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eISBN 978-3-649-64087-5

© 2021 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Anne Ameling

Illustrationen: Melanie Korte

Lektorat: Frauke Reitze

Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63779-0.

Anne Ameling

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Mit Illustrationen von
Melanie Korte

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Inhalt

Prickelnde Zehen und ein unglaublicher Brief

In der Krähenstraße

Zweifel an der Wahrheit und ein Drama mit Lama

Der beste Ort der Welt

Dunkle Wolken

Das Nimmerauf-Kästchen des magischen Geschicks

Frau Blau sieht schwarz und Meister Maravil gar nichts

Die Kunst des Suchens

Zwei Rettungsaktionen und ein magischer Sturm

Noch eine Rettung und noch eine Entführung

Ein neuer Verbündeter und ein Tauchgang

Netzstörung in der Anzel-Aue

Neue Hoffnung und alte Freunde

Flieg, kleiner Vogel!

Alles wird schwarz

Abschied

»Am Ende sind wir

alle Geschichten.

Mach eine gute daraus, ja?«

Stephen Moffat,
Doktor Who – Der große Knall

»Etwas Unmögliches kann man nicht glauben.«

»Du wirst darin eben noch nicht die rechte Übung haben«, sagte die Königin. »In deinem Alter habe ich täglich eine halbe Stunde darauf verwendet.

Zuzeiten habe ich vor dem Frühstück bereits bis zu sechs unmögliche Dinge geglaubt.«

Lewis Carroll,
Alice hinter den Spiegeln

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Prickelnde Zehen und ein unglaublicher Brief

1. Kapitel, in dem sich schon zeigt, dass die stinknormale Stadt Firleburg an der Anzel eigentlich gar nicht so stinknormal ist, und in dem ein überraschendes Verbot ausgesprochen wird.

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Selbst muffiges Graubrot am Morgen kann Mona Flints gute Laune heute nicht verderben. Es sind Ferien und Mona hat viel vor. Nach dem Frühstück trifft sie ihren besten Freund Jackie auf dem Schweinespielplatz. Und dann verbringen sie den ganzen Tag zusammen, so ist es abgemacht. Mona lächelt, streicht ihre ungekämmten, mausbraunen Locken aus dem Gesicht und zappelt mit den Füßen.

»Mona Flint, du hörst mir nicht zu«, stellt Frau Blau fest und schmiert viel zu harte Butter auf Monas widerspenstige Graubrotschnitte.

Die meisten Kinder haben Eltern. Mona hat Frau Blau. Die ist in Ordnung, und ihr Name reimt sich so wunderbar, dass Mona gar keinen anderen für sie braucht. Mona hat sie gern, und sie ist sich sicher, dass Frau Blau sie ebenfalls gernhat, auch wenn sie das nicht extra sagt. So was spürt man eben.

Seit Mona denken kann, ist sie schon im »Haus für gestrandete Kinder«. So nennt Frau Blau das, weil sie Mona damals – mit einem Namensband um das winzige Ärmchen – vor ihrer Tür fand. Als hätte eine Flusswelle der Anzel das Baby einfach dorthin gespült. Außer Mona strandeten dann im Laufe der Zeit noch vier weitere Kinder bei Frau Blau: Billy, Zoé, Noah und Tarek. Mona stellt sich immer vor, sie alle hätten nach heldenhaften Kämpfen Schiffbruch erlitten. Wenn man irgendwo strandet, dann ja wohl nur, weil man vorher großer Gefahr getrotzt und sich durch wilde Abenteuer geboxt hat. Manchmal erzählt Mona den anderen flüsternd von diesen Abenteuern, wenn sie abends in ihren Stockbetten liegen, gemütlich in die Decken gekuschelt.

Die Leute, die behaupten, dass Frau Blau Kinder aufnimmt, die sonst keiner haben will, haben Monas Ansicht nach überhaupt keine Ahnung.

