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Brigitta Busch forscht und lehrt am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. 2012 wurde ihr eine Berta-Karlik-Professur zur Förderung exzellenter Wissenschafterinnen verliehen. Seit 2019 hält sie eine Honorarprofessur an der Universität Stellenbosch (Südafrika). Langjährige Expertin des Europarats im Bereich ‚Minderheiten‘.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://d-nb.de abrufbar

3., vollständig aktualisierte und erweiterte Auflage 2021

© 2013 Facultas Verlags- und Buchhandels AG

facultas, Stolberggasse 26, 1050 Wien

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Verena Hauser, Wien

Einband: Atelier Reichert, Stuttgart

Gestaltung und Satz: Atelier Tiefenthaler, Wien (gesetzt in Foltyn von Johannes Lang, Premièra von Thomas Gabriel und Acorde von Stefan Willerstorfer)

Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg

Printed in Germany

utb-Nummer 3774

ISBN 978-3-8252-5652-4 (Print-Ausgabe)

ISBN 978-3-8385-5652-9 (Online-Leserecht)

ISBN 978-3-8463-5652-4 (E-PUB)

Online-Angebote oder elektronische Ausgabe sind erhältlich unter www.utb-shop.de. [4]

Vorwort

zur dritten Auflage

Als Frau Kruse vom Verlag facultas/utb gefragt hat, ob ich mir vorstellen könne, das Buch Mehrsprachigkeit im Hinblick auf eine dritte Auflage zu aktualisieren, habe ich einen Moment lang gezögert. Auf der einen Seite stand die Freude, dass das Buch auch nach acht Jahren im ganzen deutschen Sprachraum weiterhin nachgefragt und verwendet wird, auf der anderen der Zweifel, ob es von seiner Grundstruktur und Orientierung her den Erwartungen, die heute an ein wissenschaftliches Fachbuch zu Mehrsprachigkeit gestellt werden, noch gerecht zu werden vermag. Ich glaube, es kann. Der seinerzeit gewählte multiperspektivische Zugang zum Thema erlaubt es nicht nur, dieses von verschiedenen Seiten her zu beleuchten – mit Fokus einmal auf handelnde und erlebende Subjekte, dann auf verfestigte Diskurse und Sprachideologien und schließlich auf räumlich und zeitlich situierte Praktiken –, sondern ermöglicht es auch, das Blickfeld in verschiedene Richtungen auszuweiten. Letzteres war aus mehreren Gründen notwendig. Die Mehrsprachigkeitsforschung ist in diesen Jahren nicht stehen geblieben, Teilgebiete wie Familiensprachpolitik, Raciolinguistics, visuelle Methoden oder Forschung zu International Sign sind vermehrt ins Blickfeld gerückt und haben sich als eigenständige Forschungszweige etabliert. Eine junge Generation von Wissenschafter*innen ist auf die Bühne getreten, die neue Sichtweisen einbringt und andere Schwerpunkte setzt, etwa zur Rolle von Sprache in Prozessen wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Umformungen, die mit Begriffen wie Neoliberalismus oder Spätkapitalismus nur unzulänglich erfasst [5] werden können. Und schließlich hat mich meine eigene Arbeit auf Basis dessen, was bereits in der ersten Auflage dieses Buches angelegt war, zu neuen Fragestellungen herangeführt, so zum Beispiel zur Frage nach sprachlichen und nichtsprachlichen Formen der Darstellung traumatischer Erfahrungen.

Um diesen Umständen Rechnung zu tragen, habe ich nach einer kritischen Relektüre des Buches eine Reihe von Aktualisierungen in Bezug auf neuere Entwicklungen und Literaturhinweise vorgenommen. Darüber hinaus lassen sich einige neue Passagen zu Themen finden, die in den bisherigen Auflagen nicht oder aus heutiger Sicht unzulänglich behandelt wurden. Dies betrifft unter anderem Abschnitte zur Positionierungstheorie, zu Gebärdensprachen, zu migrations- und sprachenpolitischen Neuausrichtungen unter dem Vorzeichen sogenannter Sicherheitspolitiken, zu Alltagspraktiken der Mediennutzung, zu Sprachregimen in urbanen Räumen und in der Arbeitswelt sowie zum Themenkomplex ‚sprachliche Diversität und Bildung‘.

Danken möchte ich an dieser Stelle allen Kolleg*innen, die mir durch ihr Feedback auf das Buch geholfen haben, Stellen zu identifizieren, die einer Vertiefung bedurften, sowie dem Verlag facultas/utb, namentlich Frau Kruse, für die Betreuung des Projekts und Frau Hauser für das engagierte und sorgfältige Lektorat.

Ich hoffe, dass dieses Buch ein brauchbares Werkzeug bleibt, nicht nur im Hinblick auf das Studium von Phänomenen sprachlicher Vielfalt, sondern auch im Hinblick auf die notwendige Auseinandersetzung mit Politiken, die darauf abzielen, gesellschaftliche Ungleichheiten und Ausschlüsse mit ‚Sprache‘ zu begründen und über Sprache auszutragen.

Wien, im April 2021

Brigitta Busch [6]

Inhalt

Einleitung

1Das Sprachrepertoire – eine Subjektperspektive

1.1Biografische Zugänge zur Mehrsprachigkeit

1.2Das sprachliche Repertoire

1.3Zur Methode biografischer Forschung

1.4Lebensweltliche Mehrsprachigkeit

1.4.1„Ein Fuß ist deutsch und ein Fuß slowenisch“

1.4.2Multilingual aufwachsen

1.4.3Repertoire und Lebensphasen

1.5Translokale Biografien

1.5.1„Wenn man keine Sprache hat…“ – Sprachwechsel und Sprachverlust

1.5.2„Wenn ich in einer Sprache bin, habe ich immer die andere auch im Blick“ – Subjektpositionen und Sprachideologien

2Sprachideologien – eine Diskursperspektive

2.1Zum Konzept ‚Sprachideologien‘

2.2Ein Exkurs zu Ideologie, Hegemonie und Diskurs [7]

2.3Sprachenpolitik: Sprachideologien in Aktion

2.3.1Kategorisierungen von Sprachen und Sprecher*innen

2.3.2Nationalsprachen – Das Making-of

2.3.3Sprachhierarchien – (Post-)Kolonialismus

2.3.4Der Integration-durch-Sprache-Diskurs

2.3.5Minderheitensprachen und Sprachenrechte

3Sprachregime – eine Raumperspektive

3.1Globalisierung und Sprache

3.2Sprachliche Praktiken und räumliche Anordnungen

3.2.1Das Konzept ‚Sprachregime‘

3.2.2Regionale Mehrsprachigkeit

3.3Exploration kleinräumiger Sprachregime und Kommunikationspraktiken

3.3.1Theoretische und methodische Zugänge

3.3.2Exploration kleinräumiger Sprachregime

3.4Multilinguale Sprecher*innen in monolingualen Institutionen und Organisationen

