Impressum

Herbert Friedrich

Der Vogel Eeme

Die Ostindienreise des Holländers Cornelis de Houtman 1595-1597

 

ISBN 978-3-96521-507-8 (E-Book)

 

Umschlaggestaltung: Ernst Franta

 

Das Buch erschien 1980 im Verlag Neues Leben Berlin. Für das E-Book wurde die 4. Auflage von 1989 verwendet.

 

2021 EDITION digital

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Das Buch der Commis

1

Am 2. September 1595, dem Tag, da wir endlich Madagaskar sahen, starb Pieter Claessen, Waffenmeister, und wurde zur gleichen Stunde über Bord geworfen. Item da starb noch unser jüngster Segelmacher zur selben Zeit und wurde über Bord geworfen, Gott sei allen Seelen gnädig. Item den 4., immer vor Madagaskar, starb unser Feuerwerker, genannt Hans van Staaten, und hatte lange gelegen im großen Elend, so dass er krank am Geist geworden war und den ganzen Tag gelacht und geflucht hatte. Und einen Tag bevor er starb, wollte er eine kleine Kanone haben, um damit die Hölle zu stürmen. Item denselben Tag starb unser Küfer Hendrijk van Deuenter und wurde über Bord geworfen vor Madagaskar. Am 13. aber starb Wouter, genannt der Gekappte Aff, und wurde dieselbe Nacht über Bord geworfen. Und am 18. dito starb Jost Worstraeten und ging den Weg in das Wasser. Jan Dittmers starb am 20., und den Tag danach starb Claes Heck, der immer unsere Takelung ausgebessert hatte, und wurde auf einem EILAND vor Madagaskar begraben …

So hatte nach der Entdeckung dieser winzigen madagassischen Insel als Begräbnisplatz mancher den Vorteil, statt in Wasser in Erde zu gelangen, und man nannte sie schon nach der ersten Bestattung den HOLLÄNDISCHEN FRIEDHOF. Die Toten aber kamen von allen vier Schiffen, die sich da zwischen Insel und dem festen Land von Madagaskar bargen, der MAURITIUS, dem Prinzenschiff, und der HOLLANDIA, dem Staatenschiff, der AMSTERDAM, dem Schiff der Stadt, und auch der kleinen Pinasse, dem TÄUBCHEN. Der Skorbut hatte sie hier zusammengefegt zwischen Steinriffen und Klippen, in einer schwülen Feuchte, von der Weite des Ozeans heruntergeholt, auf der sie bestrebt gewesen waren, Indien anzugehen.

In der Nacht zum 21. September starb Issbrant Jacobsen, der Oberzimmermann der HOLLANDIA, von den Ratten schon angefressen, und Tuenis, der Feuerwerker, starb des Morgens, im ersten Flirren des Lichts, also dass beide zugleich über Bord geworfen wurden vor der Insel HOLLÄNDISCHER FRIEDHOF.

Gerrit van Boninghen lehnte an der Reling, ein Würgen im Halse, und sah die Körper versinken, und wenn es Haie hier gäbe, dann hätten sie gute Zeiten. Er verspürte keine Lust, um sich zu blicken, in angststarre Augen, übel riechende Münder zu Fragen sich öffnen zu sehen, auf die er keine Antwort wusste. Er hatte aber nicht davon abgelassen, jeden Toten bis an die Reling zu begleiten. Die letzte Zeit, da nun auch der Schiffer krank lag, hatte er statt seiner Worte des Abschieds mitgegeben für Gott und den langen Weg in die Ewigkeit. Manchmal war ihm, als versänke da auch ein Stück von ihm, und manchmal war er nur wie betäubt; das machte die Schwäche, gegen die auch er nicht gefeit war.

Er war ein Mann Anfang Dreißig, mit offenen, freien Zügen, sehr selbstbewusst und voll Witz, was vor allem die Jungen an Bord schätzten, von denen mancher nicht gedacht hätte, dass gerade Boninghen ihn von dieser Welt verabschieden würde. Der Seewind blies in sein volles Haupthaar, das die Ohren bedeckte und wie der Bart weich und von brauner Tönung war. Er fuhr als Commis der HOLLANDIA, war also neben den Commis der anderen Schiffe einer der vier mächtigen Männer der Flotte, die Leinwand, Sammet, flämische Tuche nach Indien zu bringen hofften, um sie zu verwandeln in Näglein und Pfeffer und Muskat. Sunda Calapa war das Ziel, Java mithin, was vorher wohl Portugiesen und Spanier erreicht hatten, NIE dagegen holländische Schiffe.

Also stand die kleine Flotte vor der einzigartigen Aufgabe, für Amsterdam den Weg zum Pfeffer zu erschließen, Spaniern und Portugiesen zum Trotz. Die Stadt an der Amstel, von der sie ausgefahren waren, hatte es sich etwas kosten lassen. Ja, sie hatte ein Übriges getan, hatte ein zweites Eisen ins Feuer gelegt: Zur selben Zeit wie diese vier Schiffe hatte sie die Herren Barents und Nay mit sieben weiteren seetüchtigen Kähnen ausgeschickt, ebenfalls nach Indien, aber im Norden von Asien, auf dem Weg durch das Eis! Indien war reif für Holland, es musste endlich fallen.

Aber nun war diesen vier Schiffen südlich des Äquators die Reise versackt. Der Skorbut, der schaurige Passagier, hatte die Mannschaft dezimiert. Die Schiffe starben aus. Das nächstliegende Ziel war, nicht Meilen nach Java hinter sich zu bringen, sondern Versorgungsplätze zu suchen, frische Nahrung herbeizuschaffen, damit Schwellungen zurückgingen, Blutungen aufhörten, Zähne sich festigten und von jenen, die die Krankheit überstanden, die gedrückte Stimmung wich.

Seit dem letzten Ankern waren sie vierhundertdreißig Meilen gesegelt, und nun bei Madagaskar hatten sie mehrmals versucht, die Südspitze zu umrunden, hatten keine Bai gefunden, keinen Fluss, nur allein hier endlich den guten Ankergrund am HOLLÄNDISCHEN FRIEDHOF, eine halbe Meile vom Wall.

Es gab keinen Zweifel: Die kleine Flotte war übel daran. Wer hier Verantwortung zu tragen hatte, war keinesfalls zu beneiden. Nur einen einzigen Mann aber wusste Boninghen über sich in der gesamten Flotte: den Obercommis Cornelis de Houtman auf der MAURITIUS, als dessen Vertreter er galt.

Boninghen spie über die Reling; er dachte an den langen Weg von Amsterdam bis eben zu diesem HOLLÄNDISCHEN FRIEDHOF, und der Weg nach Java war noch weit und der Weg nach Hause wie in den Sternen.

