Tjorven Beck
Forsberg - Virus
Kriminalroman
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Forsberg - Virus
Kriminalroman
Zitat
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Danksagung
Nachwort
Bücher von Tjorven Beck
Leseprobe
Auch durch ein Nadelöhr kann man Zugluft bekommen.
Japanisches Sprichwort
½ Stunde vor dem Worst Case
Dienstag, 17. März 2020
14:12 Uhr, Brüggefelden
»Darf ich noch Schokoladeneis einpacken?«
»Ja, aber vergiss deine Geschwister nicht.« Müde strich sich Katrin Steinbach eine Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht. Obwohl es Anfang März war, schwitzte sie, weil das Thermometer wohl verrückt spielte. Es zeigte exakt 16,3 Grad Celsius. Nun, eigentlich konnte das Thermometer nichts dafür, es war das Wetter, das verrückt spielte, nicht das Gerät. Es tat nur seinen Dienst. Wie man es auch drehte und wendete, es war einfach zu warm für diese Jahreszeit.
Mia kam von der Tiefkühlung zurück, vier Becher Ben & Jerry’s im Arm, ließ sie in den Einkaufswagen fallen. »Alle vier die gleiche Sorte, dann gibt es keinen Streit.« Wie klug sie doch war. Aber immerhin lebte sie schon dreizehn Jahre mit ihren Geschwistern zusammen, um zu wissen, dass jede kleinste Abweichung zu Neid und Streit führen konnte. Die Psyche von Kindern war nicht einfach, die von Teenagern nicht nachzuvollziehen, zumindest nicht, wenn man Mitte vierzig und alleinerziehend war. Allein unter Teenagern schoss es Katrin durch den Kopf und lachte leise. Verdammt, das hatte sie sich nicht selbst ausgesucht. Als sie und ihr Mann beschlossen, so viele Kinder zu bekommen, war klar, sie würden zusammen alt werden. Zumindest für Katrin war es klar gewesen. Dass neunzehn Jahre später eine junge Frau auftauchen würde, die ihr komplettes Leben auf den Kopf stellte, damit hatte Katrin nicht gerechnet. Auch nicht, dass ihr Mann alles hinschmeißen würde, und dem Ruf dieser Sirene zu folgen, vierhundert Kilometer weit weg, Richtung Berlin. Nun lebte er in einer chic eingerichteten Eigentumswohnung, mit seiner zwanzig Jahre jüngeren Freundin, fuhr einen teuren Sportwagen und arbeitete als angestellter Steuerberater, zu einem geringen Gehalt, während Katrin nahe der holländischen Grenze Probleme hatte, die Miete für das gemietete Einfamilienhaus zusammenzukratzen, und dazu vier Kinder betreute. Natürlich zahlte Vincent keinen Unterhalt, das gab sein Gehalt nicht her, wohl aber sein aufwendiges Leben, aber er wusste eben, wie man den Behörden vormachte, dass man mittellos war, obwohl man im Luxus badete.
Katrin schüttelte den Kopf, als wollte sie diese Gedanken verscheuchen, die sich selbst nach drei Jahren immer noch in ihr Gedächtnis schlichen, was bewies, dass sie nicht damit abgeschlossen hatte. Vermutlich würde sie das nie. Ihr Leben war ihr innerhalb einer Stunde um die Ohren geflogen, als sie auf dem Handy eine Nachricht entdeckt hatte, die nicht für sie bestimmt war.
Bestell schon mal den Pizzaservice. Bin auf dem Weg zu dir. Freue mich auf deine heißen Schenkel. Ich liebe dich, Vincent!
Diese Nachricht hatte Katrin erreicht, nachdem sie eine Minute vorher eine Kurzmitteilung erhalten hatte, dass Vincent zu einem Kunden nach Köln musste und dort übernachten würde.
Noch heute konnte sie nicht verstehen, warum sie so cool reagiert hatte und ihn nur gefragt hatte, wohin sie seine Koffer schicken sollte. Sie hatte sich auf keine Diskussion mit ihm eingelassen. Wenige Tage später hatte er seine Sachen gepackt und war zu der anderen Frau gezogen, um dann ein Jahr später gemeinsam mit ihr nach Berlin zu ziehen, weil sie dort einen Job in einer Internet Bank angetreten hatte. Nicht eine Sekunde hatte Vincent dabei an seine Kinder gedacht. Er hatte sie verlassen, wie er Katrin verlassen hatte. Leise, ohne großes Theater. Einfach aus seinem Leben gestrichen, als wären sie nie dagewesen. Ab und an telefonierte er mit den Kindern, doch sie hatten schnell das Interesse an ihm verloren, nachdem auch den Kindern klargeworden war, dass sie nicht in das neue Leben ihres Vaters passten. Er war ja noch nicht einmal bereit, für ihren Unterhalt aufzukommen, sodass Katrin gezwungen war, Unterhaltsvorschuss zu beantragen. Die knapp tausend Euro reichten gerade mal für die Unterkunft. Für Essen, Kleidung, Schule, und alles andere war Katrin verantwortlich. Ebenso für Erziehung und die Verantwortung, dass aus vier Teenagern verantwortungsbewusste Erwachsene wurden. Alles lastete auf ihren Schultern und niemand fragte sie, wie sie sich dabei fühlte.
