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Chefarzt Dr. Norden
– 1168 –

Tage der Angst

Doch uns bleibt die Hoffnung

Jenny Pergelt

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-679-9

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Dr. Christina Rohde zog ihren OP-Kittel aus und warf ihn in den Wäscheständer. Erschöpft ging sie zu den Waschbecken hinüber, die in einer langen Reihe an der gegenüberliegenden Wand angebracht waren. Sie hatte den ganzen Tag im Saal gestanden und operiert. Der Rücken tat ihr weh, und ihre Füße spürte sie kaum noch. Die Sehnsucht nach einer ausgiebigen Pause war in der letzten Stunde immer größer geworden.

»Bist du endlich fertig?« Sarah Buchner, die an der Behnisch-Klinik als Gynäkologin arbeitete, kam in den Waschraum.

»Ja, für heute reicht’s. Seit acht stand ich ununterbrochen am Tisch.«

»Hast du noch nicht mal zu Mittag gegessen?«

»Klar, wenn du mit Mittag meine trockne Stulle meinst, die ich mir zwischendurch gegönnt habe.«

»Du Ärmste. Da hatte ich es heute ausgesprochen gut. Eine Sectio vormittags und eine am Nachmittag.« Sarahs Augen leuchteten begeistert, und Christina konnte ihr das nicht verdenken. Eine Sectio, also ein Kaiserschnitt, war immer etwas Besonderes. Auch wenn der Anlass dafür mitunter sehr dramatisch war, gelang es niemanden, seine Rührung zu verbergen, wenn das Baby den schützenden Schoß verließ und mit seinem ersten Schrei die Welt begrüßte.

»Junge oder Mädchen?«, fragte Christina lächelnd und wünschte sich, sie wäre dabei gewesen.

»Beides. Erst ein strammer Achtpfünder und vorhin eine zierliche Kleine, die es gerade mal auf die Hälfte brachte.«

»Und du warst bei ihren allerersten Atemzügen dabei. Du bist wirklich zu beneiden, Sarah.«

»Ich weiß«, kam es mit einem strahlenden Lächeln zurück.

Christina trocknete sich die Hände ab und nahm die OP-Mütze runter. Sie verzog missbilligend den Mund, als sie sich im Spiegel betrachtete. Das schokoladenbraune Haar hatte das stundenlange Ausharren unter der eng sitzenden Mütze nicht gut vertragen. Von seinem seidigen Glanz war nichts mehr übrig, stattdessen wirkte es verschwitzt und strähnig. Unwillig löste Christina das Zopfgummi und fuhr mit den Fingern durch das Haar, um es ein wenig in Form zu bringen. Ihre Kollegin tat es ihr gleich, obwohl sie es nicht nötig hatte. Sarahs blonde Mähne floss in weichen, sanften Wellen über ihre Schultern.

»Wie machst du das nur?«, fragte Christina. »Deine Haare sehen immer so aus, als wärst du gerade vom Friseur gekommen. Ich dagegen …«

»Im Gegensatz zu dir habe ich meine Mütze keine Stunde getragen. Glaub mir, ich sehe nicht besser aus als du, wenn ich so einen OP-Marathon hinter mir habe.« Sarah trocknete sich die Hände ab. »Hast du Zeit für einen Kaffee? Dann könnte ich dir von den Babys berichten, oder wir machen einen kleinen Ausflug auf die Neugeborenenstation, um sie uns anzusehen.«

»Klingt äußerst verlockend, aber heute kann ich leider nicht. Ich ziehe mich nur um und gehe dann sofort zum Chef. In fünf Minuten habe ich einen Termin bei ihm.«

Sarah sah erstaunt auf. »Warum?«

»Keine Ahnung. Er hatte darum gebeten. Seitdem überlege ich, ob ich irgendetwas ausgefressen habe.«

Es klang nicht so, als würde sie sich deswegen ernsthaft Sorgen machen, und auch Sarah konnte über diese Vorstellung nur lachen. »Gerade du? Norden ist froh, dass er dich hat. Du schiebst hier die meisten Überstunden oder Extra-Dienste und gehörst zu den besten Chirurgen.«

Das sagte Sarah nicht, um Christina zu schmeicheln. Es war schlichtweg eine Tatsache, die jedem Mitarbeiter der Behnisch-Klinik bekannt war. Christina galt als einsatzbereit, pflichtbewusst und als begnadete Chirurgin.