Er steckte voll einer trägen Müdigkeit, die vielleicht auch schon Anzeichen des Skorbuts war, und hatte immer vor, in seine Kajüte zu steigen, um das vom vielen Sterben niederzuschreiben. Er konnte sich aber nicht aufraffen. Das Schiff schaukelte in der leichten Dünung und das Kabel, mit dem der Anker es hielt, knarrte.

„Commis“, sprach da einer hinter ihm, und als er sich umwandte, war es der junge Eemskerck, einer der zahlreichen Aspiranten. „Commis“, sagte Eemskerck in seiner raschen Art, „Herr Heynck ist gekommen, er möchte Sie sprechen.“

Boninghen blickte kurz auf. Barent Heynck, Commis der MAURITIUS, Sekretär der Flotte und rechte Hand Houtmans, kam auf die HOLLANDIA, kaum aber deshalb, um die Zahl der Gestorbenen zu erfragen! Da schob er sich vom Schanzkleid ab und legte Eemskerck die Hand auf die Schulter. Na, gehen wir, Aspirant, mal sehen, was der Heynck will.

Heyncks Boot, das ihn herübergebracht hatte, lag auf der anderen Seite der HOLLANDIA, so dass Boninghen es nicht hatte kommen sehen. Der Ankömmling saß bereits auf der Treppe zum Halbdeck, ein Barett in die Stirn gezogen gegen die viele Sonne. Er blieb sitzen, als Boninghen hinzutrat; auch die Hand streckte er nicht aus.

Heynck, was ist aus uns geworden! In Amsterdam standen wir besser zueinander, als wir noch genug Wein hatten, kredenzt von schönen Frauen. Einmal hatte der Heynck seine eigene Freundin beim Würfelspiel gesetzt, eine kleine Schwarze war das gewesen, zur Zeit, da Sarah schon krank lag. Und Boninghen hatte gewürfelt und – verloren! Gelächter. Wer weiß, was sonst geworden wäre mit dieser Kleinen … Wir hatten ’ne Menge zu lachen, Heynck. Hin ist hin.

Da hockte nun dieser Barent Heynck übellaunig und maulte heraus, dass der Generalschiffsrat beschlossen habe, das kleinste Schiff, TÄUBCHEN, auf die Suche nach Frischwasser auszuschicken. Denn der Karte nach lägen sie nicht weit von einem Fluss.

Boninghen musterte den Gleichaltrigen, Gleichrangigen, sah eine kräftige, schief gezogene Nase, vorgeschobene Unterlippe, einen festen Mund, der nun von sich gab, was längst bekannt war.

Er unterbrach Heynck nicht, der alles wohlgesetzt erläuterte. Dann kam es so, wie er erwartet hatte: Auch zu neuem gelangte Heynck endlich, denn wegen Zeug, was die Tauben schon vom Dach gurrten, hatte Houtman ihn nicht hergeschickt. Barent Heynck sagte sehr förmlich: „Sie, Herr van Boninghen, haben sich an Bord der Pinasse zu begeben und werden sie auf ihrer Fahrt begleiten.“

Es gelang Boninghen, seine Überraschung zu verbergen, während Heynck ihn fixierte. Dann sagte er etwas, was er sofort als töricht empfand. „Ich werde es mir überlegen.“

Heynck lächelte nur daraufhin, es zog seinen Mund schief. „Das ist ein Befehl!“

Boninghens schmale dunkle Augen blieben kühl; er merkte aber, dass sein Herz schneller schlug. Ein Befehl. Da wurde ihm befohlen, nicht mit der Pinasse zu gehen; sondern die HOLLANDIA zu verlassen! Jetzt, jetzt die HOLLANDIA zu verlassen!

Das hörte er als erstes heraus. Das konnten sie nicht ernstlich wollen! Fordernd streckte er die Hand aus. Da griff sich Heynck wirklich unters Wams und zog ein Papier heraus. Und Eemskerck stand immer dabei.

Mit erzwungener Gleichmut nahm Boninghen das Schreiben an sich. Er hatte Mühe, seine Zunge zu zähmen, Spott über Heynck zu gießen. Pack die Würfel aus! Knobeln wir, wer mitfährt? „Ich werde dem Schreiben meine Achtung nicht versagen“, brachte er herb hervor und ging davon, um sich nicht noch mehr zum Narren machen zu lassen.

Eemskerck, der immer noch herumstand, trat ungelenk einen Schritt zurück, als Boninghen so plötzlich enteilte. Heynck rief noch: „Halten Sie sich bereit. Die Pinasse fährt heute Mittag!“ Da riss Boninghen schon die Tür zu den Heckbauten auf.

Dann stand der Commis in seiner Kajüte. Vier Wände, eine davon mit Fenster zur Galerie. Eine Tür dahinter, wenn man frische Luft schnappen wollte. Aber wo hatte man die … Balken und Schnitzwerk; der Tisch im Fußboden verankert, die Bank dahinter fest eingebaut. Die Hitze hier war enorm, schon am Morgen, und über diesem Raum streckte sich die „Hütte“, in der der Schiffer krank lag.

Boninghen überflog das ärmliche Geviert, das ihm bereits ein halbes Jahr Zuhause war. Ein wenig Kram. Ein bisschen Wäsche in der Truhe, Kleidung zum Wechseln. Er hatte sich immer gut gekleidet, da in Emden oder in Amsterdam. Er war den schönen Dingen des Lebens nie abhold gewesen. Geselligkeit, ein paar Leute zusammen, je mehr, desto besser, und einen Becher auf dem Tisch und eine Flasche, mit Heynck oder ohne, und dann ein Witzwort, dass das Lachen die Seele freischwemmt.

Er schob sich auf die Bank, das Papier ungelesen in der Hand. Er hatte das ungute Gefühl, dass er hier verluderte. Er mied schon die Menschen. Verkroch sich vor Heynck! Jeden Tag hatte er eine Grabrede zu halten. Und er hätte Heynck fragen sollen, wie viel in der Nacht auf der MAURITIUS gestorben waren …

Er griff nach einem Krug; das bisschen Wein darin war warm; er hatte auch das Gefühl, dass ein Insekt darin herumzappelte, trank aber gierig. Resolut öffnete er dann das Schreiben. In Heyncks schnörkliger, wohlbekannter Handschrift stand da, dass der Generalschiffsrat beschlossen habe, die Pinasse nach Wasser und Frischkost auszuschicken, und es für gut befand, von jedem der Schiffe einen Mann mitzusenden, von der HOLLANDIA „also Sie, ehrenwerter Herr Boninghen“. Das alles klang bedeutend höflicher, als es Heynck vorgebracht hatte. Hätte Heynck nur das Schreiben vorgestreckt und sein Maul gehalten, dann wäre es wohl zu ertragen gewesen. Was Boninghen jedoch vor allem verstimmte, war dieser Zusatz in dem Befehl, ihn, Boninghen betreffend. Natürlich hatte er an jenem Schiffsrat teilgenommen. Von letzterem aber war nie die Rede gewesen!