3.4.1Sprachmittlung in institutionellen Zusammenhängen

3.4.2Administration und Rechtswesen

3.4.3Gesundheitswesen

3.5Für eine Schule der Mehrsprachigkeit

3.5.1Schulsprachprofile

3.5.2Unterrichtsmodelle im Umgang mit Mehrsprachigkeit

3.5.3Eine Pädagogik der Heteroglossie

Anhang

Literaturverzeichnis

Index [8]

Einleitung

Mehrsprachigkeit ist von einem Randthema zu einem zentralen Thema geworden, sowohl gesellschaftlich-politisch als auch wissenschaftlich betrachtet. Lange Zeit wurde Einsprachigkeit als Normalfall angesehen, Zweioder Mehrsprachigkeit – ob es um einzelne Sprecher*innen, Regionen oder Länder ging – als Sonderfall. Angesichts weltweiter wirtschaftlicher Verflechtungen und politisch-räumlicher Neukonfigurationen, angesichts weitverbreiteter Mobilität, Migration und Teilnahme an transnationalen Kommunikationsnetzwerken, also angesichts von Phänomenen, die unter dem Stichwort ‚Globalisierung‘ zusammengefasst werden, wird Mehrsprachigkeit immer mehr als Teil der Alltagsrealität wahrgenommen.

Der Titel dieses Buchs – Mehrsprachigkeit – beschreibt also ein Alltagsphänomen. Er klingt einfach und zugleich etwas vermessen, denn die Mehrsprachigkeitsforschung hat sich im letzten Jahrzehnt international gesehen zu einem bedeutenden und ständig wachsenden Feld wissenschaftlicher Tätigkeit entwickelt. Das Buch erhebt nicht den Anspruch, einen ausgewogenen Überblick über dieses verästelte und nahezu unüberschaubar gewordene Feld zu geben, in dem sich nicht nur Soziolinguistik, Sprachlehr- und -lernforschung, Psycholinguistik, Neurolinguistik und andere Zweige der Sprachwissenschaft bewegen, sondern darüber hinaus auch andere Disziplinen wie Literaturwissenschaft, Soziologie, Kultur- und Sozialanthropologie oder Politikwissenschaft. Wohl aber sollen in diesem Buch aktuelle Themen, Entwicklungen und Tendenzen in der Mehrsprachigkeitsforschung zur Sprache kommen. [9]

Behandelt werden Konzepte wie Sprachrepertoire, Sprachideologien oder lokale Sprachregime, die vor allem für sprachwissenschaftlich geschulte oder interessierte Leser*innen von Interesse sein werden. Die Kapitel zu Methoden greifen vor allem neuere Zugänge auf. Dazu zählen die biografisch orientierte Forschung oder visuelle Methoden wie Linguistic Landscape oder kreative wie das Zeichnen von Sprachenporträts. Diese Kapitel richten sich über den Kreis von Studierenden der Sprachwissenschaft hinaus auch an solche benachbarter Studienrichtungen wie Philologien, Bildungswissenschaft oder Sozialwissenschaften. Die Darstellung der Themen erfolgt anhand konkreter Beispiele, die sowohl auf meine eigene Forschungspraxis in Österreich, Südosteuropa und Südafrika als auch auf internationale Literatur zurückgreifen. Damit soll das Buch über weite Strecken auch für Leser*innen zugänglich sein, die an Fragen der Mehrsprachigkeit interessiert sind, aber nicht unbedingt über spezifisches Fachwissen verfügen.

Das Buch führt die Lesenden an verschiedene Orte, zum Beispiel in Volksschulen in einem Wiener Gemeindebezirk und einem Arbeiterviertel von Kapstadt, in den Schalterraum der Einwanderungsbehörde in Barcelona oder in eine zweisprachige Gemeinde in Südkärnten. Es lädt dazu ein, sich an diesen verschiedenen Orten mit den Wirkungsmechanismen von Sprachideologien zu beschäftigen: So wird anhand des Asylverfahrens danach gefragt, was geschieht, wenn Sprecher*innen mit einem multilingualen Repertoire auf Institutionen mit einer monolingualen Routine treffen, und es wird gezeigt, wie Sprachtests in den Dienst von Abschottungspolitiken gestellt werden. Am Beispiel von Südosteuropa wird offengelegt, wie aus einer Sprache drei, dann vier wurden, und am Beispiel der österreichischen Statistik, wie aus mehrsprachigen Sprecher*innen einsprachige werden. Und das Buch macht mit Menschen bekannt: Sie erzählen davon, wie sie Ausschluss aufgrund von Sprache erfahren haben, weil sie vom Dorf in die Stadt umgezogen sind; oder davon, wie sie unter Sprachverlust und Sprachwechsel gelitten haben, nachdem sie aus ihrem Land vertrieben wurden; auch davon, wie sie damit umgehen, mit einem Bein in Frankreich und einem in Deutschland zu stehen; oder davon, wie sie ihre sprachlichen Ressourcen spielerisch und kreativ einsetzen.

Essenzialisierende Konzepte von Sprache und Mehrsprachigkeit werden dabei stets einer kritischen Prüfung unterzogen. Demgegenüber stellt das Buch den sprechenden Menschen bzw. das multilinguale Subjekt in den Mittelpunkt, arbeitet die soziale und diskursive Konstruiertheit sprachlicher Kategorien heraus und betrachtet sprachliche Praktiken [10] in unterschiedlichen sozialen Kontexten. Diesen Schwerpunktsetzungen folgend gliedert sich das Buch in drei Teile, welche Mehrsprachigkeit aus der Subjekt-, der Diskurs- und der Raumperspektive in den Blick nehmen.

Zweisprachigkeit, Mehrsprachigkeit, Diversität, Heteroglossie

Mehrsprachigkeit – der Begriff ist nicht ganz unproblematisch und wird innerhalb der angewandten Sprachwissenschaft zunehmend kritisch hinterfragt. Lange Zeit wurde die Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit vor allem ausgehend vom englischen Sprachraum unter dem Begriff ‚Bilingualismus-Forschung‘ zusammengefasst, womit die Zweisprachigkeit als Sonderfall von der als Normalfall betrachteten Einsprachigkeit abgegrenzt wurde. Manche benützten in der Folge auch den Begriff ‚Trilingualismus‘, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass oft mehr als zwei Sprachen im Spiel sind. Um die Reihenfolge des Spracherwerbs oder Hierarchisierungen im individuellen sprachlichen Repertoire zu bezeichnen, hat man Begriffe und Abkürzungen wie Erstsprache, Zweitsprache, L1, L2, L3, Ln eingeführt. Das impliziert die Annahme, dass Sprachen klar voneinander abgrenzbar und somit zählbar seien.

