© 2021
Johann Kapferer
Alle Rechte vorbehalten
www.johann-kapferer.at
Illustrationen: Christian „Yeti“ Beirer
www.christianyetibeirer.at
Layout: Augustin medien&design
www.augustin.at
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783753437880
Gewidmet
Eva und Jasminka
„Danke, dass ihr mich so liebevoll zu
dieser Neuauflage inspiriert habt.“
Jokl Gerber und Sim Scheiber verband schon von frühester Kindheit an, eine unzertrennliche Freundschaft. Ständig waren die beiden Jungs zu irgendwelchen Streichen aufgelegt. Es verging kaum ein Tag, an dem sie sich nicht wieder etwas Neues ausdachten, mit dem sie die ganze Umgebung auf Trab hielten.
Doch die beiden hatten noch etwas gemeinsam. Jokl und Sim waren haargenau am selben Tag auf die Welt gekommen. Wie ausgemacht, brüllten die zwei Neugeborenen damals sogar im gleichen Krankenhauszimmer lautstark um die Wette. Der einzige Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass Jokl genau um fünf Minuten früher das Licht der Welt erblickte, als Sim.
Das alles liegt jetzt etwas mehr als zehn Jahre zurück. Die zwei besuchten dieselbe Schule und saßen natürlich nebeneinander in der Bank.
Bis vor Kurzem hatten die Lehrer die Jungs genau im Blick, denn mit ihrem Schabernack störten die beiden immer wieder den Unterricht. Erst als der Direktor meinte, dass einer von ihnen in eine andere Klasse wechseln muss, wenn sie nicht damit aufhörten, rissen sie sich zumindest in der Schule einigermaßen zusammen.
»Zum Glück sind bald die großen Ferien. Dann haben wir endlich wieder zwei Monate Ruhe von dem Zeug hier«, meinte Jokl während einer großen Pause.
»Kannst du vielleicht Gedanken lesen? Das wollte ich genau in diesem Moment auch sagen«, kam postwendend die Antwort von Sim.
Als der Junge das hörte, grinste er Sim an, während er zu ihm hinuntersah, denn er überragte seinen Freund um über einen halben Kopf. Erst kürzlich hatte seine Mutter gemeint, er würde sie mit seiner Größe bald einholen.
Die strohblonden Haare trug Jokl immer sehr kurz geschnitten. Das lag einerseits am dichten Haarwuchs des Jungen. Zudem ließen sie sich nicht bändigen und wuchsen kreuz und quer in alle Himmelsrichtungen.
Bereits auf den ersten Blick konnte man sehen, dass Jokl der Schalk deutlich in das Gesicht geschrieben stand. Man bekam automatisch das Gefühl, der nächste Streich ist schon ausgeheckt, wenn er einen schelmisch angrinste.
Dabei bemühte sich der Junge immer, die Lippen beim Lachen zusammenzukneifen. Dafür gab es auch einen Grund.
Vor zwei Jahren schenkten ihm seine Großeltern ein neues Fahrrad zum Geburtstag. Knallgrün, mit einundzwanzig Gängen, genauso, wie er es sich schon so lange sehnlich gewünscht hatte. Natürlich wollte er es noch am selben Nachmittag auf Herz und Nieren testen. Da Jokl damals keinen Fahrradführerschein besaß, musste die Garageneinfahrt vor dem Haus seiner Eltern als Teststrecke herhalten. Der Junge war so begeistert, dass er gar nicht merkte, wie er immer mehr an Tempo gewann. Sekunden später passierte das Unglück auch schon.
Jokl hatte sich in einer Kurve zu sehr auf die Seite gelegt und ehe er reagieren konnte, streifte er mit dem Pedal den Asphalt. Begleitet von einem scheppernden Geräusch flog er Hals über Kopf vom Fahrrad. Ein brennender Schmerz jagte durch seinen Körper, als er mit dem Gesicht voran auf den Boden stürzte.