Unterzeichnet hatte das Schreiben Houtman, das H mächtig aufgeputzt, den ganzen Schriftzug unterstrichen mit einer fünffachen ellipsenförmigen Spirale, so dass er wie auf einem Kissen ruhte, als solle dies die Wichtigkeit des Briefes unterstreichen.

Boninghen saß auf der harten Bank, die Hand auf dem Dokument, und schaute zum Fenster, hinter dem er die Palmwipfel der Insel HOLLÄNDISCHER FRIEDHOF erkannte. Man schickte ihn also fort …

Eine Zeit saß er so, Amsterdam im Sinne und Emden und den Heynck und dass sie ihn auf eine feine Art vom Schiff weghaben wollten. Zum Fenster schaute er, zur Decke. Nach einer ganzen Weile stand er auf, zwängte sich zwischen Tisch und Bank heraus und verließ die Kajüte. Der Ruderraum lag leer. Am Besanmast vorbei, der hier durchstieß, gelangte er zur Treppe, die er müde zum Heck hinanstieg. Die Luft im Freien aber war nicht besser.

Vor der Tür zur „Hütte“ saß Kackerlack, der Untersteuermann, auch im Sitzen noch ein Kerl wie ein Baum, mit einem Mund, der seiner Fresslust angepasst zu sein schien. Na, Kackerlack Breitmaul, viel zu beißen hast du auch nicht mehr.

Kackerlack hatte den Hund bei sich, einen struppigen kleinen Amsterdamer Straßenköter, der Borrel hieß, Schnaps also, und von dem man kaum noch wusste, wer ihn mit an Bord gebracht hatte. Ein Höherer mit Sicherheit, der die Erlaubnis dazu hatte, ein Verstorbener auf jeden Fall, wahrscheinlich der Erste Feuerwerker. Das Tier schnüffelte an Boninghen herum, und es war ein Wunder, dass es noch lebte, noch nicht an Pökelfleisch vergangen oder als Fleisch im Topf gelandet war. Zwei Wunder also Schon, viel hatte dieser Schnaps-Borrel auch nicht auf den Flanken. Die längste Zeit aber hatte ihn ein Bootsmann betreut, der hieß Foppe, bewacht vor Messern, beschützt vor Tritten. Da stand nun Boninghen vor des Schiffers Tür, sah den sehr lebendigen Hund, da fiel ihm auch Foppe ein. Nun hätte er Kackerlack fragen können, wie es Foppe ging. Dem Mann in Ketten.

Er deutete aber mit einer Kopfbewegung zur „Hütte“. „Was macht er?“ Kackerlack hob nur resignierend die Hand und ließ sie wieder fallen.

Da stieß Boninghen die Tür zur „Hütte“ auf. Er musste blinzeln, denn die schrägen Fenster waren zugehangen. Wenn er in Amsterdam solchen Gestank hätte ertragen müssen, er hätte sich übergeben.

Der Kranke lag auf der Koje. Irgendwelche Mixtur stand auf dem Tisch, mit dem die Barbiere dem Schiffer zu helfen gedachten. Frischkost her und Wasser, dann war alles gelaufen!

„Du, Gerrit?“, fragte der Schiffer mühsam, und Boninghen wusste nicht, wann Dignums ihn jemals mit dem Vornamen angeredet hätte. Ja, so ist das, Jan Dignums; der Tod macht zu Freunden, bleib mal liegen, bleib liegen … Dignums schob eine Hand herüber, die sich heiß anfühlte und auch jetzt noch hornig war, da ihm langsam der Tod das Ruder abnahm. Als sich Boninghens Auge an das Dämmerlicht gewöhnt hatte, sah er, was der Skorbut in kurzer Zeit aus einem robusten, stattlichen Mann gemacht hatte. Er suchte sich Platz zum Setzen.

Mit Jan Dignums hatte Boninghen nicht gerade den besten Faden gesponnen. War etwas mit der Schiffsführung zu regeln gewesen, hatte er sich lieber an den Obersteuermann Keyser gehalten, der aus Emden stammte wie er. Das verband irgendwie, dieses elende kleine Nest, das er so rasch verlassen hatte.

„Was war das für ein Schießen heut Nacht?“, wollte der Schiffer wissen.

Das war kein Schießen heut Nacht, sondern gestern am Nachmittag. Aber in deiner Hütte, Dignums, ist immer Nacht, du hast das Gefühl für die Zeit verloren. Und bald kommt die Nacht über dich.

Waren sechs Mann an Land, Dignums, haben sich geteilt in zwei Gruppen, liefen mit einem Kompass durch den Busch, um Süßwasser zu finden. Aber warum willst du das wissen? Das ist nicht mehr deines Amtes, Todbruder. Boninghen blieb karg und dachte an die vergeblichen und vielfältigen Bemühungen, Kontakt zu den Einheimischen zu bekommen, den Schwarzen, den Wilden, den wilden Schwarzen, die doch wissen mussten, wo es WASSER gab, und die, frei von Skorbut, von Stockfisch und Zwieback und Pökelfleisch, schmackhafte Früchte kannten! Ein mühseliges Unterfangen, armseliges Suchen, Scheu auf beiden Seiten, Wachsamkeit und Sparsamkeit. Eine Gruppe war nachts überfallen und nackt ausgezogen worden. Ratzekahl alles weg. Auch die Waffen.

Aber das sind doch nicht mehr deine Sorgen, Dignums. Die Pinasse muss fahren, muss erkunden, ob sie den Fluss findet, den uns die Karte zeigt! Hier gibt es nur Steine am Strand und an den Kopf, und das Wasser ist brackig.

„Aber die Schüsse, Gerrit?“

„Die Schüsse, Dignums, das waren freilich keine Steine. Zwei Boote von uns und elf Boote Schwarzer, da wird man nervös. Wasser hier und undurchdringlicher Busch da, voller Meerkatzen und Papageien und wer weiß was auf der Lauer. Geschrei und Speere. Da geht schon mal ein Gewehr los, Dignums.“

„Tote?“

„Ein Schwarzer, in den Kopf getroffen. Keiner von uns.“ Von den anderen Toten aber, denen man Grabreden gehalten hatte, das verschloss man besser in sich, der von den Ratten angefressene Oberzimmermann in der Nacht und der Feuerwerker des Morgens, und nun schon in der See, und zwanzig seit der Abfahrt und wie viele noch. Und bald du, Schiffer.

Dignums lächelte aus seinem ausgezehrten Gesicht, zufrieden, dass keiner von ihnen dort an Land gestorben war. Und er hörte auf Borrels Gekläff vor der Tür. Und dann fing er von Utrecht an, was ihn schier wieder zum Kinde machte, dort war er nämlich geboren. Da hatte Boninghen genug gehört und gesehen und konnte gehen, mit dem Befehl in der Tasche, der ihn wegrief von diesem Schiff und seinem sterbenden Schiffer.