Seit einigen Jahren wird in der angewandten Sprachwissenschaft darüber diskutiert, wie aus der Perspektive des Fachs Sprache gefasst und verstanden werden kann. Hinterfragt wird dabei vor allem die Vorstellung von Sprachen als voneinander klar abgegrenzte Entitäten, also die Annahme, dass Sprachen wie etwa Deutsch, Englisch, Russisch im Gebrauch trennscharf unterschieden werden können, was letztlich Auswirkungen auf damit verbundene soziale Zuschreibungen und Abgrenzungen hat (Makoni und Pennycook 2007). Geht man von konkreten sprachlichen Praktiken aus und nimmt eine Sprecher*innenperspektive ein, so kann Sprache nicht als etwas Objekthaftes verstanden werden. Im englischsprachigen Raum wird daher von einigen Autor*innen der Begriff languaging dem Wort language vorgezogen, um das Dynamische und Prozesshafte sprachlicher Hervorbringungen zu unterstreichen (z. B. García 2009).

„Es ist unmöglich, die Sprachen abzuzählen“, gibt Jacques Derrida (1997: 25) zu bedenken. Und er führt weiter aus: „Es gibt keine Abzählbarkeit [comptabilité] der Sprachen, weil die Einheit der Sprache, die sich aller arithmetischen Abzählbarkeit entzieht, niemals bestimmt ist.“ Tatsächlich kommt man, wenn man sich mit konkreten sprachlichen Praktiken, mit Sprache in der Interaktion auseinandersetzt, nicht umhin, sprachliche [11] Differenz und Differenzierung als Ausgangspunkt anzunehmen. Diese sprachliche Vielfalt umfasst eine ganze Bandbreite sprachlicher und kommunikativer Ressourcen – verschiedene Varietäten, Register, Jargons, Genres, Akzente, Stile, mündlich wie schriftlich –, die sich teilweise einem Sprachsystem, teilweise einem anderen zuordnen ließen, teilweise auch mehreren oder keinem. Sprecher*innen bewegen sich in ihrem Alltag gewöhnlich sicher, und ohne sich dessen bewusst zu werden, in dieser komplexen Vielfalt: Sie greifen auf unterschiedliche sprachliche Ressourcen zurück, die beispielsweise für ein kurzes Gespräch auf der Straße auf eine regional gefärbte Umgangssprache verweisen, auf Lingua-franca-Englisch, wenn sie einem Touristen den Weg erklären, auf ein fachsprachliches Register, um über ein Problem am Arbeitsplatz zu sprechen, auf eine literarisch ausgeprägte Standardsprache, wenn sie einen Roman lesen. Jede dieser Arten des Sprachgebrauchs nimmt Bezug auf unterschiedliche sozialideologisch geprägte Diskurse, sie greift auf unterschiedliche individuelle Stimmen zurück und bedient sich sprachlicher Mittel, die auf unterschiedliche geografische, soziale und historische Kontexte verweisen (siehe Kapitel 1.2). Mit der Orientierung auf Redevielfalt stützt sich das Buch auf grundlegende Arbeiten des russischen Literatur- und Sprachwissenschafters Michail Bachtin aus den 1930er Jahren, der mit seinem Konzept der Heteroglossie die Vorstellung in Frage stellt, Sprachen als in sich geschlossene, einheitliche Systeme zu betrachten. Die einheitliche Sprache ist nicht etwas Gegebenes [dan], sagt Bachtin (1979: 164), sondern etwas, das vorgegeben oder vorgeschrieben wird [zadan], und sie steht immer im Gegensatz zur Realität der Heteroglossie, zur „tatsächlichen Redevielfalt“.

Der Begriff ‚Heteroglossie‘ bezeichnet die vielschichtige und facettenreiche Differenzierung, die lebendiger Sprache innewohnt. Bachtin folgend (Todorov 1984: 56) ist es sinnvoll, in der Beschäftigung mit sprachlichen Praktiken in multilingualen Kontexten den Begriff in drei Richtungen zu differenzieren: Multidiskursivität [raznorečie] meint, dass in jedem Sprechen Verweise auf verschiedene Räume und Zeiten enthalten sind, die auf unterschiedliche Weise sozialideologisch konstituiert sind. Jede dieser Zeiten – bestimmte Epochen, Perioden oder Tage – und jeder dieser Räume – Staaten, Altersgruppen, Familien oder Szenen – ist verbunden mit spezifischen Weltsichten und Diskursen. Vielstimmigkeit [raznogolosie] meint, dass wir uns im Sprechen gegenüber diesen Welten, Weltsichten und Diskursen positionieren und dass wir uns dafür die Stimmen anderer sozusagen ,ausborgen‘ und als Stile zu eigen machen. Sprachenvielfalt [raznojazyčie] meint, dass sich Spuren soziokultureller Differenzierung in [12] der Sprache auffinden lassen. Durch unterschiedliche Positionierungen bilden sich unterschiedliche Arten des Sprechens heraus. Man hat es nicht mit einer Sprache, sondern mit Sprachenvielfalt zu tun, mit einem „Dialog von Sprachen“ (Bachtin 1979: 186), egal ob sich dieser Dialog innerhalb dessen abspielt, was man als eine Sprache bezeichnet, oder zwischen solchen, die „zueinander Kontakt aufgenommen und einander erkannt haben“ (ebd.). Wenn in diesem Buch also von Mehrsprachigkeit die Rede ist, so ist damit nicht eine Vielzahl von Einzelsprachen gemeint, sondern ein Konglomerat, das in Bachtins Sinn heteroglossisch ist.

Zum Aufbau dieses Buches: drei Perspektiven auf Mehrsprachigkeit

Häufig wird in der Mehrsprachigkeitsforschung zwischen individueller und gesellschaftlicher Mehrsprachigkeit unterschieden, wobei die eine eher von der Psycholinguistik, die andere eher im Rahmen der Soziolinguistik behandelt wird. In diesem Buch wähle ich einen Zugang, der nicht auf einer Gegenüberstellung Individuum – Gesellschaft basiert, sondern der es ermöglicht, an den Gegenstand etwas anders heranzugehen. Praktiken der Mehrsprachigkeit bzw. des Umgangs mit gesellschaftlicher Heteroglossie werden von drei Seiten her beleuchtet: (1) von der des erlebenden, sprechenden und agierenden Subjekts, das mit anderen interagiert; (2) aus der Perspektive von Diskursen, durch die das Subjekt als erlebendes, sprechendes, agierendes positioniert wird und denen gegenüber es sich positioniert; und (3) aus der von Räumen, eigentlich Raum-Zeiten, in denen sich kommunikative Praktiken etablieren und situierte Interaktionen stattfinden.