Er fiel so unglücklich hin, dass seither das untere Eck von seinem rechten Schneidezahn fehlte. Dazu waren die Lippen so dick angeschwollen, wie zwei Fahrradreifen. Er konnte sie fast eine ganze Woche nicht mehr bewegen, geschweige denn auch nur ein einziges Wort zwischen ihnen herauspressen.
Jokls Mutter meinte damals im Scherz, es wäre für sie eine wahre Wohltat, dass er endlich einmal den Mund halten musste. Dabei tat er ihr unendlich leid. Sie konnte die Tränen kaum zurückhalten, wenn sie ihn ansah.
An den Schmerz erinnerte sich Jokl noch so, als ob der Sturz erst gestern passiert wäre. Dazu kam die Angst vor dem Zahnarzt. Alles gute Zureden seiner Eltern hatte bisher überhaupt nichts geholfen. Er weigerte sich bis zum heutigen Tag, den kaputten Zahn wieder in Ordnung bringen zu lassen. Schon der Gedanke an den Zahnarztstuhl und an den Bohrer jagten dem Jungen eine Höllenangst ein. Deshalb kniff er seither beim Lachen lieber die Lippen zusammen, damit man den angeschlagenen Zahn nicht sah.
Selbst wenn er einen mit seinen Streichen fast zur Weißglut brachte, zeichnete eine Eigenschaft den Jungen besonders aus. Jokl war ein außerordentlich guter Läufer. In der ganzen Schule gab es niemanden, der auch nur annähernd so schnell eine Runde um den Fußballplatz lief, wie er.
Sim konnte als Einziger mit ihm mithalten. Auf den ersten Blick unterschätzte man den Jungen zwar, doch davon durfte man sich nicht täuschen lassen.
Sim war ein überaus drahtiges und flinkes Kerlchen, dem es mehr als einmal gelang, die Menschen mit seiner Schnelligkeit in fassungsloses Staunen zu versetzen. So wie bei der Schulsportwoche im vergangenen Jahr.
Sim holte den Sieg im Laufwettbewerb überlegen. Jokl konnte damals nicht mitmachen, weil er die Windpocken hatte und deshalb das Bett hüten musste. Sim war sportlich bis zu diesem Zeitpunkt noch nie in Erscheinung getreten. Doch der Ehrgeiz, das Rennen auch für seinen besten Freund Jokl zu gewinnen, ließ ihn über sich hinauswachsen. Die Zuschauer waren begeistert, denn niemand hatte ihm das zugetraut.
Mit seinem kugelrunden Kopf und den feuerroten Haaren, mussten viele schon beim ersten Anblick lachen. Zudem konnte Sim kaum einmal ein ernstes Gesicht machen. Entweder setzte er irgendwelche Grimassen auf oder er grinste einen an und sagte kein Wort.
Dabei hatte sich Sim früher immer wegen seiner vielen Sommersprossen geniert, die über das ganze Gesicht verteilt waren. Doch das störte ihn längst nicht mehr. Erst vor ein paar Tagen meinte Sims Vater, dass sie ihm sogar ausgezeichnet passen würden und er damit genauso aussah, wie man sich eben einen richtigen Lausbuben vorstellt. Und genau danach strebte er schon immer.
Die Haare trug er, gleich wie sein bester Freund, ebenfalls kurz geschnitten. Wenn Sim herzhaft lachte, bekam er ein Gesicht, so rot wie eine Tomate. Erst kürzlich hatte Jokl gemeint, dass er damit bloß nicht auf den Bürgersteig gehen sollte.
»Du leuchtest ja wie eine Stopptafel, Sim. Ich sehe schon den Stau vor mir, wenn alle Autos wegen deinem roten Kopf anhalten müssen«, lachte er.
