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Bärbel Schönhof, Bochum, Juristin, Dozentin und Referentin, langjährige Erfahrung als Rechtsanwältin. Schwerpunkt: Rechte von Menschen mit Demenz. Ehemals ehrenamtlich im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft tätig; ihre Mutter erkrankte sehr früh an einer Alzheimer-Demenz.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03064-4 (Print)

ISBN 978-3-497-61521-6 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61522-3 (EPUB)

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i. S. v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

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Satz: ew print & medien service gmbh, Würzburg

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Recht auf Diagnose und Behandlung

Gudrun findet nicht mehr nach Hause – Schock nach der Diagnose

Informationsteil: Patientenrechte

Informationsteil: Suche nach vermissten Personen durch die Polizei

Informationsteil: Die rechtliche Betreuung

Wilhelm will die Krankheit beim Namen nennen

Kapitel 2: Autofahren und Demenz

Heinz lässt das Autofahren nicht – Ein Unfall und viel Ärger

Ruth – Eine Feedbackfahrt sichert den Führerschein

Kapitel 3: Selbstbestimmung und Demenz

Siegfried – Gib acht, wem du dein Vermögen anvertraust

Informationsteil: Das Testament

Wem wird Norbert die Vorsorgevollmacht geben?

Das Gericht entscheidet über eine rechtliche Betreuung für Norbert

Karin wird mit der Vermögenssorge für ihren Mann betraut

Karin wird Notvertreterin ihres Mannes Harald

Wilhelm möchte mit einer Patientenverfügung sein Lebensende selbstbestimmt und würdevoll gestalten

Kapitel 4: Demenz und Strafbarkeit

Muss Opa ins Gefängnis, wenn er klaut?

Kapitel 5: Demenz und Gewalt in der Pflege

Carola – Wenn ich Mutter pflege, brennen mir die Sicherungen durch

Robert – Ich konnte einfach nicht mehr

Informationsteil: Gewalt in der Pflege

Kapitel 6: Demenz im Pflegeheim

Sie wollen doch Ihre Mutter nicht verhungern lassen?

Ihr Vater stört nachts den Schlaf der anderen Bewohner – mit Pillen ruhiggestellt

Vater wird schlecht gepflegt – wo kann sich Karsten beschweren?

Kapitel 7: Finanzierung der Pflege

Reinhard sorgt sich – was bleibt seiner Ehefrau zum Leben?

Müssen die Kinder für Wilhelms Pflege zahlen?

Kapitel 8: Entscheidungen am Lebensende

Gertrud – in unserem Haus wird nicht gestorben

Henriette kann in Würde sterben

Literatur

Sachregister

Vorwort

Die Entwicklung einer Demenz ist geprägt von Hilflosigkeit seitens aller Beteiligten, des Menschen selbst, der beginnt an sich dementielle Symptomen wahrzunehmen sowie seines Partners, seiner Familie und seines Umfeldes. Wie sollen wir damit umgehen, fragen sich die Kinder, die Freunde und Nachbarn. Es besteht in unserer Gesellschaft weiterhin ein großes Tabu bezüglich dieser von außen nicht sichtbaren Veränderungen. Psychische Erkrankungen wie Demenz machen Angst und vertragen sich nicht mit unserem kopfgesteuerten Gesellschaftsbild.

Gepaart mit dieser Hilflosigkeit bestehen große Hemmschwellen, sich Gewissheit zu verschaffen und sich Hilfe zu holen. Das gilt auch in Bezug auf die rechtlichen Belange, die mit dieser Erkrankung einhergehen.

In dem vorliegenden Buch wird in sehr praxisnahen Beispielen die Problematik geschildert, die sich daraus ergebenden rechtlichen Rahmenbedingungen werden dargestellt, es werden Vorgehensweisen und Lösungen aufgezeigt.

Die Beispiele wecken in mir Erinnerungen an Situationen, die ich als Begleiterin einer an Alzheimer erkrankten Mutter und einer Schwiegermutter, die auch ihre letzten Jahre mit Demenz kämpfte, durchlebt habe. Die Geschichten sind so empathisch geschrieben, dass man sich vorstellen kann, die Autorin hat Ähnliches erlebt.

