1963 im niedersächsischen Flecken Duingen geboren, lebt Marion Bergmann nach wie vor im malerischen Leinebergland. Seit langem arbeitet sie in einer onkologischen Rehaklinik und ebenfalls seit langem sagt etwas in ihr: „Schreib es auf.“ Und genau das tut sie seit Jahren mit großem Vergnügen. So ist das Schreiben für sie nicht zuletzt ein Werkzeug, um die alltäglichen und weniger alltäglichen Begebenheiten einzufangen, sie sich auf diesem Weg zu vergegenwärtigen und ihnen die Bedeutung zu geben, die ihnen zukommt.
Immer wieder mittendrin ist nach Diagnose: Die Krankheit mit K. ihr zweites Buch.
© 2021 Marion Bergmann,
alle Rechte vorbehalten
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH Norderstedt
ISBN: 9783754394724
Illustrationen: Sara Desantis
Coverdesign: Sophia Paeslack
Lektorat: Claudia Grundschok
Für Matheo und Enno
Ich brauche ein schönes, ein richtig gutes Foto von mir. Kein biometrisches Passfoto mit hellgrauem Hintergrund, ernstem Gesichtsausdruck und der Nase auf der Mittellinie. Natürlichkeit, Wärme und Sympathie soll das Foto ausstrahlen und … es soll in Bewegung sein. Das perfekte Bild für eine wichtige Bewerbung, darum geht es. Ich bin bereit, dafür zu investieren, und habe mir einen kompetenten Fotografen in meiner Nähe gesucht. Ich kann ihn bitten, mit seinem sicher supergutem Bildbearbeitungsprogramm später noch einige kleine Veränderungen vorzunehmen, falls das Ergebnis mich nicht zufriedenstellen sollte.
Meinen Fototermin bei ihm habe ich morgen um elf Uhr, besser geht es gar nicht. Zu dieser Zeit bin ich (extremer Morgenmuffel) richtig wach. Das Outfit steht seit Tagen fest. Ich habe mich für mein rotes Lieblingskleid entschieden, einmal mit und einmal ohne Jacke, es ist farbenfroh, lebendig eben. Ich bin bestens vorbereitet, hab alles bereitgelegt, Spangen für meine Haare, Schminkutensilien, Haarspray. Die Kleidung und der passende Schmuck hängen an meinem Kleiderschrank und ich bin sehr zufrieden mit meiner Wahl.
An diesem Abend gehe ich früher als sonst ins Bett, denn Schlaf macht bekanntlich schön.
Um halb acht klingelt mein Wecker – ich habe Kopfschmerzen. Das fängt ja gut an. Nach dem Frühstück nehme ich eine Tablette gegen das Hämmern in meinem Kopf und erschrecke vor meinem eigenen Spiegelbild. Kleine verquollene Augen sehen mich fast mitleidig an. Hilfe, und das ausgerechnet heute.
Nach dem Duschen stehe ich mit nassen Haaren wieder vor dem Spiegel und würde den Fototermin am liebsten absagen. Ich föhne tapfer meine Haare und drehe sie dann trocken auf heiße Lockenwickler. Wie meine Haare nach dem Entfernen der Wickler liegen, ist jedes Mal eine Überraschung – und die ist nicht immer schön. Mein Kopf dröhnt nach wie vor, ich fühle mich überhaupt nicht gut. Ich nehme eine zweite Tablette. Selbst mit Make-up im Gesicht sehe ich furchtbar aus und meine Haare zaubern an meinem Kopf oben rechts eine Beule.
Schlecht gelaunt ziehe ich mich an und bin mir jetzt gar nicht mehr so sicher, mich für das richtige Outfit entschieden zu haben. Am liebsten würde ich mich unter meiner Bettdecke verkriechen, stehe aber schließlich trotz aller Widerstände pünktlich vor dem Fotografen.