Im ersten Teil werden Konzepte von Spracherleben und Sprachrepertoire diskutiert, wobei nicht nur die historisch-politische Dimension des Repertoires, sondern auch die leiblich-emotionalen Dimensionen von Spracherleben, die bisher weniger Beachtung gefunden haben, hervorgehoben werden. Theoretisch bezieht sich das Kapitel auf Judith Butlers Konzept von Performativität und auf Maurice Merleau-Pontys phänomenologische Annäherung an Leib, Emotion und Sprache. Besonderes Augenmerk liegt in diesem Teil auf sprachbiografischen Zugängen, die in den letzten Jahren zunehmend Verbreitung finden. Für dieses relativ neue Gebiet werden methodologische Erwägungen angestellt und es werden praktische Anregungen zum sprachbiografischen Arbeiten gegeben. Zwei Kapitel werden dem Aufwachsen mit und dem Leben in mehreren Sprachen gewidmet; besprochen werden dabei unter anderem Themen wie [13] Gebärdensprachen oder Mehrsprachigkeit im Alter. Der erste Teil schließt mit der Besprechung sprachbiografischer Darstellungen, einem autobiografischen literarischen Text sowie einem Sprachenporträt, die zeigen, wie sich Spracherleben und Sprachideologien im sprachlichen Repertoire niederschlagen.

Am Anfang des zweiten Teils stehen Zugänge zu Sprachideologien, wie sie zuerst in der linguistischen Anthropologie entwickelt wurden. Ergänzt werden diese eher theoretischen Überlegungen durch einen Exkurs zum Verhältnis Ideologie–Diskurs, in dem philosophische bzw. sprachphilosophische Positionen von Valentin Vološinov, Antonio Gramsci, Louis Althusser und Michel Foucault angerissen werden. Die Wirkungsmacht von Sprachideologien bzw. Diskursen über Sprache und Sprachlichkeit wird dabei anhand der folgenden Fallbeispiele veranschaulicht: Zensuserhebung und Statistik, Schaffung und Implementierung von Nationalsprachen, (post-)koloniale Sprachenpolitiken, Integration-durch-Sprache-Diskurse sowie Minderheitensprachen und Sprachenrechte.

Der dritte Teil beginnt mit Überlegungen zur Rekonfiguration sprachlicher Räume im Zusammenhang mit Prozessen der Globalisierung. Entwickelt wird ein Konzept räumlicher Sprachregime, das sich an die Raumtheorie von Henri Lefebvre anlehnt und am Beispiel der Polarität Deutsch–Slowenisch in Kärnten erläutert wird. Es folgt ein kurzes methodisches Kapitel zur Exploration von Sprache im Raum. Die Frage, wie Organisationen mit Mehrsprachigkeit umgehen, wird in Kontexten wie Administration, Rechts- und Gesundheitswesen besprochen, wobei dem Community-Dolmetschen spezielle Aufmerksamkeit zukommt. Den Abschluss bildet ein Kapitel zu Mehrsprachigkeit und Schule aus einer räumlichen Perspektive. Im Einzelnen geht es um das Erheben von Schulsprachprofilen, um verschiedene Modelle bilingualen Unterrichts und schließlich um Heteroglossie als pädagogisches Prinzip. [14]

1Das Sprachrepertoire — eine Subjektperspektive

Kapitel 1 nähert sich Fragen der Mehrsprachigkeit aus der Perspektive des sprechenden und erlebenden Subjekts, eines Subjekts, das nicht allein dasteht, sondern durch sprachliche und andere soziale Interaktion a priori in intersubjektive, dialogische Beziehungen mit anderen eingebunden ist. Zunächst wird in Kapitel 1.1 ein Blick auf die sich rasch entwickelnde Sprachbiografieforschung geworfen, die darauf zielt, subjektive Sichtweisen von Sprecher*innen in die Mehrsprachigkeitsforschung einzubeziehen. In Kapitel 1.2 wird das Konzept des sprachlichen bzw. semiotischen Repertoires, mit dem in der Soziolinguistik die Gesamtheit der kommunikativen Mittel bezeichnet wird, die einem Sprecher oder einer Sprecherin in einer bestimmten Situation zu Verfügung stehen, einer kritischen Diskussion und Neubewertung unterzogen. Ergänzt werden diese theorieorientierten Ausführungen in Kapitel 1.3 mit methodologischen Überlegungen und praktischen methodischen Anregungen zum biografischen Arbeiten. Unter dem Stichwort ‚lebensweltliche Mehrsprachigkeit‘ gibt Kapitel 1.4 Einblick in unterschiedliche Forschungsansätze, die sich damit beschäftigen, wie Mehrsprachigkeit in verschiedenen Lebensphasen, vom frühkindlichen Spracherwerb bis ins hohe Alter, ,gelebt‘ wird. Kapitel 1.5 schließlich befasst sich mit translokalen Sprachbiografien und Sprachrepertoires, wie sie in Zeiten von displacement und Globalisierung typisch sind: Ein Schwerpunkt liegt auf Sprachwechsel und Sprachverlust, ein anderer auf Sprachen und Identitätsdiskursen. [15]

1.1Biografische Zugänge zur Mehrsprachigkeit

In der Mehrsprachigkeitsforschung spielten Zugänge, die man im weitesten Sinn als biografisch bezeichnen kann, schon früh eine Rolle, ein verstärktes Interesse an sprachbiografisch orientierter Forschung ist aber vor allem seit den 1990er Jahren zu erkennen. Dieses Interesse kann im Zusammenhang mit einem narrative turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften gesehen werden, einer Verschiebung des Fokus von übergreifenden Systemen, Strukturen und Funktionen zu gelebter und erzählter Alltagswirklichkeit, wie das zum Beispiel in der Oral History der Fall ist.