Im allgemeinen werden viele rechtliche Begebenheiten vom sogenannten „gesunden Menschenverstand“ her gedacht, der sich aber nicht immer in unseren Gesetzen wiederfindet, z. B. das gegenseitige Vertretungsrecht unter Eheleuten, auch gegenüber dem Arzt oder im Krankenhaus. Verständlicherweise, denn das Gesetz muss natürlich alle möglichen Fälle abdecken; die Menschen verhalten sich nicht immer nur korrekt. Auch andere Beteiligte wie die Ärzte verhalten sich nicht immer gesetzeskonform, oft unbewusst und ganz menschlich denkend. Zum Beispiel fragt nicht jeder Arzt den Patienten, ob sein ihn begleitender Partner beim Diagnosegespräch dabei sein darf.

In der Begleitung und Betreuung von Demenzkranken stellt sich für die pflegenden Angehörigen täglich die Frage, was sie denn noch alles machen sollten. Sie sind heilfroh, wenn der Tag einigermaßen ruhig läuft und es nicht zu Eskalationen kommt. Rechtliche Probleme zusätzlich … wie sollen sie damit umgehen? Genau dafür kann dieses Buch hilfreich sein und ihnen Hilfestellung geben.

Nur wer sein Recht kennt, kann es auch für sich einfordern und sich erstreiten.

Ich wünsche dem Buch viele Leserinnen und Leser.

Heike von Lützau-Hohlbein, ehemalige langjährige Vorsitzende der Deutschen Alzheimer Gesellschaft e. V. Selbsthilfe Demenz und Präsidentin von Alzheimer Europe

Einleitung

Im Verlaufe einer Demenzerkrankung treten in der Regel eine Reihe rechtlicher Fragen auf. Oft kennen die Erkrankten und ihre Angehörigen ihre Rechte nicht, und nicht selten werden eben diese Rechte missachtet oder verletzt. Deshalb soll dieser Ratgeber rechtliches Wissen vermitteln und Mut machen, für die Rechte von Menschen mit Demenz einzutreten und zu kämpfen. Das Buch wendet sich insbesondere an die Betroffenen einer Demenzerkrankung, an deren Angehörige, ebenso an Menschen, die ehrenamtlich oder auf andere Weise mit der Versorgung von Menschen mit Demenz zu tun haben.

Der Gedanke, ein Buch zu schreiben, das sich deutlich von anderen Rechtsratgebern unterscheidet, war schon vor Jahren entstanden. In 20 Geschichten, die nicht nur die juristischen Probleme und möglichen Lösungen darstellen, sondern auch die damit verbundenen menschlichen, ethischen und innerfamiliären Probleme schildern, entsteht ein vielfältiges Bild entlang des Verlaufs der Erkrankung.

Als meine Mutter Ende der 1980er Jahre an einer präsenilen Demenz erkrankte, steckte nicht nur die Diagnostik von Demenzerkrankungen in den Kinderschuhen. Informationen über das Krankheitsbild, über Unterstützungsmöglichkeiten, über die Rechte der Menschen mit Demenz gab es nur vereinzelt. Die Recherche war mühselig, das Internet konnte noch nicht in dem Maße genutzt werden, wie es heute möglich ist. So war es wichtig, Ansprechpersonen zu finden, die Informationen übermitteln konnten, sich mit ebenfalls betroffenen Familien austauschen zu können und nicht zuletzt, die Rechte der Menschen mit Demenz zu kennen, sie durchzusetzen und weiterzuentwickeln.

All diese Erfahrungen setzten sich während meiner 20-jährigen anwaltlichen Tätigkeit und meiner langjährigen ehrenamtlichen Tätigkeit im Vorstand der Deutschen Alzheimer Gesellschaft fort. Hier erfuhr ich intensiv von der Not und der Scham der Betroffenen und der Angehörigen. Demenz ist bis zum heutigen Tage ein Stigma, dem es entgegenzutreten gilt. Dazu soll das Buch beitragen.