Mit Anfang dreißig waren sie und Sarah Buchner im gleichen Alter. Sie liebten beide ihre Arbeit und gingen voll in ihr auf. Für einen Partner oder gar eine eigene Familie blieb da keine Zeit. Davon war Christina jedenfalls fest überzeugt, auch wenn es Kollegen gab, die beides – Beruf und Familie – auf die Reihe bekamen. Und manchmal überlegte sie, wie es wohl wäre, nach einem langen, harten Tag in der Klinik heimzukommen und von einem Menschen erwartet zu werden, dem sie wichtig war. Der sie fragte, wie ihr Tag war, der ihr geduldig zuhörte oder sie einfach mal in den Arm nahm.

Als Christina Rohde fünf Minuten später das Büro von Dr. Daniel Norden betrat, hätte sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht. Dr. Erik Berger, der griesgrämige und ungehobelte Leiter der Notfallambulanz, wartete dort bereits ungeduldig.

»Wird ja auch Zeit«, knurrte er, als Christina auf dem Stuhl neben ihm Platz nahm.

»Ja, ich freu mich ebenfalls, Sie zu sehen, Herr Kollege«, gab Christina zuckersüß zurück. »Wenn ich gewusst hätte, dass Sie auch hier sind, hätte ich mich natürlich noch mehr beeilt, aus dem OP zu kommen.«

Ein lautes Räuspern von Daniel Norden verhinderte Bergers nächsten Kommentar, der sicher nicht freundlich ausgefallen wäre. Das lag nicht nur daran, dass Dr. Berger an sich kein netter Mensch war. Nein, die Abneigung, die er gegenüber Christina Rohde ganz offen zur Schau trug, ging tiefer – und war eindeutig beidseitig. Sie mochte ihn nicht und verstand nicht, dass der Chef ihm sein schlechtes Benehmen immer wieder durchgehen ließ und ihm nicht häufiger die Leviten las. An Gründen dafür mangelte es ganz sicher nicht.

»Ich freue mich, dass Sie so kurzfristig die Zeit gefunden haben herzukommen«, begann Daniel Norden. »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, deshalb werde ich gleich zum Punkt kommen und mich kurzfassen.« Daniel sah in die erwartungsvollen Gesichter seiner Mitarbeiter. Noch war er sich nicht sicher, wie sie mit dem, was er ihnen zu sagen hatte, umgehen würden. »In allen Abteilungen ist genau festgelegt, wer den Bereichsleiter bei Ausfall zu vertreten hat – außer in der Notaufnahme. Als Sie, Herr Berger, vor einiger Zeit wegen Urlaub und Krankheit ausfielen, war ich sehr froh, dass Frau Rohde Ihre Aufgaben übernehmen konnte. Sie ist ja nicht nur Chirurgin, sondern besitzt auch eine Zusatzausbildung in Notfallmedizin. Deshalb ist es nur naheliegend, dass Frau Rohde ab sofort als Ihre ständige Vertretung eingesetzt wird.«

»Was soll das plötzlich?«, schnappte Berger. »Bisher ging es doch auch immer so!«

»Deswegen muss es ja nicht so bleiben«, erwiderte Daniel geduldig. Auf Bergers Widerspruch war er gefasst gewesen. Er kannte seinen genialen, aber bärbeißigen Notfallmediziner gut genug, um zu wissen, dass sich Berger nicht einfach widerspruchslos in alles fügte. Bisher war Erik Berger der alleinige Herr über sein kleines Reich gewesen – und nahezu unersetzbar. Sein krankheitsbedingter Ausfall vor einigen Monaten hätte für die Aufnahme große Schwierigkeiten bedeuten können, wäre Christina Rohde nicht für ihn eingesprungen. Dank ihr war der Betrieb ohne nennenswerte Probleme weitergelaufen.

»Sie werden mir sicher zustimmen, Herr Berger, dass es unvernünftig und unverantwortlich wäre, wenn wir uns nicht ausreichend auf mögliche Notsituationen vorbereiten würden. Wir müssen auch in Ihrer Abteilung verbindliche Regeln und Strukturen haben, die eine ordnungsgemäße Arbeit jederzeit gewährleisten. Dazu gehört auch, dass eine feste Vertretung für Sie bestimmt wird, die mit den Abläufen in der Aufnahme bestens vertraut ist. Ich denke, es gibt niemanden, der das besser leisten könnte als Frau Rohde. Sie muss jederzeit in der Lage sein, Sie zu ersetzen, falls …«

Berger hatte genug gehört. Wütend sprang er auf. »Jederzeit? Na gut! Warum fängt sie nicht gleich damit an? Sieht so aus, als wäre ich hier überflüssig!«

