Cover: Julias erster Wanderritt by Christiane Gohl

Christiane Gohl

Julias erster Wanderritt

 

Saga

Ein Angebot aus heiterem Himmel

»Steh still, Danny! Und du auch, Violetta!« Julia brachte die Pferde neben dem Weidezaun zum Stehen. Sie setzte einen Fuß auf die mittlere Zaunlatte und kam mit dieser Aufstiegshilfe leicht und sicher auf Dannys ungesattelten Rücken. Natürlich hätte sie auch einfach aufspringen können. Aber dann wäre der kleine braune Wallach womöglich zu schnell angetreten, und Julia hätte Violettas Führstrick verloren. So aber konnte sie ihr Handpferdegespann ohne Ziehen und Zerren in Gang setzen.

Die Pferde machten einen müden Eindruck nach diesem ersten Tag auf der Weide. Es war Anfang April, im Grunde noch viel zu früh für den Weidebeginn, das Gras trieb gerade mal grüne Spitzen. Aber heute war ein so schöner Tag – frühlingswarm und sonnig. Da konnte man die Pferde nicht im schattigen Auslauf stehen lassen! Stephanie und Kathi hatten sie mittags herausgebracht, und Julia holte die Ponys nun zurück. Um Kathis Pferd brauchte sie sich dabei nicht zu kümmern. Ihre Freundin nahm am Unterricht im Reitstall teil und hatte ihre Stute schon vor einer Stunde abgeholt.

»Schlaf nicht ein!« Julia trieb Danny ein wenig an. Von der Weide in der Ringstraße bis zu Stephanies Haus hatte sie etwa fünfzehn Minuten zu reiten, aber wenn der Wallach seinen schleppenden Schritt beibehielt, ließ sich das leicht auf eine halbe Stunde ausdehnen. Auch Violetta hatte es nicht eilig. Die graue Connemara-Stute war sonst das temperamentvollere Pony, aber jetzt stand sie sechs Wochen vor dem Abfohlen, und ihr dicker Bauch machte sie etwas träge. Immerhin folgte sie artig, als Danny endlich schneller wurde. Der Stall und das Abendfutter lockten.

Außerdem tat sich da etwas in der Einfahrt zu Stephanies Haus. Mit gellendem Wiehern begrüßte Danny einen großen Pferdeanhänger. Der Transporter faßte wohl drei Kleinpferde und hing an einem schweren Geländewagen.

Julia spähte nach eventuellen vierbeinigen Passagieren aus, konnte aber noch nichts erkennen. Nur Dannys Benehmen sprach gegen einen leeren Hänger. Das sonst so ruhige Pony tänzelte aufgeregt. Fremde Pferde in seinem Stall! Das versprach spannend zu werden!

Tatsächlich. Als Julia sich dem Hänger näherte, erkannte sie zwei runde Ponyhinterteile unter der hochgerollten Plane. Eines gehörte zu einem Grauschimmel, das andere war fuchsfarben mit hellem Schweif. Das fuchsfarbene Pferd wandte sich jetzt um und antwortete auf Dannys Ruf. Es hatte eine lange, dicke Mähne und einen ausgeprägten Ponykopf.

»Du bist ja ein Isländer!« sprach Julia es an. Und nun entdeckte sie auch verschiedene Sticker am Hänger und am Auto, die für Islandpferde warben. Die Pferde auf den Aufklebern gingen durchweg die Spezialgangart Tölt. Sie warfen feurig die Köpfe in die Luft und ließen Mähnen und Schweife fliegen. Julia dachte an das einzige Mal, da sie selbst einen Tölter geritten hatte. Es war ein sonderbares Gefühl gewesen. Man saß sehr ruhig im Sattel und um einen herum rotierten die Pferdebeine. »Tölten macht Spaß!« versprach einer der Aufkleber. Doch, das fand Julia auch. Aber Stephanie hatte bisher nie besonderes Interesse für Islandpferde bekundet. Unwahrscheinlich, daß sie sich jetzt aus heiterem Himmel einen oder gar zwei zulegte! Seitlich des Hängers prangte ein besonders großer Aufkleber: »Gut Mahltrup – Erfolg mit Islandpferden«. Ob das Anhängergespann von diesem Hof kam?

Das graue Pferd im Hänger hatte inzwischen begonnen, mit den Hufen zu scharren, ein Zeichen für Nervosität und Ungeduld. Julia beschloß, ihre Pferde in den Stall zu bringen. Wenn sie außer Sicht wären, würde der Graue sich beruhigen.