Es schien ihm, als dünsteten die Balken der „Hütte“ die Krankheit aus, und der Befehl, dieses Schiff zu verlassen und mit der Pinasse zu fahren, brannte ihn. Als er draußen wieder bei Kackerlack stand, kam ihm die Luft direkt frisch vor.

 

So ging Boninghen durch sein Schiff, an diesem Septembermorgen, an dem er schon zwei Grabreden gehalten und einen Befehl empfangen hatte. Ein mächtiges Schiff, ein stolzes Schiff, HOLLANDIA oder DER HOLLÄNDISCHE LÖWE genannt. Ein Löwe, dem die Zähne ausfielen. Zweihundertdreißig Lasten groß. Das war ebenso viel, wie die MAURITIUS hatte. Das waren hundert mehr als die AMSTERDAM und zweihundert mehr als die Pinasse TÄUBCHEN, an die er nun nicht mehr denken mochte. Bei diesem Gang sah er die Besatzung, Amsterdamer und Leute aus Harlem, das gesamte liebe Holland war vertreten; Bootsleute, Bottelier, Barbier, Zahnlose, Schwache, welche mit sonnenverbrannter Haut. Mancher hockte da, wo Schatten war, froh, dass er selber noch Schatten warf. Und einer hockte da, wo nie Licht hinkam.

Als Boninghen bei diesem anlangte, war er durch sein ganzes Schiff gestiegen, vom kranken Schiffer Dignums im höchsten Aufbau am Heck bis hin zu Foppe Pieters im tiefen Kämmerchen am Bug, wo Sprietbaum und Fockmast verankert waren und Tag und Luft sich nur zu den Ankerklüsen hereinfädelten. Die Ketten klirrten, als sich dieses graue Bündel Foppe in seiner Dämmerung bewegte. „Vizeadmiral, Sie …“, sagte Foppe mit heiserer, brüchiger Stimme, als er Boninghen erkannte.

Der Commis lächelte ein wenig bitter in diese heiße Dämmerung hinein, als er den Titel vernahm, den er im Grunde verdiente. Er stützte sich mit der Hand an einem Balken ab, aufrecht konnte er nicht stehen.

„Was hat der Schiffsrat beschlossen …?“, fragte Foppe hastig.

Dass ich auf unbestimmte Zeit die HOLLANDIA verlassen soll, hätte Boninghen nun sagen können. Das hätte den Bootsmann Foppe aber kaum interessiert.

„Hast du zu essen …?“, fragte er dagegen.

Der Gekettete stöhnte; dann bekam Boninghen mit, dass der Mann schluchzte. „Ich verreck hier, ich verfaul bei lebendigem Leibe!“, brüllte Foppe plötzlich und wimmerte dann weiter. Das aber hatte nicht der Skorbut gemacht. „Ich helf dir, Foppe“, versprach Boninghen wider besseres Wissen. Nie konnte er etwas für den Geketteten tun, wenn er mit der Pinasse davonführe. Nun iss doch, Foppe, ehe alles die Ratten holen …

„Das Land macht mich fertig“, klagte Foppe leise. „Ich hab das nicht gewollt … Ich weiß nicht, was in mir gesteckt hat …“ Das Land, die Hitze, die Fahrt, das ewige Wasser, ade Amsterdam, Kanaren und Kapverden, Stürme und Stillen, der Äquator und schließlich ein Kap, an dem es nichts zu hoffen gab … Der erste Tote, und immer die Hitze, Wale und Hitze, Monate Hitze und Wasser und kein Land, und als endlich Land kam, da war es Hitze!

Du bist über das Schiff gelaufen, Foppe Pieters, und hast jeden niedergeschmissen, der an dir vorbeikam, worauf du in Eisen gelegt wurdest; da hast du deine Schlösser in Stücke geschlagen. Als das Bier etwas dick war, hast du zum Schiffer gesagt, dies Bier soll er den Schweinen geben. Gebt uns anderes Bier, oder es soll da ans Reißen und Brechen gehen. Die Commis hast du allesamt als Betrüger und Schelme gescholten, also auch mich, Foppe, und jetzt winselst du: „Vizeadmiral“. Und eines. Abends bist du nach der Wache bei dem Schiffer, der jetzt krank liegt, eingedrungen und hast gebrüllt: Schiffer, soll ich kein Bier haben, so will ich, dass der Teufel hier durchfliegt, und der Teufel hol den Bottelier und alle, die ihn lieb haben. Es ist auch offenbar, dass du versucht hast, einige Leute an die Hand zu kriegen, um mit der Pinasse davonzulaufen und damit als Freibeuter zu fahren. So hast du den Feuerwerker Huybrecht daraufhin angesprochen und verlangt, dass Schießpulver in die Kammer käme. Und so wie du hier randaliert hast, so war es Koelken auf der MAURITIUS, mit dem du dich zusammentun wolltest. Und dieser dein Spießgeselle hat gelobt, dich aus dem Eisen zu holen, in dem du endlich saßest, bis er selber im Eisen lag. Und du sprichst von der Hitze …

Der Mann, den Boninghen sich anschauen gegangen war nach dem kranken Dignums, lag zu Recht in Fesseln und Dreck, und doch, es schauerte ihn, ein lebendiges Wesen so zugerichtet zu sehen.

Foppe redete noch immer, ohne dass Boninghen verstanden hätte, was da unablässig aus diesem Mund kam, den er nur ahnen konnte. Foppe versuchte auch, nach ihm zu greifen; die Ketten aber ließen das nicht zu. Da fragte sich der Commis Boninghen, was er überhaupt hier gesucht hatte bei diesem gestraften Mann Foppe, den die Tropen erstickten. Armseliges Geschöpf. Auswurf der HOLLANDIA. Reuiger unter den Sündern.

„Lebt der Hund noch?“, wollte Foppe wissen. Der Commis bejahte unwillig. Borrel verging nicht, letzte Kreatur auf dem Schiff, die Ratten jagte und das Deck bei Laune hielt. Es war erstaunlich fürwahr, dass sich ein Mann wie Foppe an diesen Köter gehängt hatte.

Boninghen wollte schon gehen, da hörte er dumpfes Poltern, jemand kam da heran. Er zog die Hand vom Balken, die nun wie ausgerenkt war, und versuchte, das Kreuz geradezudrücken; in der Enge misslang es.

Schon zog sich die Tür des Verschlags auf, und ein Lichtschein fuhr über die. Wandung. Boninghen schaute auf Foppe, dessen bleiches narbiges Gesicht sich nun heraushob. Es war völlig unsinnig gewesen, zu Foppe zu gehen und sich dabei auch noch entdecken zu lassen. Einen Mann anzuschauen, der AUCH gegen Befehle verstoßen hatte …!