Frau Blau ist streng, aber gerecht. Man kann sich auf alles verlassen, was sie sagt. Bei Jackies Eltern zum Beispiel ist das schwieriger. Jackie heißt eigentlich Jakob Pfeiffer und wohnt im Haus gegenüber, seine Eltern sind Herr Pfeiffer und Frau Dr. Pfeiffer-Fuchs. Sie sind ganz okay – nein, sie sind sogar wirklich nett. Sie lesen ihm vor, sagen »Ich liebe dich, Jackie-Schatz«, kaufen ihm was und sorgen dafür, dass er gesunde Sachen isst. Aber verlassen kann man sich nicht auf sie. Sie haben viel wichtige Arbeit und vergessen es oft, wenn sie etwas versprochen haben. Das nervt ganz schön. Aber Jackie hat sie trotzdem lieb. Man muss halt mit dem arbeiten, was da ist. Sagt Frau Blau immer. Die verspricht nur Sachen, die sie auch halten kann. Und sie tüddelt nicht so um einen rum.

»Mona!«, sagt Frau Blau nun ein bisschen lauter. »Ich rede mit dir!«

»Oh«, sagt Mona und schaut auf die Brotschnitte vor sich, auf der nun platt gedrückte Klumpen Butter pappen. »Kann ich Marmelade?«

Frau Blau reicht Mona die Erdbeermarmelade. Mona häuft sie großzügig auf die Butterklumpen.

»Ich bin nachher mit Noah und Tarek beim Zahnarzt. Danach gehen wir einkaufen«, sagt Frau Blau und wirft dem Kühlschrank einen vorwurfsvollen Blick zu, als hätte der sich von ganz allein leer gefuttert. Sie seufzt und fügt hinzu: »Billy und Zoé sind vorhin ins Fußballcamp gefahren. Ich hoffe, Billy schafft es dieses Mal, niemanden zu verhauen.«

»Wenn Billy jemanden verhaut, hat der es bestimmt verdient«, erwidert Mona mit vollem Mund.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, murmelt Frau Blau. Dann schaut sie Mona eindringlich an. »Mona, versprich mir bitte, dass du heute mit Jakob in der Nähe vom Schweinespielplatz oder bei Jakob zu Hause spielst. Oder hier bei uns. Geht auf keinen Fall in die Krähenstraße.«

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»Wieso nicht?«, fragt Mona erstaunt.

»In der alten Villa dort wohnen seit zwei Wochen wirklich schräge Leute«, sagt Frau Blau und deutet auf einen Marmeladenklecks an Monas Kinn. »Du hast da was.«

Mona wischt die Marmelade mit dem Finger ab und schielt unauffällig zu ihrem Notizbuch. Eigentlich ist Firleburg an der Anzel ein stinknormales Städtchen, in dem überhaupt keine schrägen Leute wohnen und nie etwas Ungewöhnliches geschieht. Doch Monas Notizbuch erzählt eine andere Geschichte. Da waren zum Beispiel diese gestreiften Frösche: Mona und Jackie haben gleich mehrere davon am Anzelufer entdeckt. Mona fand sie ziemlich verrückt und zeichnete einen in ihr Notizbuch. Sie schrieb »Verrückter gestreifter Frosch, Fundort: Anzel« unter das Bild, Datum und Uhrzeit dazu. Wie eine Biologin bei der Erforschung neuer Tierarten.

Und dann begegnete Jackie und Mona immer mehr Ungewöhnliches, geradezu Unmögliches. Etwa die singenden Laternen in der Krähenstraße. Oder Frau Palladins Dackel, der glücklich hechelnd über den Marktplatz schwebte.

»Ganz klare Ansage«, wiederholt Frau Blau ernst. »Nicht in die Krähenstraße gehen. Dort dürft ihr ab jetzt nicht mehr spielen.«

Seltsam. Frau Blau sagt sonst immer, dass sie Verbote nicht leiden kann. Was ist nur in sie gefahren? Und das ausgerechnet jetzt, wo die Ferien anfangen und Mona und Jackie eigentlich den unglaublichen Vorfällen in Firleburg endlich auf den Grund gehen wollen. Natürlich auch in der Krähenstraße, immerhin ist gerade da so einiges an Merkwürdigkeiten passiert.

Eigentlich müsste Frau Blau es ja auch besser wissen. Verbote verursachen bei Mona ein nahezu unerträgliches Prickeln in den Zehen. Und so ziemlich jeder Ärger, den sie je hatte, begann mit ebendiesem Prickeln. Dabei will Mona gar keinen Ärger!