Erste systematische Aufzeichnungen von Linguisten über das Aufwachsen ihrer Kinder in zwei Sprachen stammen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Jules Ronjat (1913) publizierte Tagebuchaufzeichnungen über die sprachliche Entwicklung seines Sohnes Louis, der nach der von den Eltern bewusst eingehaltenen Maxime ,eine Person, eine Sprache‘ mit Deutsch und Französisch aufwuchs. Ronjat kommt zum damals Aufsehen erregenden Schluss, dass die Zweisprachigkeit die Sprachentwicklung des Kindes keineswegs verzögert oder beeinträchtigt hat. Bereits mit drei Jahren wusste Louis bewusst damit umzugehen und formulierte Kommentare wie: „un singe, das heißt ein Äffchen“ (Ronjat 1913: 69ff.). Einen Meilenstein in der Psycholinguistik und Mehrsprachigkeitsforschung stellten die in den Jahren 1939 bis 1949 in vier Bänden publizierten Tagebuchaufzeichnungen des Sprachwissenschafters Werner Leopold dar. Er dokumentiert darin das bilinguale Aufwachsen seiner Tochter Hildegard, mit der er deutsch, die Mutter englisch spricht. Leopold widmet sich in der Analyse des Tagebuchs nicht nur der Frage, wie sich Wortschatz, Phonetik und Grammatik seiner Tochter entwickeln, sondern auch Fragen der Pragmatik und der metasprachlichen Bewusstheit. So stellt er fest, dass Hildegard in ihren frühen Jahren aus allen ihr zur Verfügung stehenden Ressourcen schöpft und in ihren Äußerungen Wörter aus beiden Sprachen kombiniert, wenn sie es für sinnvoll erachtet (Leopold 1949: 186). Er berichtet von Phasen, in denen die eine Sprache weiter entwickelt ist als die andere, davon, dass Hildegard sich manchmal weigert, eine Sprache zu sprechen, und eher in der anderen antwortet, und von seinen eigenen emotionalen Reaktionen darauf. Solche Tagebuchaufzeichnungen von Linguist*innen über das Aufwachsen eigener Kinder stellen nach wie vor eine wichtige Quelle in der Mehrsprachigkeitsforschung dar (Schneider 2003), wobei [16] zunehmend auch das Aufwachsen mit mehr als zwei Sprachen thematisiert wird (Maneva 2004).

Lerntagebücher, in denen erwachsene oder heranwachsende Sprachlerner*innen ihre eigenen Spracherfahrungen dokumentieren, sind ein weiterer biografisch orientierter Zugang. Bonny Norton (2013) stellt ihre poststrukturalistisch orientierte Arbeit mit Migrantinnen in Kanada in den Zusammenhang der feministischen diary studies, einer kollektiven Interpretation persönlicher Erfahrungen, die darauf zielt, dass Teilnehmer*innen ihre eigenen unterdrückten Potenziale entdecken. Claire Kramsch verwendet seit vielen Jahren autobiografische Aufzeichnungen von Lerner*innen, um einer Sicht entgegenzuwirken, die Sprache lediglich als ein neutrales, transparentes Werkzeug für die Formulierung von Gedanken und für die Kommunikation betrachtet. Demgegenüber betont sie, dass das Lernen von Sprachen nicht von den affektiven Resonanzen getrennt werden kann, die bei Sprecher*innen und Hörer*innen ausgelöst werden (Kramsch 2009: 2). Einen ähnlichen Zugang wählte Suresh Canagarajah (2020), der in Lehrveranstaltungen mit literacy autobiographies gearbeitet hat und über seine Erfahrungen damit sowie über seine eigene Sprachbiografie reffiektiert. Mit Sprachbiografien von Lehrenden im multilingualen universitären Umfeld, darunter mit ihren eigenen, befassen sich Kramsch und Zhang (2018). Das Führen von Sprachlern-Tagebüchern und das Verfassen von Lernbiografien haben mittlerweile über die linguistische Forschung hinaus in vielen Berei-

chen des Zweitsprachen- und Fremdsprachenunterrichts Eingang gefunden und sind auch Bestandteil des europäischen Sprachenportfolios.1

Auch autobiografisch geprägte literarische Texte werden in der Forschung häufig herangezogen, da solche nachträglichen Rekonstruktionen dazu beitragen können, besser zu verstehen, wie Mehrsprachigkeit erlebt und gelebt wird (Kramsch 2009; Pavlenko 2007; Hein-Khatib 2007; BürgerKoftis, Schweiger und Vlasta 2010). Oft zitierte Texte sind zum Beispiel Elias Canettis „Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend“ (1979) und Eva Hoffmans „Lost in Translation: A Life in a New Language“ (1989). Autobiografische literarische Texte, die Spracherfahrungen wie das Eintauchen in eine neue Sprachwelt, Sprachwechsel oder Sprachverlust thematisieren, stellen eine wichtige Quelle dar, um Rückschlüsse auf emotionales Spracherleben in bestimmten politisch-historischen Zusammenhängen zu ziehen.2 [17]

Forschungsfeld Sprachbiografie

Seit den 1990er Jahren entwickelt sich die Sprachbiografieforschung zu einem eigenen theoretisch und methodologisch begründeten Bereich innerhalb der Mehrsprachigkeitsforschung (Busch 2017a). Sie schließt an die im deutschen Sprachraum besonders ausgeprägte sozialwissenschaftliche Biografieforschung an, wie sie unter anderem von Fritz Schütze (1983), Gabriele Rosenthal (1995) und, speziell für den Bildungsbereich, von Bettina Dausien (2017) entwickelt wurde. Biografien haben sich, so eine der zentralen Annahmen der sozialwissenschaftlichen Biografieforschung, in modernen Gesellschaften zu einem Gebilde eigener Prägung entwickelt. Je weniger Sinnsysteme wie Religion, Familie, Klasse usw. bereitstehen, um Erfahrungen über Kontinuitätsbrüche hinweg zu integrieren, umso mehr bilden Biografien eine Möglichkeit der Erfahrungsorganisation und Handlungsorientierung (Breckner 2005: 122).

Als erstes größeres Forschungsprojekt mit sprachbiografischem Ansatz ist das Basel-Prag-Projekt (Franceschini und Miecznikowski 2004) zu nennen, in dem es um das migrations- und mobilitätsbedingte Leben in mehreren Sprachen geht. Ungefähr zur gleichen Zeit beschäftigte sich eine Forschungsgruppe in Leipzig mit sprachbiografischen Erfahrungen rund um den Mauerfall und die Wende (Fix und Barth 2000). Anne Betten (2010) erhob zwischen 1990 und 2007 ein großes Korpus sprachbiografischer Interviews mit deutschsprachigen Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen in Israel. Eva-Maria Thüne (2019) führte Gespräche mit Personen, die mit den ‚Kindertransporten‘ zwischen 1938 und 1940 nach Großbritannien gebracht wurden, wobei sie sich insbesondere für ihre Einstellungen zur ‚alten‘ und zur ‚neuen‘ Sprache interessierte. In den letzten Jahren ist, auch außerhalb des deutschsprachigen Raums, ein steigendes Interesse an sprachbiografisch orientierter Forschung, teilweise in Verbindung mit anderen, vor allem ethnografischen Ansätzen, festzustellen, wobei manche Forschende den innovativen Schritt setzen, ihre eignen Erfahrungen als Ausgangsgrundlage zu nehmen. Als kritische Autoethnografie bezeichnet Julie Choi (2017) die multimodale Darstellung ihrer Sprachbiografie, in der sie ihren Weg zu einem vielstimmigen Selbst (multivocal self) beschreibt, wobei sie Themen wie Authentizität, Legitimität, Vulnerabilität und Macht im Zusammenhang mit ihrem Spracherleben diskutiert. Annette Boudreau (2016) analysiert anhand ihrer eigenen Erfahrungen als Sprecherin einer regionalen kanadischen Varietät des Französischen, die [18] aus Sicht der Metropole als peripher stigmatisiert wird, Phänomene von Sprachunsicherheit und die Wirkungsmacht von Sprachideologien.