Jener, der ankam, war nun schon hinter Boninghen, auf der anderen Seite des Sprietbaums; ein erstauntes „Hehe!“, und als der Commis sich umwandte, ein nicht minder verwundertes „Herr van Boninghen?“

Der Commis in seiner Erleichterung atmete hörbar aus, lachte. Obersteuermann Keyser, hättest ruhig du sagen können hier bei Foppe; wir sind doch beide von Emden …

„Schlägt er Lärm?“, wollte Keyser wissen und richtete die Laterne auf Foppe.

„Nein, nein …“

Foppe aber fragte begierig: „Was wird mit mir …?“

„Schlimmstenfalls die Rah, und bestenfalls schicken sie dich in die Want, Segel zu bedienen. Dass der Tod umgeht auf den Schiffen, dass andere sterben, das mag dich retten. Jede Hand wird jetzt gebraucht.“

„Wollt ihr mich hier quälen“, zischte der Gefangene, „so setzt mich lieber an Land. Ich bin lieber bei den Wilden, als hier gequält zu werden.“

Boninghen wandte sich ab und zog Keyser mit. „Gebt mir wenigstens den Hund!“, kreischte Foppe in seinem Verlies.

Sie schritten über das Deck, wo die Artillerie stand und das Holz vor Hitze roch, vorbei am Rauchabzug der Küche und an der Pumpe. Das Klickern des Wassers hinter der Bordwand versprach täuschend Kühlung. Boninghen führte Keyser stracks in seine Kajüte.

Der Obersteuermann Keyser war ein ruhiger Mann, wortkarg, der nicht viel hermachte, den Sinn auf Praktisches gerichtet. Er folgte Boninghen auch jetzt, ohne zu fragen, das war Boninghen lieb. Keyser setzte sich ohne Umstände auf die Bank, während Boninghen an der Tür zur Galerie stehenblieb.

„Houtman hat einen Befehl herausgegeben“, begann Boninghen leise, „der mich zwingt, mit der Pinasse auf Suche nach Frischwasser zu gehen.“

„Das ist höchst nötig.“ Keyser zeigte keinerlei Verwunderung.

„Verstehen Sie nicht, ich werde zehn, zwölf Tage vom Schiff fern sein!“

Keysers Augen blickten merkwürdig starr. Er schien Boninghens Worte gar nicht aufgenommen zu haben. Schließlich sagte er: „Dass Houtman Sie mitschickt, zeigt doch nur, welche Bedeutung er dem Aussenden der Pinasse beimisst.“

„Glauben Sie?“ Es enttäuschte Boninghen. „Wie viel Tage geben Sie noch dem Schiffer?“

„Je, nun“, Keyser hob die Schultern, „wir stehen alle in Gottes Hand.“

Da war freilich zu merken, dass nicht Foppe, nicht die gedrückte, undisziplinierte Stimmung der Mannschaft Keysers Hauptsorge war, sondern Dignums’ Sterben.

Jetzt brach eine Zeit an, in der man auf der Hut sein musste. Es drängte Boninghen, sich alles von der Leber zu reden. Freund, so wie dein Alter und der meine zusammengehalten haben, da in Emden, so muss jeder von uns beiden auf den anderen bauen.

Gewiss wäre es schön, zu denken, dass alles, was die Pinasse betraf, Hirngespinst sei, Einbildung, Fantasie, und Keyser hätte recht, Houtman schicke ihn wirklich nur aus, damit bei der verdammt wichtigen Fahrt der Pinasse auch alles klarginge …

Boninghens Misstrauen jedoch war geweckt. Der Argwohn riecht den Braten, ehe das Kalb gestochen ist. Dieser Houtman wusste ebenfalls sehr wohl, dass Dignums keine fünf Tage mehr zu leben hatte. Was dann? Boninghen wäre fern auf der Pinasse und das Schiff ohne Führung, und der Generalschiffsrat setzte mir nichts, dir nichts einen neuen Schiffer ein!

„Houtman wird uns überfahren, Keyser.“

Kurzerhand schenkte er Wein ein; Keyser trank, als habe er nur darauf gewartet. Der Mund war ewig trocken.

„SIE haben doch den gewissen Brief aus Amsterdam, nicht Houtman …“, erwiderte der Obersteuermann. Keyser, du kannst gut trösten.

Freilich hatte er ein Schreiben der Reeder, wer zum neuen Schiffer auf der HOLLANDIA bestimmt werde, wenn der alte zu Tode käme … Da lag es in der Schublade, das Siegel noch unberührt, denn Dignums lebte ja noch.

„Also kann ich wohl ruhig mit der Pinasse abfahren, Keyser, da doch niemand anders als ich berechtigt ist, dieses Schreiben zu öffnen?“ Boninghen lachte. „Es ist da sehr fraglich, ob Houtman nicht doch an das Siegel geht!“

„Nehmen Sie den Brief mit auf die Pinasse. Rücken Sie ihn Houtman aus den Zähnen!“

Boninghen winkte ab. „Da kennen Sie Houtman schlecht.“

Genug Sitzungen im Schiffsrat während des letzten halben Jahres hatten gezeigt, dass die Führung der HOLLANDIA dem Houtman nicht gerade angenehm war. Selbst der Dignums nicht! Dieser Houtman wird sich nie darum scheren, dass es da ein versiegeltes Schreiben gibt!

„Guter Keyser, ich werde wiederkommen mit der Pinasse und Frischwasser haben und Früchte, deren Namen kein Holländer weiß, die aber die Zähne festigen und die Muskeln straffen und den Tod von den Schiffen scheuchen. Mit Erfolg füglich. Und stehe vor einem neuen Schiffer! Das wird kaum einer sein, der uns in den Streifen passt!“

Boninghen kniff die schmalen Augen zu. „Es kann noch schlimmer kommen, Pieter Keyser. Dignums liegt auf den Tod, und mancher hier liegt gerade so. Und die letzten Zahlen sind bis zum heutigen Tag: dreiunddreißig Tote von den vierundachtzig, die ausgefahren sind auf der MAURITIUS, fünfundzwanzig verreckt von den fünfundachtzig einst so gesunden Männern der HOLLANDIA! Und wie steht es auf den beiden anderen Schiffen?“

Keyser saß, den Kopf in beide Hände gestützt. Dieses schwache, zerbrechliche Holz, das sie in die Wildnis getragen hatte. Diese schwimmenden Särge.

Wer rechnen konnte, der fand, dass bis jetzt also eine komplette Schiffsbesatzung gestorben war. Wenn nun auch noch der erste Schiffer krepierte, was lag dann wohl am nächsten? Nicht dass da nach einem Brief mit Siegel und einem neuen Schiffer gefragt wurde, sondern dass nun nach einer Schiffsbesatzung samt Schiffer wohl endlich auch ein SCHIFF daran zu glauben hätte!