Auto und Hänger blockierten die Einfahrt, und Julia mußte ihren Danny vorsichtig um das Gespann herumlenken, damit er nicht auf den Rasen trat. Der Garten und das Vorderhaus gehörten Stephanies Tante, und der gepflegte Vorgarten war ihr ganzer Stolz. Stephanie selbst wohnte in einem kleineren Gartenhaus – gerade richtig für eine Person und durch einen Plattenweg mit der Stallanlage verbunden. Auf Rasenpflege legte die junge Frau nicht viel Wert. Wenn das Gras rund um ihr Häuschen zu hoch wurde, dürften die Ponys es abfressen. Bisher wuchs hier noch nicht mehr als auf der Weide, aber Stephanie hatte den sommerlichen Klön- und Sonnenplatz bereits eröffnet. Auf dem Rasen standen Tisch und Gartenstühle, und Stephanie trank Kaffee mit einem Mann in ihrem Alter. Er war dunkelhaarig, mit etwas kantigen, sympathischen Gesichtszügen. Als er aufstand, sah Julia, wie groß er war. Lachend kam er ihr entgegen.

»Ich werd’ verrückt, Stephanie, das ist ja Danny! Sag bloß, den hast du immer noch! Der muß ja schon uralt sein!«

»Er ist zweiundzwanzig.« Auch Stephanie erhob sich. Sie ließ es sich nicht nehmen, das Auslauftor für Danny und Violetta zu öffnen. Dabei hätte Julia das auch selbst gekonnt, und ohne abzusteigen. Nach fast zwei Jahren Reiten unter Stephanies Anleitung beherrschte sie die wichtigsten Übungen der Westernreitweise im Schlaf.

»Wenn Violetta noch etwas zunimmt, paßt sie nicht mehr durch das Tor!« bemerkte Julia.

»Wann ist es denn soweit?« Der Mann war den Pferden in den Auslauf gefolgt und kraulte mit geübten Bewegungen Violettas Hals.

»Mitte Mai!« rief Stephanie aus der Futterkammer. Sie brachte etwas Heu für die Ponys heraus. Richtig füttern würden sie erst, wenn Kathi mit Pretty zurück war.

»Siehst du, dann kannst du noch unbesorgt mitkommen!« erklärte der Mann. Er zwinkerte Julia zu. Fröhliche braune Augen mit grünen Punkten darin – der sah ja richtig gut aus! Julia versuchte, sich daran zu erinnern, welchem Schauspieler er ähnlich sah. »Schließlich ist es nur eine Woche . . .«

»Die kann aber lang werden!« antwortete Stephanie skeptisch.

»Ach, Unsinn. Die Kinder sind nett. Wirklich. Und dein Pferdemädchen hier kannst du von mir aus gern mitbringen!«

Julia spitzte die Ohren.

»Dann hätte ich aber kein Pferd.« Worum immer es ging, Stephanie suchte eine Ausrede. Aber sie war nicht so abgeneigt, wie sie tat. Julia kannte ihre erwachsene Freundin sehr gut: Bei einem eindeutigen Nein diskutierte die nicht.

»Du kannst eins von mir haben. Ich hab’ sehr gute Jungpferde. Reizt es dich nicht, wieder mal einen Isländer zu reiten?«

»Der Ritt reizt mich schon, aber die Aussicht auf die Kinder, ich weiß nicht . . .«

»Worum geht es eigentlich?« fragte Julia endlich dazwischen. Von selbst würde wohl keiner der beiden darauf kommen, sie aufzuklären.

»Ach ja, ich hab’ euch noch gar nicht vorgestellt.« Stephanie faßte sich an den Kopf. »Das ist Tobias Weinlaub, Julia. Er hat einen Islandpferdehof in Ostwestfalen. Gerade ist er mit zwei Zuchtstuten unterwegs und macht hier Station, weil er mich überreden will, an einem Wanderritt teilzunehmen. Und das ist Julia Wiegand, Tobias, sie reitet bei mir.«

»Also hast du jetzt doch deinen Sinn für die Jugendarbeit entdeckt!« neckte Tobias und wandte sich dann an Julia. »Früher wollte sie absolut nicht unterrichten. Es ging ihr einfach nicht schnell genug, bis ein Anfänger Fortschritte sehen ließ.«

»Na, ganz so war’s ja wohl nicht«, versuchte Stephanie abzuschwächen, aber Julia lachte. Sie wußte genau, wie lange es dauerte, bis Stephanie jemanden akzeptierte.

»Ein Wanderritt?« fragte sie Tobias. »Und Sie meinen, ich soll mit?«

»Wenn Stephanie zusagt, gern. Du mußt mir helfen, sie zu überreden. Übrigens kannst du mich duzen. Das machen die Jugendlichen in meinen Kursen alle.«

»Dann bist du Reitlehrer?« erkundigte Julia sich neugierig.