Erfahren Sie in den Geschichten, dass Menschen mit Demenz das Recht auf eine fundierte Diagnose und adäquate Behandlung haben, welche Möglichkeiten bestehen, juristische Vorsorge zu treffen, wie das Problem Autofahren angegangen werden kann. Lassen Sie sich auf die Schicksale der Protagonisten ein, wenn es um die Frage der künstlichen Ernährung, um Freiheitsentzug, mangelhafte Pflege, aber auch um Gewalt in Pflegebeziehungen geht. Haben Sie den Mut, die Rechte der Menschen mit Demenz zu wahren und durchzusetzen.

Die Geschichten sind allesamt fiktiv. Die dargestellten juristischen Probleme sind hingegen sehr real. Die Lösungen orientieren sich an der derzeitig gültigen Rechtslage. Etwaige Ähnlichkeiten mit existierenden, noch lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Mein ganz besonderer Dank gilt denen, die mich während der Entwicklung dieses Buches mit Rat und Tat, Kritik und Lob, Ideen und Anregungen begleitet haben. Ohne sie wäre das Buch in dieser Form nicht möglich gewesen.

Deshalb danke ich Herrn Hans-Jürgen Freter für sein unermüdliches, sachlich fundiertes Feedback, für seine Anregungen und Korrekturen und ganz besonders für seine Geduld. Ich danke Frau Ingrid Fuhrmann für die vielen Diskussionen über die Inhalte der Geschichten, die sie mit ihrer eigenen Erfahrung als Angehörige bereichern konnte. Frau Monika Stieber danke ich für ihren scharfen Blick, der Widersprüche in den Geschichten beseitigte und das Gesamtwerk harmonisierte. Dem Polizeibeamten Jörg Löring (verst.) danke ich für die Einblicke in die Arbeit der Polizei im Umgang mit Menschen mit Demenz. Dem Verlag, insbesondere meiner Lektorin, Frau Ulrike Landersdorfer, danke ich dafür, dass dieses Buch existieren kann. Auch danke ich Frau Heike von Lützau-Hohlbein, der ehemaligen langjährigen Vorsitzenden der Deutschen Alzheimer Gesellschaft und Alzheimer Europe für ihr Vorwort und den intensiven gedanklichen Austausch.

Aus Gründen der Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen und personenbezogenen Hauptwörtern wechselweise die männliche oder weibliche Form verwendet. Entsprechende Begriffe gelten im Sinne der Gleichbehandlung grundsätzlich für alle Geschlechter. Die verkürzte Sprachform hat ausschließlich redaktionelle Gründe und beinhaltet keine Wertung.

Das Buch ist meiner Mutter gewidmet.

Kapitel 1: Recht auf Diagnose und Behandlung

Gudrun findet nicht mehr nach Hause – Schock nach der Diagnose

Gudrun stand auf der Straße, sie hatte gerade die Arztpraxis verlassen und erinnerte sich nur verschwommen an das, was der Neurologe ihr gesagt hatte. Er hatte in dem Gespräch die Vermutung geäußert, dass sich bei ihr eine Alzheimerkrankheit entwickele.

§§

Das Patientenrechtegesetz regelt u. a. verschiedene Informationspflichten. So hat der Arzt der Patientin sämtliche wichtigen Aspekte zu erläutern, insbesondere eine gestellte Diagnose, die weitere Entwicklung der Erkrankung und ggf. vorhandene Behandlungsmöglichkeiten. Weitere Informationen über die Rechte als Patient finden Sie im Informationsteil Patientenrechte.

§§

Sie war schon seit längerem sehr vergesslich, manchmal verwirrt. Sie erinnerte sich allerdings, dass diese Vermutung schon einmal vor längerer Zeit eine andere Neurologin geäußert hatte. Gudrun hatte damals diese Vermutung mit einem Lachen quittiert und sie als völlig überzogen abgetan. Damals war sie 48 Jahre alt.