Boninghen konnte sich nicht helfen, er hatte das verdammte Gefühl, dass, wenn er jetzt die HOLLANDIA verließe und der Schiffer stürbe und das Schiff folglich ohne Führung wäre, ja, dass dann Houtman die Gelegenheit ergriffe, ebendieses Schiff aus der Flotte zu streichen. Abzutakeln. Zu verbrennen! Sein Schiff, sein Amt, seine Leistung. Er atmete schwer. Seit Stunden, seit er diesen unseligen, harmlos erscheinenden Befehl erhalten hatte, wusste er sich keinen Rat.

„Andere Seefahrer haben diese Küste beschrieben“, sagte Boninghen mehr zu sich als zu Keyser. „Einige Meilen nordwärts am festen Land Afrika liegt das reiche Melinde, wo Vasco da Gama war, und es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn wir dort nicht genügend Leute an Bord bekämen, die Toten zu ersetzen …“

Boninghen aber sprach so leise, dass Keyser es kaum verstand. Und dass Boninghen schon jetzt gewillt war, Houtmans Befehl, die Pinasse zu besteigen, NICHT zu befolgen, das sagte er selbst Keyser nicht.

2

Die Pinasse fuhr ab. Ohne Boninghen. Der Tag war heiß, und ein Gewitter braute sich zusammen; laut rauschte die Brandung herüber zu den Schiffen. Die Leute auf der Pinasse hofften, vor dem Wetter noch ein gut Stück wegzukommen. Das kleine Schiff schlug einen Bogen zwischen dem Steinriff und dem HOLLÄNDISCHEN FRIEDHOF und hatte bereits volle Segel gesetzt, als es hinter einem Haken den Blicken der Zurückbleibenden entschwand. Von allen Schiffen schauten sie hinterher, denn welche Hoffnung schwamm mit der Pinasse. Wer nur irgend kriechen konnte, hatte sich an Deck begeben, hängte gute Wünsche an die Flügel des TÄUBCHENS, die eigene Schwäche verfluchend.

Einer verzichtete darauf, diese Ausfahrt zu verfolgen: Gerrit van Boninghen. Er hatte das Boot weggeschickt, das ihn auf die Pinasse bringen sollte, und drei Zeilen für Houtman geschrieben, er sei unabkömmlich auf dem Schiff. Bis zuletzt hatte er gezögert, was er tun werde. Als nun die Pinasse fuhr, war es entschieden.

Nun saß er wieder in seiner Kajüte, allein, wie in letzter Zeit so oft. Gern hätte er Eemskerck dagehabt, diesen ungelenken Burschen, oder auch Biesman und Huydecoper, seine Cousins, die hier als Aspiranten mitfuhren. Ja, er konnte sagen, dass er unter den Aspiranten beliebt war. Er vermied es, essen zu gehen, weil er in der Kajütenback mit Sicherheit Houtmans Bruder getroffen hätte, der ebenfalls Aspirant war. Die Aspiranten, die Jugend an Bord, die Söhne reicher Reeder und Kaufleute … Jeder, der irgendwie Geld für diese Reise gegeben und einen Ballen Tuch auf den Schiffen untergebracht hatte, schickte ein Söhnchen mit nach dem indischen Archipel, damit es den Handel erlerne. Damit es gleichsam aufpasse gerade auf diesen eigenen Stoffballen und Fäden in Indien anknüpfe. Vierundzwanzig Aspiranten reisten in der Gesamtflotte mit, neun davon auf der HOLLANDIA. Und nur einen einzigen wohl wusste Boninghen nicht hinter sich: Frederick, den Bruder Houtmans.

Er stellte sich diesen Obercommis Houtman vor, während draußen endlich das Unwetter losbrach und sich mit dem Tosen der Brandung vermischte, während die Pinasse längst hinter dem Haken war und ihnen verloren schien für alle Ewigkeit. Houtman, wie er jetzt Boninghens schnell hingeworfenes Schreiben las, massig im Sessel, mit gerunzelter Stirn, das von dem „Unabkömmlichsein auf dem Schiff“ bis hin zu dem Schluss: „Bleibe ich Euer wohlwollender Mitbruder …“

Boninghen konnte nicht sagen, dass er sich gern mit dem Obercommis anlegte. Er hätte lieber Frieden gehalten.

Er konnte aber auch nicht sagen, dass er zu Amsterdam nicht gewarnt worden wäre, von einem Mann, der es wissen musste, einem Freund, mit dem er genug gebechert hatte im Haus am Rokin, der sogar Sarah noch zum Lachen gebracht hatte durch seinen Witz, ein Auge auf Lijsbeth geworfen, die Haushälterin. Gern gesehen hatte Boninghen den Gleichaltrigen, der etwas zu erzählen wusste. Und das war Linschoten. In Vorbereitung dieser Reise war Linschoten oft genug mit Houtman zusammengetroffen, und sein Urteil über den, der dann zum Befehlshaber ernannt worden war: ein Bulleback. Treffend. Ein ungehobelter Kerl. Einer, der sich in seine Vorstellungen verbiss. Dem man nicht mit Vernunft beikommen konnte. Nein, mit diesem Bulleback Houtman hatte Linschoten nicht auf Reisen gehen wollen, obwohl kein anderer als er prädestiniert gewesen wäre, als erster Holländer nach Indien zu gelangen. Linschoten als Befehlshaber dieser Flotte, das wäre das Rechte geworden!

Boninghen verlor sich in Gedanken an seinen Freund Linschoten. Dieser Jan Huygen war, begierig, fremde Länder zu sehen, sechzehnjährig zu zwei Brüdern nach Spanien gegangen, die dort Handel trieben, gleicher Start wie Boninghen also, hatte dann im Hause eines Kaufmanns zu Lissabon gewohnt – Houtmans Stadt – und war im Gefolge des Erzbischofs von Goa nach Indien gereist. Weiter als Boninghen und Houtman zusammen. In Goa hatte Linschoten bei diesem Kirchenmann sechs volle Jahre zugebracht. Sechs Jahre Indien, das stelle man sich vor! Welche Gelegenheit, das Land zu ergründen! Alles zu erfahren, Sitten und Bräuche, brauchbare Früchte, Tiere, Edelsteine, Tod und Teufel! Auf der Rückreise dann hatte es ihn noch zwei Jahre auf den Azoren festgehalten. Es gab keine Frage: Linschoten war der Holländer, der um die indischen Dinge am besten Bescheid wusste! Von seinen Kenntnissen erzählte er nicht nur den Frauen im Haus am Rokin. Er schrieb sie auf. Sein Werk jedoch wurde in Amsterdam unveröffentlicht zurückgehalten, damit sich keiner Appetit auf Indien hole, bevor eine holländische Flotte dorthin aufgebrochen war. Houtman war von der Art, dass Linschoten dankend darauf verzichtete, sich an Bord zu begeben und diesem Bulleback zu unterstellen. Gekränkt hatte es Houtman, als er erfuhr, wie Linschoten über ihn dachte. Und er wusste, Boninghen war mit diesem Mann befreundet. Und er war sich im Klaren, die Flotte kam nicht ohne das Buch dieses Mannes aus, ohne dessen schriftlich niedergelegtes Wissen also. Was da noch unveröffentlicht war – die Schiffe hatten es an Bord! Handschriftlich ging das ITINERARIUM des Linschoten mit auf die Reise. Sein Buch war der Schlüssel, der den Zugang zu Indien aufschließen sollte. Und Houtman war gezwungen, diesen Schlüssel zu benützen, den eines Mannes, der ihn verachtete. Dieser Linschoten hatte mit scharfem Blick die Fäulnis im portugiesischen Reich gesehen und erkannt, dass ein unternehmender Mitbewerber alle Chancen hatte, ein Stück von Portugiesisch-Indien zu erwischen.