Mia packte einen Sixpack Colaflaschen in den Einkaufskorb.
»Nein, keine Cola, das weißt du doch. Nimm bitte das Mineralwasser.« Sie sah Mia entschuldigend an.
»Man, immer nur das öde Mineralwasser. Warum dürfen wir keine Cola trinken?« Mia zog einen Schmollmund.
»Weil es nicht gut für euch ist. Du kennst doch den Slogan: Cola darf ich immer nur an Silvester trinken. Pack meinetwegen einen Zitroneneistee ein.«
In Sekunden zeichnete sich ein Lächeln auf dem Gesicht von Mia ab, ihre Sommersprossen schienen förmlich zu funkeln. Eistee war das zweitliebste Getränk, nach Cola. Sie hatte einen kleinen Sieg eingefahren und Katrin gab sich geschlagen. »Wir brauchen noch Toilettenpapier!«, rief sie dem Mädchen zu, die sofort loslief.
Katrin ging gerne mit Mia einkaufen. Sie bestand immer darauf, an der Kasse alle Artikel in den Korb zu packen. Sie war geschickt darin, alles so zu stapeln, dass nichts zerdrückt wurde, und dass auch alles wieder in den Korb passte, denn ihr wöchentlicher Einkauf sah aus, als wäre es ein Hamsterkauf für schlechte Zeiten. Dabei wusste niemand, dass Katrin vier Mäuler zu stopfen hatte, die noch im Wachstum waren. Die merkwürdigen Blicke der anderen Kunden an der Kasse ignorierte sie.
»Es gibt kein Toilettenpapier mehr.« Mia kam mit leeren Händen zurück.
»Wie? Kein Toilettenpapier?« Katrin konnte es nicht glauben und schob den Einkaufswagen Richtung der Regale, wo die Toilettenartikel lagerten.
»Ist dieser Virus nicht eine Katastrophe? Die Leute kaufen wie die Wilden, als würde es morgen nichts mehr geben. Warum kaufen sie das ganze Toilettenpapier weg? Haben sie Angst, der Virus kommt unten wieder heraus?« Eine ältere Frau machte sich ihrem Ärger Luft. »Ich weiß nicht, wo das noch enden soll? Ich hoffe, Sie sind nicht infiziert. Wissen Sie, ich gehöre zur Risikogruppe, mit fünfundsiebzig.« Sie kam Katrin gefährlich nahe, sodass diese einen Schritt zurückwich. Die alte Dame trug weiße Einweghandschuhe. Unter normalen Umständen hätte Katrin das belächelt, doch seit Ende des Jahres war in China ein Virus ausgebrochen, der nun auch Deutschland erreicht hatte und immer größere Ausmaße annahm. Zuvor hatte Katrin sich nicht besonders für dieses Thema interessiert, sie hatte ganz andere Probleme, doch da die Epidemie sich mittlerweile zu einer Pandemie ausgebreitet hatte, musste Katrin sich nun damit beschäftigen, ob sie wollte oder nicht.
Ihr Blick fiel auf den großen Stapel Küchenrollen, der neben dem leeren Regal von Toilettenpapier stand. »Dann werden wir uns eben anders zu helfen wissen«, erklärte sie gut gelaunt und packte zwei Großpackungen in den Wagen. »Einen schönen Tag noch.« Sie ließ die verdutzte Frau mit einem Lächeln stehen und schob den Wagen Richtung Kasse.
Mit geübten Bewegungen räumte Mia geschickt die Waren vom Band wieder in den Einkaufswagen.
»Na, da hat die Mama aber einen fleißigen Jungen«, lobte die Verkäuferin.
Mia blickte auf und sah Katrin an. Sie lächelten beide und Katrin nickte zustimmend. Das passierte ihnen nicht zum ersten Mal. Ständig hielten die Menschen Mia für einen Jungen. Katrin nickte nur und bezahlte in bar. Sie benutzte nicht so gerne die Bankkarte. Nachher gab es nur wieder Ärger, wenn das Konto nicht gedeckt war und der Betrag von der Bank zurückgebucht wurde. Nur Bares ist eben Wahres, war Katrins Leitsatz, ganz wie auch Julia Roberts es hielt. Zumindest in Pretty Woman. Wobei sie vermutlich keine Probleme mit ungedeckten Konten hatte.