Sie dachte, Alzheimer bekämen doch nur alte Leute. Ihre Gedächtnisstörungen müssten doch andere Ursachen haben, Wechseljahre vielleicht, Schilddrüsenfehlfunktion vermutlich, aber doch nicht Alzheimer. Die Neurologin hatte ihr damals erklärt, dass zu einer konkreten Diagnose noch weitere Tests und Untersuchungen erforderlich seien, dazu wolle sie noch weitere Termine machen. Gudrun hatte die weitere Behandlung abgelehnt. Zu dem Unglauben gesellte sich Angst vor der für sie unheimlichen Erkrankung. Die Gedächtnisstörungen nahmen im Laufe der Zeit immer mehr zu, verschwanden nicht, wie von ihr erhofft, von selbst.

Innerhalb der Familie herrschte große Unsicherheit über die Ursache der Vergesslichkeit der mittlerweile 56-Jährigen. Es gab Tage, da saß sie lange am Fenster und vergaß, dass sie einkaufen gehen, das Mittagessen vorbereiten oder sich um andere Dinge kümmern wollte. Ihr Ehemann Hans wunderte sich abends, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, dass viele Dinge, die Gudrun sonst immer zuverlässig und gern erledigte, unerledigt blieben. Deshalb bat er sie, doch einmal einen Neurologen aufzusuchen, diese Veränderungen an ihr mussten doch eine Ursache haben. Hans machte sich Sorgen. Er war schon lange mit Gudrun verheiratet, sie waren immer ein eingespieltes Team, in dem jeder seine Aufgaben hatte und erledigte. Nun war alles anders. Gudrun hatte den Termin beim Neurologen nur widerwillig gemacht, was sollte der schon feststellen.

Aber auch der Neurologe stellte wieder die Diagnose Alzheimer in den Raum, was Gudrun erneut nicht glauben mochte. Sie blickte auf die Verordnung, die der Arzt ihr mit den Worten gab: „Nehmen Sie diese Tabletten, vielleicht helfen Sie Ihnen, und kommen Sie in drei Monaten wieder.“

Gudrun wollte nun rasch nach Hause, es war kurz vor Mittag, sie hatte Hunger und ihr war kalt. In der Nacht hatte es erneut geschneit. Sie würde noch eine Weile brauchen, um nach Hause zu kommen, schließlich waren es sieben Kilometer, die sie zu Fuß bewältigen musste. Also marschierte sie los. Wohin sie ging, wusste sie nicht. Warum fand sie sich nicht zurecht? Gudrun lief einfach in die ungefähre Richtung, stundenlang, bis sie vor einem Haus stehenblieb. Es dämmerte bereits. Sie steckte den Haustürschlüssel in das Schloss, die Tür ließ sich nicht öffnen. Das konnte doch nicht sein. Hans, ihr Mann, hielt doch immer alles in Ordnung, er ölte auch die Türschlösser regelmäßig. Gudrun dachte, dass ihr Mann in wenigen Minuten von der Arbeit kommen müsste, dann würde er das Schloss reparieren und sie wäre im Warmen. Sie wartete vergebens. Niemand kam. Es dämmerte und weiterer Schneefall setzte ein. Gudrun war kalt, sie hatte Hunger. Sie sah sich um nach einem Unterstand und ging zu einem anderen Hauseingang. Sie schlief die Nacht dort. Es schneite weiter.

Gudrun erwachte, als es hell wurde. Sie war völlig durchgefroren, hatte Hunger und Durst. Sie konnte sich nicht orientieren, trat auf die Straße. Ach ja, sie war zu Hause. Doch der Schlüssel passte immer noch nicht. Wo war Hans? Gudrun ging in die gegenüberliegende Bäckerei. Sie wollte jetzt erst einmal etwas essen und bestellte ein belegtes Brötchen. Als die Verkäuferin den Preis nannte, suchte Gudrun nach Geld. Sie hatte doch ihre Geldbörse eingesteckt, oder nicht? Sie fand sie nicht. Hatte sie ihre Geldbörse verloren?