Neben ihrem Übermut und all den Späßen teilten die beiden noch etwas. Die Freunde besaßen zwar jeder ein Smartphone, doch das verwendeten sie wirklich nur zum Telefonieren. Den Computer benutzten sie auch nur für die Hausaufgaben. Damit unterschieden sie sich klar von anderen Kids in ihrem Alter, die jede freie Minute, entweder mit dem Handy oder dem Tablet, online waren. Das alles interessierte die Jungs überhaupt nicht. Jokl und Sim hielten sich viel lieber draußen auf und spielten im nahe gelegenen Wald. Zudem gab es noch jemanden, der unzertrennbar mit den beiden verbunden war.
Dieser Jemand kam vor knapp zwei Jahren wie ein Wirbelwind in Jokls Leben geflogen. Er musste sich damals erst von dem Sturz mit dem Fahrrad erholen, als der Zufall oder wenn man will, das Schicksal, eine entscheidende Rolle spielte.
Ein heftiges Gewitter fegte mitten in der Nacht durch den Ort. Für Jokl fühlte es sich an, als ob es direkt über dem Haus toben würde. Er konnte nicht schlafen. Doch mit einem Male fuhr er erschrocken in die Höhe. Es klang, als ob jemand am Fensterbrett kratzte. Jokl hielt den Atem an und lauschte. Gleichzeitig blickte er ängstlich im Raum herum, doch nichts rührte sich mehr.
Langsam zog er die Bettdecke wieder bis knapp unter die Nasenspitze, dabei ließ er das Fenster nicht aus den Augen. Plötzlich zuckte ein greller Blitz durch die Nacht und warf in derselben Sekunde einen bizarren Schatten an die Zimmerdecke. Jokl stieß einen heiseren Schrei aus, dann zog er die Decke über den Kopf und rührte sich keinen Millimeter mehr.
Zitternd verbrachte er den Rest der Nacht in seinem Bett. Ständig hatte er dieses Bild vor Augen. Es sah aus, wie ein riesiger Drache mit weit ausgebreiteten Flügeln. Der Junge konnte es kaum erwarten, dass endlich der nächste Morgen anbrach.
»Hoffentlich taucht Sim gleich nach dem Frühstück auf. Das muss ich ihm unbedingt erzählen«, murmelte Jokl, als ihn kurz vor dem Morgengrauen doch noch der alles erlösende Schlaf übermannte.
»Du glaubst mir nicht, was letzte Nacht hier abgegangen ist«, empfing er Sim.
In ein paar knappen Sätzen berichtete er Sim von seinem unheimlichen Erlebnis.
»Quatsch. Du hast das sicher alles bloß geträumt«, Sim blickte seinen Freund an, »lass uns lieber damit spielen«, sagte er und deutete auf die beiden Federballschläger in seiner Hand.
»Klar, ein Traum. Das Monster war riesengroß in meinem Zimmer. Ich habe doch nicht geträumt«, Jokl sah seinen Freund an, »von mir aus. Gib schon her«, sagte er schließlich und nahm einen Schläger in die Hand.
Eine Weile lang schossen sie den Federball mit mäßigem Erfolg, hin und her. Doch plötzlich trat das Spiel in den Hintergrund. Jokl bückte sich wieder einmal nach dem Ball, der in einem hohen Bogen über ihn geflogen war, als er ein seltsames Rascheln im Gebüsch hörte. Es kam direkt aus einem Strauch hinter ihnen.
Das weckte sofort die Neugier der beiden Freunde. Das Federballspiel interessierte sie jetzt längst nicht mehr. Sie mussten unbedingt herausfinden, was sich dahinter verbarg.
Auf Zehenspitzen schlichen die Jungs, fast bis auf den Boden geduckt, näher. Sim ging einen Schritt hinter seinem Freund und blickte ihm die ganze Zeit über die Schulter. Vorsichtig schob Jokl einen Zweig beiseite. Zuerst konnten sie nichts Außergewöhnliches sehen, doch dann zuckten sie erschrocken zusammen.
Im Schutz des Gebüschs saß ein junger Rabe und blickte die beiden mit traurigen Augen an.
»Kraaah, kraaah«, krächzte er und sprang einen Schritt zurück.
Erst jetzt bemerkten die Freunde, dass er den linken Flügel kaum bewegen konnte. Zudem stand er in einem eigenartigen Winkel vom Körper ab.