Kurz vor dem Worst Case
Katrin war stolz auf Mia. Wie selbständig sie schon war. Sie lernte eben schnell von ihren Geschwistern, die alle älter waren. Mit schnellen Bewegungen hatte Mia die Einkäufe in Taschen verstaut, die sie immer zum Einkaufen benutzten, und im Kofferraum des Vans lagerten.
»Setzt dich schon mal ins Auto, Mama. Ich bringe den Einkaufswagen zurück«, rief sie und machte sich auf den Weg zum Eingang, wo die Einkaufswagen aufgereiht verwahrt wurden.
»Okay. Pass aber auf die Autos auf«, rief Katrin ihr nach.
»Klar, mach ich.« Mia drehte ihre Baseballkappe so, dass der hintere Teil vorne saß, und machte sich auf den Weg, während Katrin sich hinter das Steuer setzte.
Mia war ein burschikoses Mädchen. Mit der Statur einer guten Schwimmerin. Sie trug das rostrote Haar kurz geschnitten, mit den lustigen Sommersprossen auf der Nase und den Baggy Jeans wurde sie oft für einen Jungen gehalten, was ihr aber nicht viel ausmachte. Sie mochte ihr aussehen und würde es für niemanden ändern. Katrin war stolz darauf, dass gerade ihre jüngste Tochter so viel Rückgrat besaß, auch wenn sie an anderen Stellen sehr schüchtern war.
Katrin holte ihr Handy aus der Handtasche und schloss es an das Autoradio an, um es aufzuladen. Wie immer hatte das Gerät nur noch zwanzig Prozent Akku, weil sie ständig vergaß, es mit Strom zu versorgen. Sie scrollte durch die Playlist und wählte diejenige aus, die sie für ihr neustes Buch angelegt hatte. Musik war ein wichtiger Bestandteil ihres Lebens, das sie benötigte, um überhaupt Schreiben zu können.
Billy Eilish sang davon, dass es noch keine Zeit zum Sterben war und Katrin trommelte im Takt mit den Fingern auf dem Lenkrad. Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Dort, wo sie gerade noch Mia im Blick gehabt hatte, war nun nichts mehr zu sehen. Also, der Discounter war natürlich noch da, auch die Einkaufswagen, aber Mia nicht mehr. Katrin lehnte sich über den Beifahrersitz, um die Tür zu öffnen, denn Mia musste ja jeden Augenblick zurück sein.
Als Mia nicht kam, wandte Katrin sich wieder dem Rückspiegel zu, blickte in die Seitenspiegel.
Nichts.
Hektisch drehte sich Katrin um, aber Mia war nicht zu sehen.
Erlaubte Mia sich einen Spaß mit ihr? Katrin grinste. Es war eigentlich nicht ihre Art, einen solchen Scherz zu machen, aber man wusste ja nie. Sie zog den Schlüssel ab und stieg aus dem Wagen, ging zum Kofferraum, den Eingang des Discounters im Blick. »Mia?«, rief sie halblaut.
Autos fuhren aus Parklücken, andere nahmen den Platz wieder ein. Es war ein reges Kommen und Gehen. Die ganze Welt schien sich mit Lebensmitteln einzudecken, als würde es morgen nichts mehr geben.
»Mia?«, rief Katrin nun etwas lauter, Ungeduld in der Stimme. »Komm schon, das ist nicht mehr witzig. Wir müssen nach Hause. Ich muss Schreiben und noch für euch kochen. Deine Geschwister haben Hunger.« Sie drehte sich um ihre eigene Achse, ließ den Blick über den Parkplatz schweifen. Er war nicht zu groß, überschaubar. Vielleicht bot er ungefähr hundert Autos Platz.
»Verdammt.« Katrin verriegelte mit der Fernbedienung an ihrem Schlüssel den Van und begab sich zum Eingang des Marktes. Als Mia auch dort nicht zu finden war, betrat sie erneut den Laden, suchte in den Gängen. Mit schnellen Schritten lief sie an den Leuten vorbei, die sich mit Lebensmitteln, und allem möglichen eindeckten, dass sie in den nächsten Tagen benötigten. Keiner wusste, ob nicht vielleicht bald eine Ausgangssperre ausgerufen wurde.