»Hören Sie auf, so einen Unsinn zu reden!« Daniel schüttelte verstimmt den Kopf. Warum benahm sich Berger bloß so kindisch? »Als Leiter einer Abteilung müssten Sie doch am besten wissen, wie wichtig es ist, auf den Notfall vorbereitet zu sein. Und um mehr geht es hier nicht! Niemand will Sie ausbooten oder loswerden. Ich schon gar nicht!« Daniel machte sich nicht die Mühe zu verbergen, wie verärgert er über Erik Bergers albernes Verhalten war. Am liebsten hätte er ihm hier und jetzt ordentlich die Meinung gesagt. Doch eine unfeine Auseinandersetzung, in der jeder seinen Emotionen freien Lauf ließ, würde diese angespannte Situation nur noch verschärfen.

Also nickte er nur schweigend, als Berger fragte: »War’s das jetzt? Kann ich wieder gehen?«

Erik Berger war schon zur Tür hinaus, als er stoppte und umkehrte. Tief gekränkt sagte er: »Sie irren sich, wenn Sie denken, dass ich einfach nur stur wäre oder nicht wüsste, dass eine feste Vertretung wichtig ist. Allerdings hätte ich erwartet, dass Sie zuerst mit mir darüber reden und mich nicht einfach vor vollendete Tatsachen stellen.« Er warf einen wütenden Blick auf Christina Rohde. »Oder dass ich ein Mitspracherecht bei der Auswahl hätte.«

»Heißt das, Sie sind mit mir nicht einverstanden?«, wollte Christina jetzt wissen.

»Als ob das eine Rolle spielen würde!«, schnauzte Berger und verschwand nun endgültig.

Kaum hatte sich die Tür hinter ihm geschlossen, wurde Daniel nachdenklich. Auch wenn er sich darüber ärgerte, dass Berger wieder einen Aufstand gemacht hatte, kam er nicht umhin, Verständnis für ihn zu haben. Vielleicht war er wirklich etwas vorschnell gewesen und dabei übers Ziel hinausgeschossen. Vielleicht hätte er vorher mit Erik Berger sprechen müssen. Oder mit Christina Rohde, die er mit seinem Vorhaben genauso überrascht hatte.

»Es tut mir leid, Frau Rohde. Das Ganze ist nicht so gelaufen, wie ich es mir gedacht habe. Doch im Moment kann ich nicht mehr machen, als Sie zu fragen, ob Sie den Posten überhaupt wollen. Sie würden natürlich jede Unterstützung von mir bekommen, die notwendig ist.«

»Unterstützung? In welcher Form?«

»Ich denke an Freistellungen von Ihrer jetzigen Tätigkeit, damit Sie sich gut auf Ihre neue Arbeit vorbereiten können. Sie wissen ja am besten, dass die Notfallmedizin ihre Besonderheiten hat. Die Akutsituationen, mit denen man dort konfrontiert wird, erfordern ein hohes Maß an Wissen, aber auch Routine, damit man dem hohen Stresslevel gewachsen ist. Es wäre deshalb gut, wenn Sie hin und wieder für eine Woche in der Notaufnahme arbeiten oder auf einem Rettungswagen mitfahren würden.«

»Rettungswagen klingt gut. Sehr gut sogar. Aber die Aufnahme?« Christina seufzte auf. »Sie haben Herrn Berger ja gerade erlebt …«

»Um Herrn Berger kümmere ich mich«, entgegnete Daniel. »Keine Sorge, Frau Rohde. Bis Sie in die Aufnahme müssen, hat Herr Berger sich wieder beruhigt. Vorerst hatte ich eh an die Rettungswache gedacht. Wenn Sie einverstanden sind, können Sie dort schon am nächsten Montag anfangen, um die nächsten beiden Wochen auf einem Rettungswagen zu verbringen.«

Christina konnte ihre Freude über dieses Angebot nicht verbergen. Strahlend erwiderte sie: »Natürlich bin ich einverstanden. Mit allem. Mit der Vertretungsstelle, der Rettungswache, sogar mit Dr. Berger. Obwohl …« Es kostete sie alle Anstrengung, um die Worte, die ihr schon auf der Zunge lagen, zurückzuhalten. Auch wenn Erik Berger ein zynischer Grobian war und sie sich über sein unmögliches Benehmen schrecklich ärgerte, hielt sie es für falsch, sich in Gegenwart des Chefs über ihn auszulassen. »Obwohl die Situation etwas schwierig ist«, sagte sie deshalb nur diplomatisch.

»Schwierig?« Daniel lächelte. »Schön, dass Sie es so nett ausdrücken, Frau Rohde.«

*