„Schön, dass Sie da sind“, begrüßt er mich. „Ich freu mich schon … dann wollen wir mal.“
Na, der ist ja gut drauf.
„Ich bereite alles vor“, fährt er fort, „Sie können sich in der Zwischenzeit in der Umkleidekabine noch ein bisschen zurechtmachen.“
Ein bisschen zurechtmachen ist gut. Ich bräuchte jetzt ein ganzes Maskenbildnerteam. Und gleich platzt mein Kopf. Wann wirken denn endlich diese Tabletten?
„Es kann losgehen“, ruft er mir bald zu.
Ich meide den Spiegel und stelle mich gleich auf den gekennzeichneten Platz vor der Kamera. Der Hintergrund passt, das Licht ist ausgerichtet und das riesige Objektiv frontal auf mich gerichtet. Und trotzdem geht das heute mit Sicherheit komplett in die Hose.
„Oh, ich sehe schon Ihre Schokoladenseite.“
Meine linke, das finde ich allerdings auch. Links liegen auch meine Haare immer besser als rechts.
„Jetzt schauen Sie mal zu mir und das Kinn ein klein wenig höher“, sagt er lächelnd. „Und nun denken Sie an etwas ganz Schönes und dann lachen Sie mich an.“
Was Schönes? Mein Sofa und irgendeine Droge für meinen Kopf. Und Ruhe.
„Sie können doch bestimmt noch besser lächeln, versuchen Sie mal, ganz locker zu bleiben.“
So verkrampft war ich schon lange nicht mehr. Hilfe, mein Kopf. Ich glaube, er merkt, dass ich nicht bei der Sache bin. Er versucht mich zu locken. Er macht Musik an. Aber auch mit Robbie Williams funktioniert es nicht. Und dann bin ich an dem Punkt, an dem ich kapituliere. Ich frage den netten Mann, ob wir das Shooting um eine Stunde verschieben können, da ich starke Kopfschmerzen habe und mich deshalb nicht fallen lassen kann. In der Apotheke nebenan möchte ich mir ein gutes Mittel holen und die Wirkung abwarten. Zum Glück passt mein Vorschlag noch in seinen Terminplaner.
Mit einem Migränemittel in der Hand steuere ich kurz darauf einen ruhigen Eckplatz in einer nahegelegenen Eisdiele an. Ich bestelle ein Glas Wasser für die Tablette und einen starken Kaffee. Auf dem Nebentisch liegen Modeillustrierte, genau das Richtige zum Entspannen.
Vertieft in die Modewelt der Supermodels, die vor den Kameras natürlich immer eine gute Figur machen, schrecke ich plötzlich hoch, als ein weiterer Gast die Eisdiele betritt und mit einem schreiähnlichen „Huhu“ den Besitzer begrüßt. Auch das noch. Meine Nachbarin, die sich ihrem Auftreten nach zu urteilen mal wieder für die Tollste hält. Sie trägt wie immer Schuhe mit mindestens zwanzig Zentimeter hohen Absätzen, mit denen sie jetzt auf mich zueiert.
„Hallo, Marion, geht es dir nicht gut? Du siehst ja furchtbar aus.“
Sie setzt sich an den Nebentisch, legt ihr rechtes Bein über ihr linkes und wippt mit dem rechten Fuß auf und ab. Heute provoziert sie mich noch mehr als sonst.
Ich will sie möglichst nicht beachten, muss aber immer wieder zu ihr rüberschauen. Auch sie hat mich im Blick. Und ich glaube, ich kann ihre Gedanken lesen:
Schau mal, mein cooles Outfit und meine neuen Fingernägel, meine Extensions, sündhaft teuer und noch länger als vorher, und meine neuen Designer Schuhe …
Der rechte rutscht ihr gleich vom Fuß, so wie sie damit wippt.
„Was machst du denn heute noch Schönes, Marion?“
Und bevor ich zurückgiften kann, fügt sie hinzu:
„Du gehörst ins Bett, so wie du aussiehst.“
Ich koche vor Wut. So eine blöde Kuh.