»Sieh mal. Er ist verletzt«, Jokl blickte Sim nachdenklich an.
Plötzlich stieß er einen Schrei aus.
»Jetzt weiß ich die Lösung. Der Rabe saß auf dem Fensterbrett und das grelle Licht des Blitzes hat den Schatten an der Wand von meinem Zimmer geworfen. Damit wäre das Rätsel von letzter Nacht gelöst«, sagte er.
»Stimmt«, Sim nickte zustimmend, »aber was machen wir jetzt mit ihm«, wollte er wissen.
»Zuerst müssen wir ihn von dort herausholen. Da drinnen kann er nicht bleiben. Was glaubst du, passiert mit ihm, wenn ihn eine Katze oder gar ein Fuchs entdeckt«, sagte Jokl besorgt.
Langsam ging er in die Knie und streckte die rechte Hand selbstsicher nach dem Vogel aus. Aber so leicht, wie er sich das vorgestellt hatte, war es am Ende doch nicht. Blitzschnell zuckte der Kopf des Raben vor und er zwickte dem Jungen mit dem Schnabel in die Hand.
»Aua«, rief Jokl, und rieb sich mit schmerzverzerrtem Gesicht über den Handrücken.
»Von wegen, wir holen ihn erst einmal da heraus«, kam postwendend der Kommentar von Sim.
»Du Neunmalkluger, hast du vielleicht eine bessere Idee?«, konterte Jokl beleidigt, während er auf seine Hand starrte.
Die Stelle brannte nicht nur, sondern leuchtete inzwischen auch noch feuerrot.
»Ich wüsste, wie wir ihn herauslocken könnten. Er sitzt sicher schon länger dort und hat wahrscheinlich Hunger«, grinste Sim.
»Stimmt, was meinst du? Ob er wohl auf Erdnüsse steht? In der Küche ist noch eine volle Packung. Warte hier. Ich laufe ins Haus und hole sie«, rief Jokl aufgeregt.
Die Schmerzen in seiner rechten Hand waren mit einem Male verschwunden. Es dauerte nicht lange und er kam mit der Erdnusspackung und einer kleinen Obstschale wieder aus dem Haus gerannt. Er riss die Packung auf und leerte ein paar Nüsse in die Schale.
»Hier, mach du. Ich lasse mich nicht noch einmal von ihm zwicken«, sagte Jokl und hielt seinem Freund die Schüssel hin.
»Wenn du meinst. Dann versuche eben ich es«, grinste Sim selbstsicher.
Der Junge schob die Schale langsam hin zu dem Raben, der alles mit wachsamen Augen verfolgte. Als die Nüsse noch etwa einen halben Meter von dem Vogel entfernt war, zog Sim die Hand wieder zurück, um das verletzte Tier nicht zu erschrecken.
Der Rabe beäugte das angebotene Futter zuerst etwas argwöhnisch.
Doch schon nach wenigen Minuten siegte der Hunger. Vorsichtig hüpfte der Vogel auf die Schale mit den Erdnüssen zu. Dabei ließ er die beiden Freunde nicht aus den Augen.
Jokl und Sim mussten gleichzeitig lachen, als er den Kopf immer wieder drehte und sie von der Seite her ansah. Der Rabe zögerte kurz, dann öffnete er seinen großen schwarzen Schnabel und schnappte sich einen Leckerbissen.
Aufgeregt sahen die Jungs zu, wie der Vogel eine Nuss nach der anderen aus der Schale holte. Das Tier war völlig ausgehungert, denn schon bald darauf hatte er alles geleert. Inzwischen wusste der Rabe auch, dass ihm von den beiden Jungs keine Gefahr drohte.
»Kraaah, kraaah«, krächzte er zweimal hintereinander, als wollte er sich für das Futter bedanken.
Dann machte er plötzlich einen Satz nach vorne, genau in die Richtung, wo Jokl und Sim auf dem Boden knieten.