»Nicht in die Krähenstraße«, wiederholt sie also mechanisch. »Kann ich noch ein Marmeladenbrot?«

Frau Blau schneidet Mona eine weitere Scheibe Brot ab und lässt sie vor Schreck beinahe fallen, weil draußen gerade die Klappe vom Briefkasten herunterknallt. Das Haus der gestrandeten Kinder hat den lautesten Briefkasten der Welt, behauptet Jackie. Als Frau Blau die Post hereinholt, klappert er aber nur halb so laut – es liegt also nicht nur am Briefkasten.

»Oh nein, nicht schon wieder Post vom Bauamt«, stöhnt Frau Blau, als sie in die Küche zurückkehrt. Sie reißt den Umschlag auf und überfliegt den Brief.

Das Haus der gestrandeten Kinder ist in den letzten Jahren ziemlich baufällig geworden. Im oberen Geschoss tropft es an zwei Stellen durch das Dach. Die eine Hälfte der Fenster schließt nicht mehr richtig, die andere lässt sich nicht öffnen. Das Haus gehört jedoch der Stadt Firleburg. Und die, oder besser gesagt, der Mann vom Bauamt, ist der Meinung, dass reparieren zu teuer wäre. Abreißen sei billiger. Nur, wo Frau Blau und die Kinder dann unterkommen sollen, das weiß der Mann vom Bauamt leider nicht. »Ist ja nicht so einfach, mit solchen Kindern«, behauptet er.

Trotzig beißt Mona ein Stück Kruste von ihrem Brot ab. Falls der Bauamt-Heini unser Zuhause abreißt, lege ich ihm jede Nacht dicke Nacktschnecken ins Bett, beschließt sie. Und sie stellt sich vor, wie er schreiend durch sein Schlafzimmer hüpft und denkt: Ach, hätten wir doch das schöne alte Haus repariert!

Frau Blau lässt den Brief sinken. »Ich fürchte, zum Bauamt muss ich heute auch noch.«

Mona nickt. »Und dann sagst du dem Heini mal ordentlich die Meinung!«, bekräftigt sie.

Stirnrunzelnd steckt Frau Blau den Brief in den Umschlag zurück und wirft ihn auf den Tisch. »Ich gehe kurz in den Keller, um den Wäscheberg zu schrumpfen«, sagt sie mit aufgesetzter Munterkeit. »Der ist sonst bald höher als die Zugspitze.«

Mona ist alarmiert. Während Frau Blaus Schritte auf der Kellertreppe verhallen, zieht sie langsam den Umschlag zu sich heran. Was steht in dem Brief? Wenn Frau Blau so komisch reagiert, dann muss es was Ernstes sein.

Der Brief atmet amtliche Langeweile und ist so geschrieben, dass Mona ihn drei Mal lesen muss, um ihn überhaupt richtig zu verstehen. Ein Satz frisst sich bei jedem Lesen ein Stück tiefer in ihr Herz:

»Wir teilen Ihnen daher mit, dass aufgrund der derzeitigen Haushaltslage eine Instandsetzung des Kinderhauses nicht infrage kommt und wir Sie bitten müssen, das Haus bis zum 30. September zu räumen.«

Mona begreift: Sie dürfen hier bald nicht mehr wohnen! Ihre Hand zittert. Das Haus der gestrandeten Kinder ist das erste richtige Zuhause, das sie alle je hatten. Es ist etwas Besonderes! Aber jemand, der so ungeheuer doofe Briefe schreibt, kann das natürlich nicht verstehen.

Mona streicht über ihr Notizbuch. »Unglaubliches« steht in großen Druckbuchstaben auf dem Deckel. Und genau das enthält es: In diesem Buch notieren Mona und Jackie alles Unglaubliche, das ihnen begegnet. Unglaublich tolle oder verrückte Sachen. Aber natürlich auch unglaublich doofe. Mona fischt einen Stift aus ihrer Umhängetasche und schreibt:

Bauamt will die gestrandeten Kinder aus ihrem Haus werfen!

»Als ob sie das schaffen würden!«, murmelt Mona und beschließt: Die gestrandeten Kinder wirft niemand irgendwo hinaus! Sie wird einen Weg finden, alles in Ordnung zu bringen. Zusammen mit Jackie. Immerhin sind sie echte Experten für Unglaubliches. Der Gedanke macht sie wieder fröhlich. Es sind Ferien, und ihnen wird etwas einfallen, um ihr Zuhause zu retten. Mona Flint fällt immer etwas ein!