Die Verkäuferin drängte sie zu bezahlen. Gudrun bemerkte mit Schrecken, dass sie kein Geld dabei hatte und plötzlich nicht mehr wusste, wo sie sich befand. Mehrere Personen sprachen auf sie ein. Sie fragten sie nach ihrem Namen und wo sie denn wohne. Doch Gudrun konnte keine Antwort geben. Wer bin ich? Wie heiße ich? Wo wohne ich? Und was wollen all diese Leute von mir? All das konnte Gudrun nicht beantworten. Sie fing an zu weinen. Die Mitarbeiter der Bäckerei verständigten die Polizei, denn ihnen war klar, dass Gudrun Hilfe benötigte .

Die zwischenzeitlich eingetroffenen Polizisten stellten ebenfalls wieder Fragen. Wie heißen Sie? Wo wohnen Sie? Haben Sie einen Ausweis dabei? Nein, Gudrun konnte diese Fragen nicht beantworten. Die Polizisten konnten per Funkabfrage herausfinden, dass eine Frau vermisst wurde, deren Beschreibung auf Gudruns Erscheinungsbild passte.

§§

Die Polizei ist für die Suche nach vermissten Personen zuständig. Weitere Informationen über die einzelnen Schritte bei der Suche nach vermissten Personen finden Sie im Informationsteil Suche nach vermissten Personen.

§§

Ihre Familie hatte die ganze Nacht nach ihr gesucht, Freunde und Verwandte nachts aus dem Bett geklingelt. Gudrun war verschwunden, nicht auffindbar. Am nächsten Morgen hatte die Polizei sogar berittene Polizisten an den nahegelegenen See geschickt, um Gudrun zu suchen. Dort gingen Hans und Gudrun gerne und oft spazieren. Die Vermisstenanzeige wurde durch den Sachbearbeiter der Polizei sehr ernst genommen. Die Familie hatte deutlich gemacht, dass Gudrun unter Gedächtnisstörungen litt und deshalb seit Monaten ärztlich behandelt wurde. Am Tag zuvor sei sie von einem Termin beim Neurologen nicht zurückgekehrt. Die Ärzte wüssten aber bislang nicht, was Gudrun fehlte. Die Polizei suchte den Neurologen auf, bei dem Gudrun am Tag zuvor den Termin hatte. Dieser erklärte den Polizisten, dass Gudrun sehr verwirrt gewesen sei, er ihr den Verdacht auf eine Alzheimer-erkrankung mitgeteilt habe und sie dann die Praxis verlassen habe. Die Polizisten fragten ihn, warum er sie denn nicht daran gehindert habe, allein die Praxis zu verlassen, ob er nicht dafür hätte sorgen können, dass Gudrun von jemandem abgeholt würde, wenn ihm schon aufgefallen sei, dass sie so verwirrt und hilfebedürftig gewesen sei. Der Arzt blieb eine Antwort schuldig.

§§

Befindet sich eine Person in einer Situation, in der sie der Hilfe bedarf, machen sich Dritte dann gem. § 323 c Strafgesetzbuch strafbar, wenn sie nicht Hilfe leisten, obwohl ihnen dies zumutbar und ohne Gefahr für die eigene Gesundheit oder die Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist. Die besondere ärztliche Sachkunde, z. B. eines Neurologen, lässt eine besondere Pflicht zur Hilfeleistung entstehen (OLG Hamm 2001).

§§

Gudrun wurde von den Polizisten mit auf die Wache genommen. Sie hatte Angst. Wo war Hans? Sie musste sich in einem Warteraum setzen, dort war es wenigstens warm. Man gab ihr einen heißen Tee und ein Brot, denn sie war immer noch hungrig. Endlich, endlich kam Hans. Er weinte.

„Warum weinst du? Ist etwas passiert? Ist etwas mit den Kindern? Können wir jetzt endlich nach Hause?“

Hans nahm sie in den Arm, sagte nichts. Er dankte den Polizisten und führte Gudrun zum Auto. Endlich nach Hause.

„Wo warst du die ganze Nacht?“ Hans war ganz krank vor Sorge.

