen, was mich zum hirnlosen Zombie gemacht hatte. Also lehnte ich mich ans Fenster, schloss die Augen und stellte mich tot.