Besonders in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen erweisen sich kreative Zeichnungen als Schlüssel, um sprachbiografische Erfahrungen in der Forschung berücksichtigen zu können (für einen Überblick siehe Kalaja und Melo-Pfeifer 2019). Die methodologische Weiterentwicklung eines multimodalen sprachbiografischen Ansatzes, des sogenannten Sprachenporträts, zu einem Forschungsinstrument ist ein Anliegen des Forschungsnetzwerks heteroglossia.net (siehe Kapitel 1.3).

Biografische Forschung in der Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit, vor allem im Zusammenhang mit Migration und Mobilität, mit Sprachenlernen in heteroglossischen Lebenswelten und mit der politischen Rekonfiguration von Räumen, stellt ein wachsendes Feld dar. Der biografische Blick auf sprachliche Repertoires ist nicht nur dazu geeignet, eine Sprecher*innen-orientierte Perspektive einzunehmen, sondern rückt auch bisher weniger beachtete Aspekte in den Vordergrund wie beispielsweise den Einffiuss von Sprachideologien darauf, wie Sprecher*innen sich und andere diskursiv positionieren, oder die Rolle von Emotionen, Imaginationen und Begehren in Bezug auf das sprachliche Repertoire. Der sprachbiografische Zugang kann nicht allein als Methode der Datensammlung gesehen werden, sondern hat theoretische und methodologische Implikationen, die in den zwei folgenden Kapiteln reffiektiert werden.

1.2Das sprachliche Repertoire

Eine Intention sprachbiografischer Forschung ist, sich sprachlichen Phänomenen aus der Perspektive der Sprecher*innen anzunähern, um auch solche Elemente in die wissenschaftliche Betrachtung einzubeziehen, die aus einer externen Beobachterposition kaum zugänglich sind, wie subjektives Erleben, emotionales Empfinden und sprachideologische Wertungen, aber auch Wünsche oder Imaginationen, die mit Sprache verbunden sein können.

Dies soll am Beispiel der Reflexion einer Studentin über die eigene Sprachbiografie erläutert werden, die im Rahmen einer Lehrveranstaltung [19] entstanden ist.3 Ich habe dieses Beispiel aus einigen hundert im Lauf der letzten Jahre gesammelten sprachbiografischen Aufzeichnungen ausgewählt, gerade weil es so wenig ,außergewöhnlich‘ ist, dass die Studentin ihre Sprachbiografie zunächst als langweilig apostrophiert. Den Moment des Schulwechsels vom Dorf in das in der Landeshauptstadt gelegene Gymnasium, um den es im Folgenden gehen wird, schildert sie so:

Es war eine sehr hierarchisch strukturierte Klasse, die meisten Schülerinnen kamen aus eher ,höheren Schichten‘ und gegenüber manchem ,landeshauptstädtischen Hochdeutsch‘ kam ich mir mit meiner ländlichen Umgangssprache sehr unsicher und ein wenig defizitär vor.

Schon aus einem kurzen Auszug wie diesem wird klar, dass zur Analyse sprachlicher Praktiken eine Reihe verschiedener Faktoren in Betracht zu ziehen ist: Zum einen geht es darum, dass Sprecher*innen zu unterschiedlichen Zeiten oder auch gleichzeitig an unterschiedlichen sozialen Räumen teilhaben – im Beispiel der Schülerin das Dorf, die Stadt, die Familie, die Schule. In jedem dieser Räume gelten andere Regeln des Sprachgebrauchs, andere Gewohnheiten, sie werden durch unterschiedliche Sprachregime konstituiert (siehe Teil 3 in diesem Buch). Zum anderen geht es um Sprachideologien, um Diskurse über Sprache und ,richtigen‘ Sprachgebrauch (siehe Teil 2 in diesem Buch), die Hierarchisierungen zum Ausdruck bringen und festschreiben – in unserem Beispiel das Machtgefälle zwischen der landeshauptstädtischen „Hochsprache“ und der dörflichen „Umgangssprache“. Und zum Dritten geht es darum, welches sprachliche Repertoire Sprecher*innen in einen spezifischen Interaktionskontext mitbringen. Vor allem dieser letzte Punkt ist das Thema dieses Kapitels (für eine ausführlichere Darstellung des Themas siehe Busch 2012, 2017c).

Spracherleben

Dass sie so etwas wie ein sprachliches Repertoire haben, wird Sprecher*innen meist erst ex negativo bewusst, nämlich dann, wenn sie, wie im Beispiel der Schülerin, das Gefühl haben, dass sie von ihrer Umgebung als [20] ‚anderssprachig‘ wahrgenommen werden. Schon ein Schuleintritt oder, wie in unserem Beispiel, ein Schulwechsel kann als überraschende, irritierende, manchmal erschütternde Wahrnehmung erlebt werden, dass das mitgebrachte eigene Sprachrepertoire nicht oder nicht ganz passt. Es geht dabei um Spracherleben, also darum, wie sich Menschen selbst und durch die Augen anderer als sprachlich Interagierende wahrnehmen.

Spracherleben ist nicht neutral, es ist mit emotionalen Erfahrungen verbunden, damit, ob man sich in einer Sprache bzw. im Sprechen wohlfühlt oder nicht. Das emotional besetzte Spracherleben ist ein Aspekt, dem in der Beschäftigung mit Mehrsprachigkeit lange Zeit wenig Beachtung geschenkt wurde, weil der Fokus zu exklusiv auf Sprachkompetenzen und messbare Leistungen gelegt wurde.

Jede Darstellung von Spracherleben ist singulär und entsteht situativ. Dennoch lassen sich einige grundlegende Achsen identifizieren, die in vielen Erzählungen vorkommen und auch im Beispiel vom Schulwechsel in die Landeshauptstadt zur Sprache gebracht werden: Zunächst geht es um das Verhältnis von Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung. Die Studentin berichtet darüber, wie sie sich als Schülerin bemühte, den Erwartungen der neuen Umgebung nachzukommen und „Hochdeutsch“ zu sprechen. „Ich erinnere mich noch heute“, schreibt sie, „wie ich mir quasi selbst von außen beim Reden zuhörte und mich wie eine Schauspielerin fühlte, so unecht kam ich mir beim Reden vor.“ Die sprachliche Anpassungsleistung, die die Schülerin in der Hoffnung erbringt, in den Augen der anderen nicht mehr als ‚anders‘ wahrgenommen zu werden, hat zur Folge, dass sie sich nun selbst als eine Andere, als Fremde wahrnimmt.