Gudrun versuchte ihm zu erklären, dass sie doch vor ihrem Haus vergebens auf ihn gewartet habe. Hans wusste von der Polizei, dass Gudrun die Nacht wohl in einem Hauseingang verbracht hatte, das in der Nähe eines Hauses lag, in dem die Familie in den 1980er Jahren gewohnt hatte. Schon seit mehreren Jahrzehnten lebten sie am anderen Ende der Stadt. Gudrun hatte sich nicht mehr daran erinnert, dass sie mit dem Bus hätte nach Hause fahren können. Sie war stattdessen kilometerweit zu Fuß quer durch die Stadt in die falsche Richtung gelaufen, zu diesem Haus, in dem sie schon lange nicht mehr lebten. Weil der Schlüssel nicht mehr passte, hatte sie die Nacht bei Schnee in einer Toreinfahrt verbringen müssen.

Endlich zu Hause. Die Kinder waren da. Gudrun freute sich, aber sie wunderte sich auch, dass die Kinder da waren, denn diese wohnten schon lange nicht mehr zu Hause. Auch die Kinder weinten, sie wirkten besorgt. Gudrun verstand nicht, warum. Sie fühlte sich nur müde und ging zu Bett. Am nächsten Morgen wachte sie mit einem Schnupfen auf, aber sonst fühlte sie sich wohl. Hans war nicht zur Arbeit gegangen. Er sagte ihr, dass er heute nicht zur Arbeit gehen würde. Er hatte mit dem Hausarzt telefoniert, ihm die Geschehnisse geschildert. Der Arzt würde ihn aufgrund seiner eigenen seelischen Belastungen und Sorgen erst einmal für zwei Tage krank schreiben. Gleichzeitig riet er ihm, sich ab der kommenden Woche für 10 Tage von der Arbeit freistellen zu lassen.

§§

Nach dem Pflegezeitgesetz können Beschäftigte bis zu 10 Tage von der Arbeit fernbleiben, soweit dies erforderlich ist, um für eine akut aufgetretene Pflegesituation für einen pflegebedürftigen nahen Angehörigen eine bedarfsgerechte Pflege zu organisieren, § 2 PflegeZG. Der Arbeitgeber muss umgehend über das Fernbleiben informiert werden. Über die Pflegebedürftigkeit des Angehörigen muss eine ärztliche Bescheinigung vorgelegt werden, wenn der Arbeitgeber dies verlangt.

§§

Hans wollte seine Frau nicht mehr alleine lassen und würde in dieser Zeit die Pflege und Betreuung organisieren müssen. Doch was war mit Gudrun eigentlich los?

In der Zeit, in der Gudrun vermisst war, hatte Hans in Gudruns Adressbuch nach Hinweisen gesucht, wo sie sich eventuell aufhalten könnte. Er war alle eingetragenen Kontakte durchgegangen und so auf die Kontaktdaten einer Neurologin gestoßen. Er hatte diese Neurologin angerufen, ihr erklärt, dass Gudrun vermisst werde. Die Neurologin nahm sich Zeit für ein Gespräch. Gudrun war tatsächlich vor Jahren bei ihr in Behandlung gewesen. Die Ärztin erklärte, dass sie zu dieser Zeit den Verdacht einer Alzheimererkrankung hatte und ihr dies auch gesagt hatte. Warum sie der Familie nichts gesagt habe? Die Neurologin erklärte, dass sie an ihre ärztliche Schweigepflicht gebunden gewesen sei und sie sich strafbar gemacht hätte, wenn sie gegen den Willen der Patientin die Familie informiert hätte.

§§

Die ärztliche Schweigepflicht ergibt sich als Nebenpflicht aus dem Behandlungsvertrag zwischen Arzt und Patienten. Sie ist auch in den ärztlichen Berufsordnungen der Landesärztekammern geregelt. Danach haben Ärzte über alles, was ihnen als Ärzte anvertraut wurde, zu schweigen, auch über den Tod der Patienten hinaus. Verstoßen Ärzte gegen diese Pflicht, machen sie sich strafbar (§ 203 StGB). Entbinden die Patienten die Ärzte von der Schweigepflicht, dürfen diese Auskünfte erteilen.