In der Krähenstraße

2. Kapitel, in dem zwei Kinder einen verbotenen Ausflug machen, ein Wachhund gute Arbeit leistet und ein paar wirklich schräge Leute offenbar nicht so gute.

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Nach dem vierten Marmeladenbrot bricht Mona auf. Sie springt die Stufen zur Straße hinunter, das Unglaubliche Notizbuch in ihrer Umhängetasche. Die beiden Kleinen, Noah und Tarek, rasen mit ihren Rollern über den Hof. Noah ist fünf, fast sechs, darauflegt er Wert. Wie alt Tarek ist, weiß keiner. Er hat eine weite Reise hinter sich und spricht nicht. Manche Abenteuer sind eben einfach zu groß für jemanden, der so klein ist, denkt Mona. Aber irgendwann wird auch Tarek groß genug sein. Dann spricht er bestimmt. Mona und Frau Blau haben einen Tag ausgesucht, an dem sie Tareks Geburtstag feiern. Das war Monas Idee. Jeder braucht einen Tag, der ihm ganz allein gehört, findet sie.

Pfeifend schlendert sie die Straße hinunter. Die Sonne scheint mild und warm auf das verschlafene Firleburg hinab. Jackie wartet schon am Schweinespielplatz. Der heißt so wegen Anneliese, dem Hängebauchschwein, das in einem Gehege neben dem Spielplatz wohnt. Eigentlich schläft Anneliese die ganze Zeit. Manchmal denken Mona und Jackie erschrocken, sie sei tot. Aber dann wackelt sie doch mit den Öhrchen, um eine Fliege zu vertreiben, oder sie furzt laut und zufrieden. Heute ist Anneliese wach. Jackie hat ihr wie immer einen Apfel mitgebracht, den mampft sie glücklich und lässt sich dabei durch den Gitterzaun kraulen.

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Über Jackies sommersprossiges Gesicht zieht sich ein strahlendes Lächeln, als er Mona bemerkt. »Mönsch, bin ich froh, dass Ferien sind!«

»Und ich erst«, bestätigt Mona und tätschelt das Schwein. Das wird im selben Moment von Müdigkeit überwältigt und plumpst seufzend auf die Seite.

Jackie deutet auf Monas Tasche. »Du musst es sofort aufschreiben: Unglaublich, aber wahr, Anneliese war länger als fünf Minuten wach!«

Mona zieht das Unglaubliche Notizbuch hervor und schüttelt den Kopf. »Ich habe heute schon was eingetragen, Jackie. Hier, lies mal! Das ist superwichtig.«

Jackie schiebt überrascht seine Mütze in den Nacken und beginnt zu lesen. Er trägt sogar im Sommer eine Mütze, das ist so ein Tick von ihm. Selbst Frau Pfeiffer-Fuchs hat es mittlerweile aufgegeben, ihm das auszureden.

»Was heißt das, das Bauamt wirft euch raus?«, fragt er geschockt. »Das dürfen die gar nicht.«

Mona erzählt ihm von dem Brief. »Irgendwer muss unser Haus reparieren«, schließt sie. »Dann können sie es nicht mehr abreißen.«

»Aber wer?«, murmelt Jackie bedrückt.

Das weiß Mona auch nicht. »Ich wünschte, ich wäre stinkreich, dann würde ich unser Haus einfach kaufen«, sagt sie.

»Wie wird man stinkreich?«, fragt Jackie und starrt gedankenverloren auf den anderen neuen Eintrag im Notizbuch:

Frau Blau verbietet etwas ohne vernünftigen Grund.

»Frau Blau hat dir etwas verboten?«, hakt er erstaunt nach.

Mona nickt. »Sie will nicht, dass wir in die Krähenstraße gehen. Weil da seit zwei Wochen schräge Leute wohnen. Schon seltsam, nicht?«

Jackie schüttelt fassungslos den Kopf. »Frau Blau findet sonst niemanden schräg! Das ist wirklich unglaublich. Und in der Krähenstraße wollten wir doch heute mit unseren Ermittlungen anfangen. Singlaternen untersuchen …« Er grinst. »Na ja, wir haben so viel Unglaubliches gesammelt, starten wir eben woanders.« Er blättert eine Seite im Notizbuch zurück. Dann trägt er feierlich vor:

Die Laternen in der Krähenstraße singen jeden Abend zwischen 18 und 19 Uhr.