Wir stehen gleichzeitig auf. Ich, um zu bezahlen, sie, um das WC aufzusuchen. Auf dem Weg dorthin bricht einer ihrer hohen Absätze ab. Ich muss laut auflachen und sie humpelt mit rotem Wutgesicht und dem abgebrochenen Absatz in der Hand an mir vorbei. Das gibt mir genau den Kick, der mir bis jetzt gefehlt hat, und auch mein Kopf hat sich endlich beruhigt.
In bester Stimmung lande ich zum zweiten Mal bei dem freundlichen Fotografen, hab zig Posen im Kopf und finde jetzt sogar mein Outfit wieder tipptopp. In der Umkleidekabine bleibe ich diesmal am Spiegel hängen und pushe meine Schokoladenseite so richtig auf. Puder, Lippenstift und jede Menge Haarspray. Die aus der Reihe tanzenden Haarsträhnen stecke ich mit Spangen an die richtigen Stellen. Mein Spiegelbild zwinkert mir Mut zu, jetzt packen wir’s.
Der Fotograf, übrigens ein sehr attraktiver Mann, was mir vorhin gar nicht aufgefallen ist, bedient den CD-Player. Ich bitte um schnelle Musik. Als er noch die passende Lautstärke ausprobiert, wippe ich schon auf dem Kreuz, das als Orientierungsplatz auf den Boden gemalt ist.
Die Musik passt perfekt. Die Scheinwerfer springen an, es kann losgehen.
„Bewegen Sie sich … ja, genau so … perfekt. Super und lachen Sie mich an … weiter so!“
Er geht in die Knie und fotografiert mich von allen Seiten und ich tanze auf meinem Markierungspunkt wie ein Fotomodel.
Es ist Mitte November, ganz genau der fünfzehnte Tag des Monats, und ich bin mit Tobias verabredet. Dr. Tobias Ihburg, mein Zahnarzt. Ich parke meinen alten Mercedes auf dem Parkplatz vor der Praxis, schaue schon mal zum Fenster des Wartezimmers hoch und verlasse mutig mein Auto.
Ich drücke gegen die Haustür des Gebäudes. Sie schnappt mit dem immer gleichen Geräusch auf und während ich meinen Fuß auf die dritte Treppenstufe setze, schnappt sie so wie immer zu. Bei meinem Zahnarzt werde ich schon im Treppenhaus empfangen, noch weit von der Praxis entfernt. Und zwar vom Geruch. Dieser unverwechselbare Geruch umarmt mich gleich unten an der Eingangstür und eng umschlungen gehen wir dann durchs Treppenhaus nach oben. Und wie immer an dieser Stelle denke ich auch heute: Ich könnte ja umdrehen, könnte mal wieder in die Stadt fahren, mal in mein Lieblingsgeschäft schauen, vielleicht kurz Ulli anrufen, sie hätte bestimmt Zeit und Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken. Was für Gedanken.
Mit jeder Stufe werde ich schwächer. Wie es anderen wohl geht, wenn sie von diesem Duft umhüllt werden.
Schließlich stehe ich mit weichen Knien in der Praxis vor dem Tresen und habe etwa achtzig Prozent meines Mutes im Treppenhaus zurückgelassen.
„Ihre Versichertenkarte, bitte.“
Ich kann es nicht nur spüren, nein, ich kann sogar sehen, wie meine Hände zittrig nach dem Kärtchen in meinem Portemonnaie tasten. Ein leichter bis mittelschwerer Schweißausbruch überrollt mich.
Die Karte wird eingescannt und mir zurückgegeben. Noch könnte ich gehen … und ich gehe. Ins Wartezimmer.