Nach dieses Mannes Rat hatten Houtmans Schiffe Vorderindien zu meiden, Java anzusegeln und dort nach Sunda Calapa zu fragen, dem wichtigsten Hafen, wo es so viel Pfeffer geben sollte, dass man jährlich vier- bis fünftausend Quintal nach portugiesischem Gewicht laden könne.

Linschoten hatte des Bullebacks halber auf ein aussichtsreiches Unternehmen nach Indien verzichtet und sich dafür Dingen zugewendet, die bei weitem weniger Erfolg versprachen, jedoch durch die Kühnheit des Gedankens bestachen. Linschoten hatte sich des Mannes Barents versichert, den er auch einmal angeschleppt brachte ins gastliche Haus am Rokin. Mit der Flotte dieses Mannes war Linschoten vor einem Jahr auf die erste Reise der Holländer ins Eis gegangen, nach dem Norden, als Commis auf dem Enckhuizener Schiff, und war nach drei Monaten und zehn Tagen zur Kirmes wieder in Amsterdam angekommen. Genug Gesprächsstoff hatte er mitgebracht für das Haus am Rokin und ein totes Walross und die Gewissheit, im NORDEN VON ASIEN nach den Schätzen Indiens vordringen zu können. Nach der Rückkehr war er nach Den Haag entboten worden, um vor Prinz Moritz zu berichten. Und nun würde Linschoten warten, was Barents’ zweite Nordreise ausrichtete, jene sieben Schiffe bei Nowaja Semlja … Da spaziert dieser Mann Linschoten durch Amsterdam und begnügt sich abzuwarten, ob es Barents durch das Eis oder Houtman um Afrika herum nach Indien schaffe. Und glaubt doch wohl mehr an Afrika …

Mancher Seemann hatte die Wahl gehabt, bei Houtman oder bei Barents zu fahren. Viele waren bei Houtman geblieben, gelockt vom Geld, vom Auftrag, von der Aussicht auf Erfolg. Houtmans Reise hatten die Kaufleute forciert. Er war eher von Amsterdam abgefahren als Barents nach dem Norden. Somit klammerten sich die Hoffnungen der Reeder wohl doch mehr an Houtman als an den Mann im Eis. Warum war Linschoten nicht mit auf Barents’ zweite Reise gegangen? Weil er an deren Erfolg zweifelte?

Boninghen hätte lieber Frieden gehalten, doch jetzt spitzte es sich zu. Sehr geheuer war ihm nicht, ungehorsam auf dem Schiff zu bleiben und die Pinasse ausgeschlagen zu haben. Aber Dignums starb! Einmal – zu Amsterdam – war Boninghen übers Meer ausgeschickt worden. Da hatte auch jemand im Sterben gelegen, das war seine Frau …     

Boninghen hatte aber, als er kaum nach Amsterdam übergesiedelt war, der Compagnie sein Stück zu liefern, mit dem er bewies, dass er ihr Mann war. Und Sarah lag krank, und jede Stunde fehlte ihm an ihrer Seite, und die Compagnie drängte, da reiste er ab nach London, um dort im Auftrag der Compagnie für die noch nicht schwimmenden Indienschiffe dreißig KANONEN zu kaufen, Vorderlader, Bronze und Eisen, und auch die kleineren Steinstücke. Er konnte nicht sagen, dass er ruhig seine Geschäfte abgewickelt hätte, da in London. Aber er bekam die Kanonen. Und er kam zurück in sein Haus an dem Rokin, da hatte Sarah noch drei Tage zu leben. Du hast um Eisen gefeilscht, und der Tod hat ihr einen Tag nach dem anderen ausgestrichen, und die Kanonen haben dir die Stunden genommen, die du besser noch neben deiner Frau gesessen hättest! Aber nun, mit der erworbenen Artillerie, bist du für die Compagnie der Fernen Lande DER MANN. Er hatte gerade noch Zeit gehabt, mit seiner Sarah‘ Krüdener gemeinsam ein Testament aufzusetzen, zugunsten der Kinder, da war sie verschieden. Linschoten hatte mit am Grab gestanden, ebenso Heynck. Der Tod kommt und bläst aus, und etwas ist unwiderruflich dahin …

Regen prasselte auf die Galerie. Vor Madagaskar. Schon das Geräusch schien Boninghen zu erfrischen, obwohl ihm nicht leicht zumute war. Er saß und lauschte.

Der Commis verspürte keine Angst vor Houtman. Nach dem Kanonenkauf hatte er genug Rückhalt bei der Compagnie, um seine Sache vertreten zu können. Die Compagnie hatte ihm ein hohes Amt auf dieser Reise angetragen, und nach dem Tode seiner Frau hatte er trotz Linschoten keinen Grund gesehen, es abzulehnen. Er musste weg von Amsterdam, von dem Haus an der Gracht Rokin, wo ihn alles an Sarah erinnerte. Jetzt freilich hatte er sich mit dem unbequemen Mann auseinanderzusetzen. Manch guten Ratschlag hätte er gehabt. Und manchmal glaubte er: Wenn er handeln gekonnt, wie er gewollt hätte, dann wären ihm weniger Leute gestorben. Sein Kurs besser, sein Ziel direkter, seine Entscheidungen treffender. Melinde musste man anlaufen, um gesunde Leute in die Wanten zu bekommen! Melinde, das war ein gutes Wort und ein guter Traum, ein Halm, an dem man sich festhalten konnte, wenn so viele starben. Boninghen wusste es nicht, aber möglicherweise hatte Linschoten in seinem Buche von Melinde gesprochen, einem paradiesischen Hafen, in dem die Flotte gesunden konnte. Stattdessen liebäugelten sie im Generalschiffsrat mit dem Gedanken, ein Schiff aufzugeben. Mit Londoner Kanonen bestückt. Liegengelassen an einem Palmenstrand, weil alle Krüppel und krank waren … Nein, nie und nimmermehr.