Der Dackel von Frau Palladin schwebt herum wie ein Luftballon. (Haben ihn an den Fahrradständer gebunden, damit er nicht wegfliegt.)

In der Mülltonne von Herrn Wirsch explodiert jedes Mal was, wenn er den Deckel aufmacht.

Eine sprechende Katze erschreckt Frau Ermisch fast zu Tode.

Der Apfelbaum von Margarete Müller trägt kandierte Äpfel. (Sie kann kandierte Äpfel nicht ausstehen.)

Die Stadtverwaltung war zwei Tage hintereinander außer Betrieb, weil alle wie Dornröschen geschlafen haben. Auch der Mann vom Bauamt. (Gut!)

Bei jeder Unglaublichkeit, die Jackie vorliest, fühlt Mona ihre Zehen ein wenig mehr prickeln. Das ist doch alles ganz und gar unmöglich! Ihre Stadt, Firleburg an der Anzel, ist einer von diesen Orten, an denen nie etwas Außergewöhnliches geschieht. Friedlich, geordnet und ein bisschen langweilig ist es dort. Sensationen sind was für die Nachrichten von woanders. Und trotzdem haben sie diese Dinge gesehen und aufgeschrieben. Wie kann das sein?

»Mönsch«, sagt Jackie. »Wieso flippen die Erwachsenen eigentlich nicht aus deswegen? Die regen sich sonst über alles auf. Und auf einmal finden sie es normal, dass ein Goldfisch gackernd an ihnen vorbeifliegt?«

Mona kichert und blättert durch die Notizen. »Wo steht denn das mit dem Goldfisch?« Dann fällt ihr etwas auf. »Komisch. Vor zwei Wochen haben wir diese gestreiften Frösche entdeckt. Vorher stehen hier nur Einträge wie ›Billy bekommt in fünf Spielen hintereinander keinen Platzverweis‹, ›Taube brütet auf Jackies Fensterbank‹ und ›Libellen können rückwärtsfliegen‹. Alles ganz harmlos. Erst danach werden die Einträge komplett verrückt.«

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Jackie kratzt sich unter der Mütze am Kopf. »Moment mal! Vor zwei Wochen sagst du? Überleg mal! Was war noch vor zwei Wochen?«

Mona schnippt mit den Fingern. »Da sind auch die schrägen Leute in der Krähenstraße eingezogen, hat Frau Blau gesagt. In die alte Villa. Das kann kein Zufall sein.« Mona knallt das Unglaubliche Notizbuch schwungvoll zu. »Wenn du mich fragst: Die Schrägen haben was mit alldem zu tun.«

Jackie setzt eine Unschuldsmiene auf. »Ich denke«, sagt er und macht eine kunstvolle Pause, »ich denke, wir sollten einfach mal dran vorbeigehen. An der Villa, meine ich. Das wird man ja wohl noch dürfen.«

Vorbeigehen ist nichts Schlimmes, das findet Mona auch. Da soll sich mal keiner anstellen. Sie springt auf. Dann fällt ihr der Brief vom Bauamt wieder ein, der sofort ein flaues Wabern in ihrer Magengrube verursacht. Aber rumsitzen und auf Ideen warten ist nicht Jackies und Monas Ding. Die besten Ideen kommen einem, wenn man etwas tut.

»Etwas ist faul in Firleburg«, stellt Mona fest. »Und wir finden heraus, was. Wer weiß, vielleicht dürfen wir zur Belohnung in unserem Haus wohnen bleiben. Weil wir den Bürgermeister vor seinem tanzenden Gartenschlauch gerettet haben.«

Jackie grinst unternehmungslustig. »Yeah! Das klingt nach einer guten Geschichte.«

Also machen sich Mona und Jackie auf den Weg: Die Hauptstraße hinunter, rechts durch die Kurve, vorbei am Zahnarzt, an der Apotheke, an den alten Backsteinhäusern – und da ist links auch schon die Krähenstraße. Mona dreht sich noch einmal um, nur um sicherzugehen, dass Frau Blau nicht gerade in diesem Moment irgendwo mit den Kleinen auftaucht. Sie will nicht, dass sie sich ihretwegen Sorgen macht. Sie hat ja nicht vor, etwas wirklich Gefährliches zu tun. Nur mal gucken eben. Und herausfinden, was da eigentlich los ist.