§§

Gudrun hatte die Ärztin gebeten, niemandem über diese Verdachtsdiagnose zu berichten. Dies solle auch für die Familie gelten. Die Ärztin betonte, dass sie sich an diese Weisung hätte halten müssen. Nun würde sie nach einer Abwägung in der jetzigen möglicherweise lebensbedrohlichen Situation Auskunft geben können. Vielleicht könne diese Auskunft helfen, Gudrun zu finden oder Schaden von Gudrun fernzuhalten.

§§

Ärzte dürfen ihre Schweigepflicht dann brechen, wenn ein sogenannter „rechtfertigender Notstand“ vorliegt (§ 34 StGB). Hierbei muss das bedrohte Rechtsgut, z. B. Gesundheit oder Leben der Patienten höher wiegen als das Vertrauen der Patienten in die Verschwiegenheit des Arztes (OLG Karlsruhe 2006; BGH 1968).

§§

Hans ging mit Gudrun am nächsten Tag erneut zu dem jetzt behandelnden Neurologen, um ihn zu befragen, warum er denn niemanden von der Familie darüber informiert habe, dass sie so verwirrt war, nachdem er ihr seine Diagnose mitgeteilt habe. Der Arzt wand sich, erzählte Hans etwas vom Stress und vielen Patienten. Doch Hans ließ ihm dies nicht durchgehen. Da entschuldigte sich der Arzt und sagte ihm, er werde seine Praxisorganisation darauf überprüfen, wie man solche Situationen künftig vermeiden könne.

Hans und Gudrun nutzten die Zeit, die Hans durch die Inanspruchnahme seiner freien Tage nach dem Pflegezeitgesetz erhielt, um weitere Informationen über die Erkrankung einzuholen, sich darüber klar zu werden, was dies für die gesamte Familie bedeuten wird. Er konnte nun erst einmal die Betreuung seiner Frau organisieren und sich dann in Ruhe überlegen, wie es weitergehen könnte.

Hans vereinbarte mit der örtlichen Alzheimer Gesellschaft einen Termin, um Kontakt zu anderen betroffenen Familien und weitere Informationen zu bekommen. Auch stellte er einen Antrag auf Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung. Mit dem Pflegegeld sollte sichergestellt werden, dass Gudrun versorgt wird, wenn Hans nicht zu Hause war.

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Pflegebedürftige, die mindestens in Grad 2 eingestuft sind, können statt ambulanter Pflegehilfe sich das Pflegegeld auszahlen lassen, wenn sie die häusliche Pflege, Betreuung und häusliche Hilfen selbst sicherstellen (§ 37 Abs. 1 SGB XI).

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Hans und Gudrun hatten sich nie Gedanken darüber gemacht, wer für sie Entscheidungen treffen sollte, falls sie einmal selbst durch eine Krankheit oder einen Unfall Entscheidungen nicht mehr treffen könnten. Dies schien alles so weit weg, sie waren beide im besten Alter, sie hatten noch viele Pläne. Und nun ging alles ganz schnell. Gudruns Zustand war bereits so schlecht, dass sie Entscheidungen nicht mehr für sich selbst treffen und deshalb auch keine Vollmacht unterzeichnen konnte.

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Die Verwandteneigenschaft oder die Ehe allein berechtigt nicht dazu, Entscheidungen für den anderen wirksam treffen zu können. Hierzu muss eine rechtliche Legitimation vorliegen, z. B. eine Vollmacht oder eine rechtliche Betreuung (Ellerberger in Palandt, Einf. v. § 164, Rn. 5).

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Hans stellte einen Antrag beim Betreuungsgericht, damit er zum rechtlichen Betreuer seiner Ehefrau bestellt wurde.

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Eine rechtliche Betreuung wird durch das Gericht für jemanden eingerichtet, der krankheitsbedingt keine eigenen Entscheidungen mehr treffen kann und keine anderweitige Alternative zur rechtlichen Betreuung geschaffen hat. Weitere Informationen zum Betreuungsrecht finden Sie im Informationsteil Rechtliche Betreuung.

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