»Ja, ich hab’ den Trainerschein vom Islandpferdeverband. Und den Reitwart. Ich leite eine Ferienreitschule und mache Kurse für Reiter mit eigenem Pferd. Islandpferde natürlich.«

»Natürlich!« grinste Stephanie. »Früher hat er auch andere Reiter genommen. Und mit den Rückständen aus dieser Zeit hat er jetzt noch zu kämpfen.«

Julia blickte verständnislos.

»Tobias unterrichtet jetzt nur noch die Crème de la crème«, sprach Stephanie spöttisch weiter. »Nur die kleinen und großen Turniercracks mit ihren Spitzenpferden. Aber nun hat der Freizeitreiterverband ihn doch noch für eine Wanderrittführung durch den Teutoburger Wald angeheuert. Zehn Jugendliche mit ganz normalen Feld-Wald-und-Wiesenpferden. Nicht mal ein Isländer dabei! Und das Geld will er sich natürlich nicht entgehen lassen!«

»Stephanie! Du weißt, ich habe es dem Vorstand des Vereins vor drei Jahren versprochen. Es hat sich halt verschoben, und nun komm ich nicht drum rum.« Tobias wirkte hinreißend zerknirscht.

»Aber das ist ja noch nicht alles«, erzählte Stephanie weiter. »Er hat nicht nur den Freizeitreitern einen Wanderritt versprochen, sondern auch seinen kleinen Turniercracks. Und damit er nicht zweimal los muß, will er die jetzt alle in eine Gruppe packen.«

»Es sind sechs Islandpferdereiter, Stephanie. Alles sehr nette, gut erzogene Mädchen – und ein Junge. Unsere Auswahlmannschaft für die Islandpferdemeisterschaften. Du mußt doch verstehen, daß die auch mal von der Ovalbahn runter wollen.« Tobias verlegte sich jetzt auf einen bittenden Ausdruck.

»Garantiert sind es blasierte Bälger, die sich außerhalb der Ovalbahn kaum auf dem Pferd halten können«, gab Stephanie böse zurück. »Und sie werden sich in ihrer Ehre gekränkt fühlen, wenn du sie mit irgendwelchen Normalreitern in eine Gruppe steckst!«

»Du hast Vorurteile, Stephanie.«

»Hab’ ich auch. Ich mag keine verwöhnten Kinder. Seit frühester Jugend trete ich auf Turnieren gegen diese Sorte an: immer die teuersten Pferde, ständig ein Bereiter dabei, und wenn sie mal verlieren, liegt das nur am Pferd. Dann greift Papa in die Tasche und sie kriegen den nächsten ›Turnierkracher‹.«

Tobias lachte. »Und eifersüchtig bist du auch!«

»Jetzt nicht mehr, aber früher schon. Ich hätte auch gern viel Geld gehabt und viele Schleifen gewonnen. Aber ich hätte nicht jedes Jahr mein Pferd gewechselt.« Stephanie streichelte Danny.

»Und wir sollen bei dem Wanderritt mitmachen?« Julia interessierte sich vorerst nicht für die anderen Teilnehmer. Der Gedanke an einen mehrtägigen Ritt war zu verlokkend. »Wann ist es? Und wie lange?«

»Siehst du, Julia ist schon überzeugt!« sagte Tobias. »In den Osterferien, Julia, in der ersten Woche. Ich begleite den Ritt, und als Betreuerin kommt noch Silke Mehlau mit, eine Tierärztin. Und dann hatte ich eben Stephanie eingeplant.«

»Natürlich ohne mich vorher zu fragen!« schimpfte Stephanie.

»Ach, Steffi . . .«

 

»Er hat sie ›Steffi‹ genannt?« Kathi starrte Julia ungläubig an. Die Freundin hatte ihr nicht einmal Zeit gelassen, die Reitkappe abzunehmen, bevor sie die Neuigkeiten hervorsprudelte.

»Er hat sie ›Steffi‹ genannt, und sie hat ihm nicht die Augen ausgekratzt?«

Stephanies Abneigung gegen Spitznamen war allgemein bekannt.

»Im Gegenteil«, berichtete Julia eifrig, »Sie hat geschnurrt wie ein Kätzchen! Im Grunde stand von vornherein fest, daß sie mitmacht. Sie wollte ihn nur etwas schmoren lassen. Der kann einen aber auch bequatschen! Wie er dich schon anguckt.«

»Er gefällt dir wohl, oder?« Kathi schenkte ihrer Freundin ein verständnisvolles Lächeln. Nachdem sie nun schon ein halbes Jahr mit ihrem Freund Nardo zusammen war, hielt sie sich für eine Expertin in allen Fragen der Verliebtheit. Leider stand ihr demnächst eine Trennung bevor. Nardo gehörte zu einem Wanderzirkus, und in knapp einem Monat würde seine Familie das Winterquartier verlassen und wieder auf Tournee gehen. »Zu schade, daß ich in den Osterferien auf diesen Dressurkurs muß. Der ist zwar erst in der zweiten Hälfte, aber zweimal hintereinander lassen meine Eltern mich nicht weg.« Kathi besaß in ihrer Fuchsstute Pretty ein sehr gut veranlagtes Dressurpferd und nahm – vor allem auf Wunsch ihres Vaters – regelmäßig an Turnieren teil.