Zum Zweiten geht es um die Frage nach Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit. Das kann sowohl den Wunsch beinhalten, sich mittels Sprache mit einer Gruppe zu identifizieren, als auch die Erfahrung, von anderen aufgrund von Sprache ungefragt mit einer bestimmten Gruppe identifiziert zu werden. In unserem Beispiel kommt beides zum Tragen: die durch die Mitschüler*innen vorgenommene Identifikation der Erzählerin als „eine vom Land“

und gleichzeitig der Wunsch der Schülerin, der Klassengemeinschaft anzugehören, nicht ausgeschlossen zu werden.

Und schließlich geht es um das Erleben sprachlicher Macht oder Ohnmacht. In unserem Beispiel ist es ein Machtgefälle und eine sprachliche Hierarchisierung, die dazu führen, dass die Schülerin sich „sehr unsicher und ein wenig defizitär“ vorkommt und es vorzieht, in manchen Situationen gar nicht mehr zu reden, um sich nicht bloßzustellen. Umgekehrt [21] vermögen jene gut situierten Schüler*innen, die den Ton in der Klasse angeben, nicht nur, andere aufgrund ihres Sprechens abzuwerten, sondern auch ihre eigene privilegierte Position durch sprachliche Distinktion zu reproduzieren und zu festigen. Das Verstummen, von dem die Studentin berichtet, ist eine Reaktion, die in vielen Sprachbiografien zur Sprache gebracht wird – nicht immer übrigens oder nicht nur als ein Zum-Schweigen-gebracht-Werden, sondern manchmal auch als Versuch, trotzendes Schweigen als Gegenmacht zu etablieren.

Die Studentin, von der die Rede ist, hat sich im Lauf ihres Lebens in verschiedenen Zusammenhängen weitere Sprachen angeeignet, die Teil ihres Repertoires sind. Die Grunderfahrung der Mehrsprachigkeit hat sie aber innerhalb dessen gemacht, was üblicherweise als eine Sprache bezeichnet wird, ein Sachverhalt, den Mario Wandruszka (1979) mit dem Begriff „innere Mehrsprachigkeit“ umschreibt. Dass Sprecher*innen es immer mit einer Vielzahl von Sprachen zu tun haben, erläutert Michail Bachtin, indem er einen des Lesens unkundigen russischen Bauern fernab von jedem städtischen Zentrum heraufbeschwört. Sein sprachliches Repertoire, wie wir heute sagen würden, ist laut Bachtin durch Redevielfalt geprägt, da es auf unterschiedliche Welten verweist, von denen jede auf ihre Weise sprachlich und ideologisch verfasst ist: die vertraute der Familie, die altkirchenslavische der Orthodoxie, die papiersprachene der Bürokratie oder die städtische des Arbeiters, der das Dorf seiner Herkunft besucht. Über diesen imaginären Bauern sagt Bachtin Folgendes:

Im Grunde genommen ist es ja so, daß ein solcher Mensch es nicht mit einer Sprache, sondern mit Sprachen zu tun hat, doch ist der Platz jeder dieser Sprachen festgelegt und unstrittig, das Übergehen von der einen in die andere ist vorherbestimmt und geschieht unbewußt, wie der Gang von einem Zimmer ins andere. Diese Sprachen treffen in seinem Bewußtsein nicht aufeinander; er versucht nicht, sie aufeinander zu beziehen, versucht nicht, eine seiner Sprachen mit den Augen einer anderen zu betrachten. (Bachtin 1979: 187)

Sich des eigenen Sprechens, der eigenen Sprachen bewusst zu werden heißt, eine Sprache oder Sprechweise mit den Augen einer anderen zu betrachten, sie aufeinander zu beziehen, also Sprachbewusstheit zu entwickeln (siehe Kapitel 1.4).

Das Konzept des sprachlichen Repertoires in der Soziolinguistik

Das Konzept des sprachlichen Repertoires geht auf den Anthropologen [22] und interaktionalistisch orientierten Linguisten John Gumperz zurück. Gumperz (1964) entwickelte den Begriff des sprachlichen Repertoires auf der Grundlage seiner Forschung in den 1950er/60er Jahren in zwei ländlichen Gemeinden mittlerer Größe, beide in einer Öffnungssituation hin zu urbanen Räumen: die eine, Khalapur, achtzig Meilen nördlich von Delhi, die andere, Hemnes, im norwegischen Rana-Fjord. Als Rahmen für seine Analyse nahm Gumperz die Sprechgemeinschaft, die er nicht essenzialistisch definierte, sondern als eine, die sich durch regelmäßige Interaktion über einen längeren Zeitraum konstituiert. Das sprachliche Repertoire, sagt Gumperz, „contains all the accepted ways of formulating messages. It provides the weapons of everyday communication. Speakers choose among this arsenal in accordance with the meanings they wish to convey.“ (Gumperz 1964: 138)

Das Repertoire wird als ein Ganzes begriffen, das jene Sprachen, Dialekte, Stile, Register, Codes und Routinen einschließt, die die Interaktion im Alltag charakterisieren. Es umfasst also die Gesamtheit der sprachlichen Mittel, die Sprecher*innen einer Sprechgemeinschaft zur Verfügung stehen, um (soziale) Bedeutungen zu vermitteln. Gumperz zufolge obliegt es zwar den einzelnen Sprecher*innen, eine Entscheidung in Bezug auf den Einsatz sprachlicher Mittel zu treffen, aber diese Wahlfreiheit ist sowohl grammatikalischen als auch sozialen Zwängen unterworfen. Sie ist begrenzt durch allgemein anerkannte Konventionen, die dazu dienen, Arten des Sichausdrückens als informell, technisch, literarisch, humorvoll usw. zu klassifizieren. „The social etiquette of language choice is learned along with grammatical rules and once internalized it becomes a part of our linguistic equipment.“ (Ebd.)

Gumperz ging in seiner Konzeption des Sprachrepertoires von relativ stabilen Sprechgemeinschaften aus. Dass dies nicht immer der Fall ist, wusste er, der 1939 vor dem Nationalsozialismus in die USA geflohen war und damit in eine neue sprachliche Umgebung versetzt wurde, aus eigener Erfahrung. Einen Hinweis darauf gibt er mit der Bemerkung: „[S]tylistic choice becomes a problem when we are away from our accustomed social surroundings.“ (Ebd.)