Dort sitzen schon drei Personen, die alle vor mir dran sind. Denken sie ähnlich wie ich? Ein etwa zehnjähriger Junge spielt mit einem Minicomputer und macht dabei große Kaugummiblasen. Unbeschwert und im Moment offenbar in einer anderen Welt. Der kleine Mann wartet wahrscheinlich nur auf seine Mama, die sich zurzeit im Sprechzimmer behandeln lässt. Somit wären dann nur zwei Patienten vor mir dran.
Ein Mann, etwa in meinem Alter, ich hab ihn schon mal im Fitnessstudio gesehen, irgendwie ein cooler Typ, starrt schon die ganze Zeit auf ein Bild mit einer Blumenwiese. In seinen Augen erkenne ich Ängstlichkeit und Unbehagen. Das sind die Richtigen, draußen spielen sie die Obercoolen, sind von nichts zu erschüttern und kaum sitzen sie beim Zahnarzt im Wartezimmer, sind sie mauseklein und verletzlich.
Die ältere Dame, die neben mir konzentriert einen Artikel in einer Zeitschrift liest, hat bestimmt keine Zahnarztphobie. Sie lächelt andauernd und zieht die Augenbrauen hoch, für mich ein Zeichen, dass sie sich komplett in den Artikel vertieft hat. Ich würde mich jetzt auch gern so schön ablenken lassen.
O nein, ich höre Geräusche aus dem Sprechzimmer mit der Nummer eins. Das unverkennbare Kreischen eines Bohrers. Ich schlage mein rechtes Bein über mein linkes, um gleich wieder mein linkes über mein rechtes zu schlagen. Dabei schaue ich aus dem Fenster. Da unten steht mein Auto. Mein Fluchtauto? In weniger als zwei Minuten könnte ich mich damit aus dem Staub machen.
Jetzt gesellt sich ein junges Mädchen zu uns, auch sie hat einen furchtsamen Gesichtsausdruck. Sie nimmt eine Illustrierte, um sie gleich wieder wegzulegen, ohne sie überhaupt aufgeschlagen zu haben. Ja, mein Kind, ich weiß, wie es dir gerade geht. Ich rieche und höre das auch alles.
„Frau Bergmann, bitte.“
O Gott … ich verlasse meinen Stuhl, das Wartezimmer. Mit höchstens noch fünf Prozent Mut in meiner Hosentasche folge ich der medizinischen Fachangestellten, um gleich darauf brav in den ledrigen Liegestuhl zu rutschen. Ich lege mich zurück.
„Vorsicht, noch einmal den Kopf nach vorn.“
Und schon habe ich das Lätzchen um. Wasser läuft in ein Glas neben mir. Das brauche ich gleich, um mir während der Behandlung den Mund auszuspülen. Wenn man ausspült, ist man meistens fast fertig.
Ich schaue bewusst nicht auf das Tablett mit den fiesen Instrumenten, die Dr. Ihburg gleich benutzen wird, sondern auf die Wand rechts von mir. Mit gemalten Kinderbildern ist sie tapeziert. Für den besten Zahnarzt der Welt, für dich, lieber Dr. Ihburg, viele Grüße an Tobias, Dr. Ihburg ist der Größte. Ich lese mir die Namen der kleinen Maler durch, einige von ihnen kenne ich sogar. Dann kann ich durch die milchige Tür des Sprechzimmers sehen, wie jemand auf den Raum zukommt, ganz in weiß.
Er sieht gut aus, wie immer. Vielleicht hat er ein wenig zugenommen, ich hab ihn lange nicht gesehen. Er gibt mir die Hand und begrüßt mich freundlich. Aber bevor ich überhaupt einen Ton herausbringe, bemerke ich: null Prozent Mut.
Der Lederstuhl bringt mich in Liegeposition, so sehr, dass ich kurz das Gefühl habe, kopfüber rauszurutschen. Im nächsten Moment lasse ich das Procedere über mich ergehen, denke nicht mehr groß nach, schaue mir die beleuchteten Landschaftsbilder an, die an der Decke über mir nach Urlaub rufen.