Dieser verfluchte Coronavirus wirbelte das Leben auf der ganzen Welt durcheinander, doch dafür hatte Katrin jetzt keine Nerven. Sie musste Mia finden, weil sie nach Hause musste.
Vor dem Regal mit den Süßigkeiten sah Karin sie. Sie wich einem älteren Mann aus, der auf wackligen Beinen den Einkaufswagen durch den Gang schob, Katrin genau in den Weg. »Entschuldigung«, murmelte sie und sprang zur Seite. »Was machst du denn hier?«, fragte Katrin streng und doch erleichtert, legte sie Mia die Hand auf die Schulter.
»Ey, was willst du denn von mir? Lass mich los!« Ein Junge drehte sich zu ihr um und Katrin fuhr erschrocken zurück, als sie erkannte, dass das hier nicht Mia war. Es war ein Junge, vielleicht zehn Jahre alt.
»Oh, entschuldige. Ich habe dich verwechselt.« Katrin wandte sich um, lief in Richtung Kassenbereich, schlängelte sie an den Wartenden vorbei. »Entschuldigung, darf ich kurz durch. Ich habe keine Waren.« Sie drängte sich an einer Frau mit einem Kleinkind vorbei, einem Mann um die Vierzig, der sehr unangenehm roch und seine zwei Flaschen Bier auf dem Band nicht aus den Augen ließ.
»Haben Sie meine Tochter gesehen?«, fragte Katrin die Kassiererin, bei der sie vor nicht mal zehn Minuten ihre Einkäufe bezahlt hatte.
Die Dame schaute sie unsicher an. »Ihre Tochter? Nein.« Sie schüttelte den Kopf und machte sich daran, weiter Lebensmittel über den Scanner zu ziehen.
»Ich habe doch gerade meine Einkäufe bei Ihnen bezahlt. Sie haben gelobt, was für einen fleißigen Jungen ich hätte.«
Die Verkäuferin nickte. »Ja, sie hatten einen Jungen dabei.«
»Nein, es war ein Mädchen. Meine Mia sieht aus wie ein Junge, ist aber ein Mädchen.«
Nun begannen die wartenden Kunden Katrin mit merkwürdigen Blicken zu bedenken.
»Was denn nun? Suchen Sie einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte die Kassiererin. »Das macht zweiundsiebzig achtzig. Bar oder mit Karte?«
Eine ältere Dame zückte ihr Geld. »Bar natürlich«, und begann damit Kleingeld auf dem Tresen auszukippen.
Dafür hatte Katrin keine Zeit. Sie verließ den Kassenbereich und rannte hinaus auf den Parkplatz. Vielleicht wartete Mia ja bereits am Wagen auf sie. Bestimmt würde sie das tun! Wo sollte sie denn sonst sein?
Als sie am Auto ankam, lag es verlassen da. Von Mia keine Spur.
»Mia!«, rief Katrin laut und zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie das Gefühl, dass ihr Herz für einen Augenblick aussetzte und sie keine Luft mehr bekam. Das konnte doch nicht wahr sein! Das hier musste ein Traum sein. Ein schlimmer Alptraum.
Worst Case
Mittwoch, 18. März 2020
15:45 Uhr, Brüggefelden
Katrin blickte verwirrt auf das blinkende Licht des Polizeiwagens, der vor ihrem Wagen gehalten hatte. Mit winkenden Armen hatte sie ihn angehalten. Sie selbst hatte ihn gerufen.
»Und Sie sind sich sicher, dass ihre Tochter verschwunden ist? Vielleicht ist sie ja zu Fuß nach Hause gelaufen?« Die Polizeibeamtin sah sie fragend an. »Kinder machen die unmöglichsten Dinge.«
»Das weiß ich. Ich habe schließlich vier davon«, gab Katrin genervt zurück.
»Vier. Na, dann haben Sie ja eine Menge zu tun. Vielleicht haben Sie Ihre Tochter gar nicht mitgenommen.«
»Natürlich hatte ich Mia dabei. Ich bin doch nicht schwachsinnig.« Langsam verlor Karin wirklich die Nerven. Warum wollte die Polizistin ihr nicht glauben, dass sie ihre Tochter vermisste? »Die Kassiererin hat mich doch gesehen, zusammen mit Mia. Sie hielt sie für einen Jungen, weil Mia immer Jungenkleidung trägt. Sie steht nicht so auf den Mädchenkram.«
»Also, wen hatten Sie nun dabei? Ein Mädchen oder einen Jungen?« Die Polizistin kniff die Augen zusammen.
»Ein Mädchen natürlich. Hören Sie mir denn gar nicht zu?«, schrie Katrin und stand kurz davor, die Fassung zu verlieren.