Im Gegensatz zu traditionelleren soziolinguistischen Vorstellungen, wonach bestimmte Sprechweisen auf die Zugehörigkeit zu bestimmten regionalen oder sozialen Gruppen verweisen wie ein Signifikant auf ein Signifikat, bricht Gumperz’ Konzept mit solchen Gleichsetzungen. Obwohl internalisiert und keineswegs beliebig, wird das sprachliche Repertoire als prinzipiell offen verstanden, als eine Positionierung, die Sprecher*innen [23] in situierten Interaktionen vornehmen. Dass das Repertoire als ein Ganzes gesehen wird, das alle zur Verfügung stehenden kommunikativen Mittel umfasst, ermöglicht es zudem, Sprachen nicht mehr als in sich geschlossene, voneinander klar abgegrenzte Einheiten zu sehen. Daher wird heute wieder vermehrt das Repertoirekonzept aufgegriffen, besonders wenn es um die Analyse sprachlicher Praktiken wie language crossing oder translanguaging (siehe Kapitel 1.4.3) geht, in denen Sprecher*innen als Mittel der Stilisierung auf heteroglossische Ressourcen zurückgreifen.

Aktuelle Zugänge zum Repertoire verabschieden sich von der ursprünglichen Vorstellung relativ stabiler Sprechgemeinschaften, indem sie entweder eine biografische Perspektive einnehmen, die das Repertoire im Zusammenhang mit individuellen Lebensgeschichten betrachtet, oder eine Raumperspektive, die Interaktionen in spezifischen, sprachlich heterogenen Räumen in den Blick nimmt. Die Richtung, die das Repertoire mit individuellen Lebensgeschichten verknüpft, ist prominent vertreten durch Jan Blommaert (2008a) sowie Blommaert und Backus (2013). In seinem früheren Artikel führt Blommaert (2008a) am Beispiel eines aus Ruanda Geflüchteten aus, dass das Repertoire primär nicht auf den Geburtsort einer Person verweist, sondern deren Lebensweg abbildet. Auch in dieser Konzeption spielt der Raumbegriff eine Rolle, allerdings nicht bezogen auf vermeintlich stabile geografische Räume, sondern auf soziopolitische Veränderungen und Zäsuren, welche den Raum neu konfigurieren und auf das Repertoire Einfluss nehmen: „The fact is, however, that someone’s linguistic repertoire reflects a life, and not just birth, and it is a life that is lived in a real sociocultural, historical and political space.“ (Blommaert 2008a: 17) Alastair Pennycook und Emi Otsuji (2014) nehmen spezifische Orte – Restaurantküchen in Sydney und Tokyo –, in denen extrem unterschiedliche sprachliche Ressourcen und Alltagspraktiken zusammentreffen, als Ausgangspunkt, um dem nachzugehen, was sie metrolingual multitasking nennen. Sie entwickeln das Konzept des räumlichen Repertoires, welches lebensgeschichtlich geformte, individuelle Repertoires mit sprachlichen Ressourcen verknüpft, die an bestimmten Orten zur Verfügung stehen. Aus der Perspektive des Sprachenlernens und -lehrens plädiert Betsy Rymes (2014) für ein Repertoirekonzept, das über Sprache hinaus die multimodale Dimension von Kommunikation einbezieht. Sie hebt hervor, dass Sprecher*innen ihr kommunikatives Repertoire ständig erweitern und umformen müssen, um eine gemeinsame Ebene mit anderen zu finden. In eine ähnliche Richtung argumentieren Kusters, Spotti, Swanwick und Tapio (2017), indem sie den Begriff „semiotisches Repertoire“ vorschlagen. [24]

Gumperz (1964) stützte seine bis heute maßgebliche Konzeption des sprachlichen Repertoires auf die Beobachtung von sprachlichen Interaktionen. Aus der Außenperspektive des Forschers steht das beobachtbare sprachliche Verhalten im Vordergrund, der Fokus liegt auf Regeln und Konventionen kommunikativer Interaktion, die erlernt, befolgt und gelegentlich durchbrochen werden. Um Dimensionen in den Blick zu nehmen, die sich aus einer Außenperspektive nicht ausreichend fassen lassen, muss – wie am obigen Beispiel der Studentin entwickelt – in den Repertoire-Begriff die Ebene des Spracherlebens einbezogen werden. Zugespitzt formuliert geht es darum, das sprechende und erlebende Subjekt in die Sprachwissenschaft zurückzuholen. Im Folgenden soll solchen Dimensionen des Sprachrepertoires nachgegangen werden, die über das verinnerlichte Wissen um grammatikalische und pragmatische Regeln und über die Instrumentalität von Sprache hinausweisen und die der lebensgeschichtlichen, dynamischen Entwicklung des Repertoires Rechnung tragen: die leibliche Dimension, die emotionale Dimension und die historisch-politische Dimension.

Die leibliche Dimension

Erleben setzt ein wahrnehmendes, erlebendes Subjekt voraus. Das bedeutet, dass das Erleben nur in den Blick genommen werden kann, wenn ein Perspektivenwechsel vollzogen wird: von der beobachtenden Außenperspektive zur Subjektperspektive – gewissermaßen also von der dritten Person zur ersten Person. Dieser Blickwechsel liegt der von Edmund Husserl begründeten Phänomenologie zugrunde, auf die auch der französische Philosoph Maurice Merleau-Ponty aufbaut. Merleau-Ponty (2009 [1945]) sieht die Grundlegung des Subjekts im leiblichen Sein. Unser Leib, sagt er (ebd.: 120), ist immer mit uns da. Er situiert und verortet das Subjekt in der Welt. Merleau-Ponty unterscheidet dabei begrifflich zwischen dem Körper [corps physique] als einem Objekt, das beobachtbar und messbar ist, und dem Leib [corps vivant] als Subjekt des Fühlens, Erlebens, Agierens und Interagierens. Die Ambiguität des Leib-Körpers als ein zugleich Beobachtender und Beobachteter, als ein Berührender und Berührter veranschaulicht er am Beispiel der linken Subjekt-Hand, die die rechte Objekt-Hand ertastet.

Die Bewegung des Leibes ist Merleau-Ponty zufolge die Basis des Vermögens, sich in Bezug zur Welt zu setzen, sich auf sie einzulassen. Die [25] Hand, die nach einem Gegenstand greift, ,weiß‘, wonach und wohin sie greift, auch ohne dass das Bewusstsein die Punkte, die die Hand durchläuft, in einem Raum-Zeit-Diagramm berechnen müsste. Eine Bewegung wird erlernt, indem der Leib sie „kapiert“, indem er sie sich einverleibt. Nicht das „ich denke“ [je pense] steht Merleau-Ponty zufolge am Anfang unseres Zur-Welt-Seins, sondern ein „ich vermag“ [je peux] (Merleau-Ponty 2009 [1945]: 171).