Sie biegen ab. Die Krähenstraße ist nicht besonders lang. Auf der einen Seite liegen die Tankstelle vom griesgrämigen alten Rupp und Gernot Goldbergs Gummifabrik. Die musste vor vier Jahren schließen. Dennoch lässt Herr Goldberg das Gelände noch immer von einem übereifrigen Dobermann bewachen. Daneben, ein Stück die Straße runter, erstreckt sich eine vom Unkraut eroberte Brache, in deren Mitte ein riesiger Sandhügel thront, ein Überbleibsel von irgendeinem vergessenen Bauvorhaben. Gegenüber der Gummifabrik befindet sich der Stadtfriedhof und daneben … die alte Villa. Die ist allerdings schon seit vielen Jahren von einem scheußlichen Bretterzaun umgeben, der so hoch ist, dass man auch nicht das Geringste dahinter sehen kann.

Mona und Jackie schlendern unauffällig die Straße hinunter. Noch unauffälliger wären sie allerdings, wenn sich Gernot Goldbergs Dobermann bei ihrem Anblick nicht heiser bellen würde.

»So ’n Mist, ich seh nur Zaun«, sagt Mona enttäuscht, als sie vor der Villa stehen.

Jackie drückt probehalber auf ein paar Holzlatten herum. Erst vorsichtig, dann ein bisschen fester. »Oh, guck mal«, sagt er, »das Brett hier ist lose.«

Eine der Latten lässt sich bewegen und gibt eine Lücke frei. Eine Weile starren die beiden sie wortlos an. Dann kniet Mona sich hin und späht hindurch. Aber außer Gebüsch kann sie immer noch nichts erkennen.

»Da würde ich locker durchpassen«, überlegt sie.

Jackie sieht rechts und links die Straße runter. Der Dobermann hat die Bellerei mittlerweile drangegeben und sich aufs Gefährlich-Rüberschauen verlegt. Es gefällt ihm gar nicht, was diese Kinder da machen!

»Na«, sagt Jackie, »wenn wir schon mal hier sind …«

Mona schlüpft durch die Lücke im Zaun und Jackie folgt ihr, ohne zu zögern. Das Brett schnellt sanft in seine ursprüngliche Position zurück. Sie kriechen vorsichtig um das Gebüsch herum. Dann halten sie es nicht mehr aus und stehen auf, um besser gucken zu können. Vor ihnen liegt ein Garten, wie sie ihn noch nie gesehen haben: Eigenartige Pflanzen mit bunten, vielförmigen Blüten schlängeln sich zwischen wild wuchernden Sträuchern empor. Alles ist dicht und üppig bewachsen, wie ein Dschungel, und doch liegt eine ganz eigene, labyrinthische Ordnung darin. Als hätte sich hier ein ziemlich verrückter Gärtner ausgetobt. Es duftet, schwirrt und zwitschert um sie herum.

»Puh, das ist ja supertoll!«, ruft Mona begeistert.

»Aber echt, das ist mal was anderes als Rasen und Rosen«, bestätigt Jackie.

Mona klettert über die große knorrige Wurzel eines Feigenbaums und sieht sich um. Am Ende des Gartens entdeckt sie die von Kletterpflanzen überwachsene Fassade der alten Villa. Es hat fast den Anschein, als würde das Gebäude nur von dem Grünzeug zusammengehalten, das sich an ihm hochwindet. Vielleicht wären solche Kletterpflanzen ja auch etwas für das Haus der gestrandeten Kinder?, überlegt Mona. Dann würden die Schäden zumindest nicht so auffallen.

»Die Fenster sehen ein bisschen aus wie Augen«, sagt sie leise. »Als würde die Villa uns beobachten.«

Jackie schüttelt energisch den Kopf. »Fang jetzt nicht an, gruseliges Zeug zu erzählen! Dann dreh ich auf der Stelle um. Häuser haben keine Augen.«

Bevor Mona etwas erwidern kann, hören sie Stimmen.

»Achtung, da kommt wer!«, zischt Mona unnötigerweise.

Sie springen gleichzeitig hinter die Feigenbaumwurzel, werfen sich flach auf den Boden und halten den Atem an. Wenigstens mal kurz.