»Und wenn du mitkämst, würde sich auch keiner um Violetta kümmern. Stephanie ließe sie sicher nicht allein hier«, meinte Julia. »Aber um auf Tobias zurückzukommen – ich glaube, Stephanie gefällt er.«

Nachdem die Mädchen die Pferde gefüttert hatten, radelte Julia im Blitztempo nach Hause. Sie brannte darauf, ihrer Mutter von dem Wanderritt zu erzählen. Hoffentlich würde sie ihr die Teilnahme erlauben!

Als Julia die Wohnungstür öffnete, klangen fröhliche Stimmen aus dem Wohnzimmer. Besuch? Oh, bloß nicht so langweilige Leute ohne jegliches Interesse an Wanderritten! Sie konnte jetzt unmöglich zwei Stunden herumsitzen und höflich sein, ohne über ihre Pläne zu reden! Immerhin beschloß sie, sich etwas herzurichten, bevor sie dem Besuch vor Augen trat. Sie schlüpfte ins Bad, wusch sich das Gesicht und löste ihren braunen Pferdeschwanz. In der letzten Zeit war ihr Haar gewachsen, und sie konnte es zu einem lustigen kleinen Knoten aufstecken. So, nun sah sie ordentlich aus, und wenn ihre Mutter und der Besuch schon nichts von Wanderritten hören wollten, so würde man sie doch auch nicht hinausschicken, um sich zu »kultivieren«.

Ganz unerwartet fand Julia ein interessiertes Publikum. Frau Wiegand hatte Besuch von ihrer Freundin Margot, dem einzigen pferdebegeisterten Menschen in ihrer Bekanntschaft Margot war Westernreiterin in einem Stall bei Hannover, und ihre Reitlehrerin Annika hatte Julia damals die Reitgelegenheit bei Stephanie vermittelt. Natürlich lauschte sie Julias Bericht mit großer Anteilnahme – besonders, als der Name Tobias Weinlaub fiel.

»Guck mal an, Tobias Weinlaub! Turtelt der tatsächlich wieder mit Stephanie herum!« Margots Tonfall war anzumerken, daß dies in Annikas Stallgemeinschaft die Neuigkeit des Jahres sein würde.

»Na ja, turteln würde ich das nicht gerade nennen«, meinte Julia. »Und wieso ›wieder‹?«

Margot lehnte sich genüßlich zurück. Wie die meisten Reiterinnen genoß sie Klatsch aus der Pferdeszene.

»Tobias Weinlaub und Stephanie Heiden galten vor ein paar Jahren als das Traumpaar der Freizeitreiterszene. Sie waren wohl lange zusammen, alles war überzeugt davon, sie würden heiraten und irgendwo einen Reitstall eröffnen. Vielleicht auch etwas mit Korrektur von Problempferden. Er ist ein hervorragender Reiter, und sie hat auch eindeutig eine Hand dafür. Aber dann hat er mit den Isländern angefangen, und sie hat Danny gekauft . . . und irgendwann hörte man, sie hätten sich getrennt.«

»Weil er Isländer reitet und sie Danny gekauft hat?« fragte Annette Wiegand. »Komische Gründe für eine Trennung!«

»Na ja, die Gründe werden wohl woanders gelegen haben. So genau weiß ich das auch nicht. Müßte man mal Annika fragen. Auf jeden Fall hörte man von ihm nicht mehr soviel, weil er eben voll bei den Isis einstieg. Hat da wohl sehr erfolgreich Turniere geritten. Und Stephanie machte ja ganz andere Sachen mit ihrem Danny.«

»Vielleicht hat er sie verlassen, weil er auf Danny eifersüchtig war!« mutmaßte Julia, aber die Frauen fanden das nur komisch.

»Julia, Danny ist ein Pferd!« lachte Margot. »Ein ganz tolles natürlich, aber doch keine Konkurrenz für einen Mann wie Tobias Weinlaub!«

Julia fand das nicht. Für sie war Danny der Mittelpunkt der Welt, und selbst ein Typ wie Tobias fiel schwer gegen ihn ab.

Sie beschloß, der Sache auf den Grund zu gehen.