 

Boninghen wusste nicht, wann der Regen aufgehört hatte. Er sah nur plötzlich, dass Sonne auf dem HOLLÄNDISCHEN FRIEDHOF lag, und die Brandung bildete einen weißen Streifen.

Wenig später brachte Eemskerck schwitzend die Nachricht in die Kajüte, die MAURITIUS zeige die Flagge, die den Generalschiffsrat zusammenriefe. Schon? Sie überstürzten es ja förmlich. Er hatte sich Houtman zu stellen. Boninghen schob Tinte und Feder weg und schloss das Tagebuch in den Schrank. Also es galt. Er erhob sich ohne spürbare Erregung und fragte nur, ob das Boot klar sei. Es lag schon zu Wasser. „Hol den Untercommis“, sagte er, obwohl dieser keine Stimme im Schiffsrat hatte. Eemskerck rempelte im Umdrehen ungeschickt an die Tür. Boninghen ließ sich Zeit, kleidete sich sorgfältig an, prüfte den Bart. An Deck dann sah er den Untercommis Naso schon stehen. Naso, Nasenmann, sehr gesund siehst du nicht aus mit deinem gelblich-wächsernen Gesicht. Boninghen packte ihn am Arm, mit einem leichten Wort, was Naso lächeln ließ. Angst vor dem Boot? Die See ist ruhig. Naso hielt krampfhaft eine Tasche, als wolle er Warenproben auf der MAURITIUS vorweisen oder unterwegs an die Schwarzen verkrämern.

Sie warteten noch ein wenig, bis das Boot klarkam und sie hinabrutschen konnten. Von der Schiffsführung ging Keyser mit, verwundert, Boninghen noch an Bord zu finden. Natürlich vermutete er ihn auf der Pinasse. Auch Keyser hatte keine Stimme im Rat. Kam der Schiffer Dignums zu Tode, dann wusste Boninghen schon, wen er gern an dessen Stelle gehabt hätte! Wenn das Schiff ihm blieb …

Die See schwappte nach dem Gewitter in einer Dünung. An Land, durch die Brandung, hätte Boninghen nicht gerade schwimmen wollen. Der Weg zur MAURITIUS aber war nicht weit. Unter den Leuten an den Riemen sah er auch einige der Aspiranten. Da war er zufrieden, von seinen Anhängern umgeben zu sein.

Das Schiff des Obercommis, Admiralsschiff sozusagen, lag schwer in dem bewegten Wasser, das Galion mit dem Löwen neigte sich; das Ankerkabel scharrte, und über dem Boot, das nun anlegte unter Geschrei und flinken Handreichungen, schimmerten hinter den Stückpforten die Kanonen. Als erster turnte Boninghen die Strickleiter hinan. Einige Bootsleute standen da umher, Dolmetscher und Steuermann, und ein kümmerlicher Untersteuermann sagte, dass die Herren schon in der Staatskajüte versammelt seien.

Na, denn mal zu. Boninghen winkte den Aspiranten, dann ging er, gefolgt von seinen beiden Begleitern, ins Schiff.

Er stieß die Tür auf. Ein halbes Dutzend Leute sah er da um den schweren polierten Tisch herum sitzen, die Augen auf ihn gerichtet. Houtman an der Stirnseite, finster, daneben verdrossen die Schiffer der MAURITIUS und der AMSTERDAM; die Leute von der Pinasse fehlten natürlich; kein Commis war dabei, dagegen gewahrte er einige Untercommis, viele nur mit beratender Stimme, nichts von Bedeutung. Mit einem Blick überflog Boninghen die Runde und gelangte zu der Erkenntnis, dass sie nicht gerade die Höchsten herbeigeschafft hätten für diesen Schiffsrat und dass es auch Naso allein getan hätte. Aber er hatte keinen Grund, sich zu verbergen.

Er wollte eintreten, da schob sich der Schiffer der MAURITIUS in die Höhe, Muelenaer mit Namen, ein kleiner, zäher Mann war das; der sagte, bevor Boninghen den nächsten Schritt tun konnte: „Sie gehören auf die Pinasse! Hier müsste man Sie mit Pistolen empfangen!“

Es war die leise, wache Art, in der dies gesprochen war, die Boninghen den Schritt stocken ließ. Auch wusste jeder hier, was für ein trefflicher Schütze Muelenaer mit dieser Waffe war und dass es dem Mann Ernst war. Der Schimpf ließ Boninghen beben. So begann es also. Er blickte Houtman an.

Dieser saß da, massig auf den Tisch gestützt, mit leicht hervorquellenden Augen, Säckchen darunter. Die Runde war verdammt still. Da sagte Houtman endlich: „Sie setzen sich, van Boninghen“ und deutete zu seiner Linken. Den Schiffer Muelenaer verwies er mit leisem Tadel, und der Untercommis Naso und der Obersteuermann Keyser konnten stehen.

„Sache Foppe Pieters van Delft und Cornelis Koelken“, sprach Houtman, und Boninghen faltete die Hände, weil er fühlte, dass sie zu zittern begannen. Der Schiffer Schellinger ihm gegenüber sah ihn scheel an, der andere Schiffer hingegen, der ihn gerügt hatte, wich seinem Blick aus. Houtmans Kopf aber saß auf der Halskrause wie auf einem garnierten Teller. Aus diesem Mund da ging nun die Rede über Foppes Verfehlungen; Beschimpfungen der Commis, die er Schelme hieß; Bier zu dick; ans Reißen und Brechen müsse es gehen und dass er den langen geschelmten Naso – Naso hob erstaunt den Kopf – beizeiten über Bord schmeißen wolle. Foppes Register aus Houtmans Mund: Hei, dass ich nun doch nicht darangehe, die Kajüte in Stücke zu schlagen, und allen das Maul stopfe, die darinnen sind! Und den Schiffer Dignums mit dem Messer bedroht (wie Muelenaer Boninghen heute mit Pistolen). Und die Commis alles in allem bedroht. Und die Fesseln gesprengt.

Boninghen saß und sah Houtmans Gesicht: ein Herrscher; Stirn und Wangen in einem einzigen mächtigen Absturz, die Nase breitrückig, fest und gerade. Die Augen hatten jetzt, da er die Sünden beider Delinquenten verlas, etwas Raubvogelartiges in der Starre ihres Blicks. Das Haupthaar war dünn, an den Schläfen ergraut, obwohl Houtman nicht älter als vierzig sein konnte. In der Stirn aber hatte er es von dem Barbier in Löckchen legen lassen. Der Schnurrbart ging in den Kinnbart über, an dem der Haarkünstler ebenfalls sein Können bewiesen hatte.

Da dachte Boninghen an das, was Linschoten gesagt hatte. BULLEBACK. Und der Schimpf war in sein Herz gefallen, und er spürte, dass es Houtman nicht ungelegen kam, seinen Stellvertreter beschimpfen zu lassen. Von einem Schiffer!