»Wenn sie uns erwischen«, flüstert Mona, »dann sagen wir einfach, unser Meerschweinchen ist hier reingelaufen.«

Jackie möchte auf gar keinen Fall erwischt werden, aber das sagt er lieber nicht, denn die Stimmen sind nun sehr nahe. Sie gehören zwei Männern, die ziemlich aufgebracht klingen. Zum Glück sind sie voll mit sich selbst beschäftigt und bemerken die Kinder nicht, die angestrengt durch das Wurzelgeflecht spähen.

»Wahrhaftig, deine Unbeherrschtheit wird uns noch gänzlich ins Verderben stürzen, Rapos«, knurrt einer der Männer mit mühsam unterdrückter Wut.

»Ich bereue meine Ungeduld, Meister Maravil«, beteuert der andere, dessen lange schwarze Haare vorne in zwei Zöpfe geflochten sind. Er trägt einen knallbunten Poncho und eine randlose Brille, die er nun nervös auf seiner Nasenwurzel zurechtruckelt.

Mona und Jackie sehen sich an. Die beiden reden wie die Schauspieler in diesem komischen Theaterstück, das neulich an Billys Schule aufgeführt wurde! Und sie sehen auch so aus. Immerhin ist jetzt klar, was Frau Blau mit schrägen Leuten meinte.

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»Ich habe ein Haus verwandelt, das gestehe ich – an einem unauffälligen Ort jedoch!«, fährt Rapos, der Mann mit dem Poncho, fort. »Ich hielt es nicht länger aus, untätig zu sein. Begreift doch, ich hatte nur Gutes im Sinn! Die Verwandlung gelang, nun ja … gewissermaßen. Sicher werden wir in dem Haus finden, wonach wir so sehnlich suchen.«

»Wo befindet es sich nunmehrig?«

»Es stieß mich einfach um und floh. Ich war zu benommen, um es zu verfolgen. Dann bin ich sogleich hierher zurückgekehrt, um Euch zu benachrichtigen.«

»Wir müssen es finden«, grollt Meister Maravil. »Womöglich ist es eine Gefahr für das Volk von Firleburg. Und was geschieht, wenn es die Stadt verlässt? Welch Unheil droht, wenn der Geisternde Nebelkurier es vor uns aufspürt! Wir wären verloren.«

Jackie läuft ein Schauer über den Rücken. Er ist für jedes Abenteuer zu haben, aber Geister kann er nicht leiden. Und diesen Nebelkurier möchte er ehrlich nicht treffen, was auch immer der sein mag.

Der Gedanke daran lässt Rapos ebenfalls aufstöhnen. »Mir scheint, verloren sind wir ohnedies. Was tun wir bloß?«

»Es gibt nur einen Weg: Wir machen das abtrünnige Haus ausfindig und erzwingen den Einlass. Ich hoffe inständig, sein Inneres gibt preis, was wir suchen. Hernach verwandeln wir es wieder in seinen ursprünglichen Zustand«, erklärt Meister Maravil.

»Jawohl, Meister«, beeilt Rapos sich zu sagen. »Lasst uns die Getreuen zur Unterstützung holen! Gemeinsam werden wir das Haus überwältigen.«

Die beiden Männer hasten Richtung Villa davon. Nur wenig später zischen sie und ein paar weitere schräge Gestalten auf einer Art fliegender Motorräder – aber ohne Räder – zum Gartentor hinaus, empfangen von empörtem Dobermanngebell. Mona und Jackie kriechen verdattert aus ihrem Versteck.

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»Mönsch!«, sagt Jackie. »Was waren denn das für Typen? Hast du die Dinger gesehen, auf denen sie abgehauen sind? So was gibt’s doch gar nicht! Los, wir müssen einen Sondereintrag im Unglaublichen Notizbuch machen!«

»Keine Zeit!«, erwidert Mona, denn etwas anderes interessiert sie viel mehr. »Haben sie gesagt: ein verwandeltes Haus?«, fragt sie langsam. »Habe ich das richtig verstanden?«

»Ein verwandeltes Haus«, bestätigt Jackie.

»Das weggelaufen ist?«

»Das weggelaufen ist.«

Mona beißt sich auf die Unterlippe. »Das ist unglaublich. Das müssen wir finden.«

Jackie versteht sofort, woher der Wind weht. »Wer weiß, vielleicht könnt ihr ja darin wohnen! Wenn es frei herumläuft, gehört es doch keinem, oder?« Dann fragt er verdutzt: »Wie kann ein Haus überhaupt laufen?«