1. korrigierte Auflage 2014

© by Dr. Detlef Wilkens, Haan

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7357-3623-9

Inhalt

Vorwort

Justus Liebig gehört zu den bedeutendsten Chemikern des 19. Jahrhunderts. Anteil daran haben aber nicht nur seine Entdeckungen und Erfindungen, sondern auch sein unermüdliches Streben nach Anerkennung der Chemie als Schlüsselwissenschaft für Medizin, Landwirtschaft und Wirtschaft. Auch hatte er allerlei Wirbel ausgelöst durch Schriften über den bedauerlichen Zustand der Chemie in Österreich und Preußen, doch stieß er mit seinen Ansichten meistens nur auf die tauben Ohren der mit Unwissenheit und Fehlvorstellungen behafteten Entscheidungsträger; ganz zu schweigen von der allgemeinen Bevölkerung. So kam ihm die Anfrage der Augsburger Allgemeinen Zeitung, die ihn im Jahr 1841 bat, ihre Leser über die Bedeutung der Chemie aufzuklären, nur allzu entgegen und er sagte freudig zu.

Anhand dieser in der sogenannten Briefform gehaltenen Aufsätze erkennt man leicht das Brennen des Chemikers LIEBIG für sein Fach und das Bestreben nach allgemeiner Verbreitung des damaligen Wissens über die Chemie. Ebenso, wie er die Lehre und Ausbildung seiner Studenten mit eigenen, neuen Methoden erfolgreich betrieb, ging LIEBIG auch bei der Aufklärung seines breiten Publikums neue Wege: Nie verliert er sich in Fachsimpeleien, sondern immer ist er bemüht, alles möglichst plastisch dem Leser vor Augen zu halten und mit vielen Beispielen aus dem alltäglichen Leben zu erläutern. Diese Vorgehensweise war so erfolgreich, dass seine Briefe 1844 in einem Buch zusammengefasst wurden. Es folgten zahlreiche Neuauflagen, in denen Liebig die neuesten Entdeckungen einfügte, und die Übersetzung in alle Weltsprachen.

Die Chemischen Briefe LIEBIGS sind aus unterschiedlichen Gründen wichtige zeitgeschichtliche Dokumente. Sie geben einen Einblick in das damalig vorhandene Wissen der Naturwissenschaft Chemie und zeigen uns die Lücken und Fehlvorstellungen auf; man kann in ihnen das Denken der damaligen Gesellschaft in Bezug auf die Naturwissenschaften erkennen (und findet manchmal erstaunliche Parallelen zu heute); sie sind nützlich für Lehre und Ausbildung in der heutigen Zeit, weil der geschichtliche Verlauf einzelner Entdeckungen dem Lehrer klar vor Augen gehalten wird, auch die Schwierigkeiten, die sich gerade im Fach Chemie dem Schüler dartun. Somit können sie auch heute, bei allen Fehlern und Ungenauigkeiten, die sie enthalten, beim Unterrichten helfen. Sie zeigen aber auch in aller Deutlichkeit, dass kein Wissen für alle Ewigkeit unverändert Bestand hat – gerade deshalb kann man auch jedem Wissenschaftler die Lektüre derselben nur empfehlen.

Das vorliegende Buch, wegen der Fülle in zwei Bände herausgegeben, beruht auf der 6. Auflage der Chemischen Briefe aus dem Jahr 1878. Die einzelnen Briefe sind im Original nur durchnummeriert; um die Orientierung zu erleichtern wurden sie vom Herausgeber mit Überschriften und Marginalien versehen. Dort, wo es mir nach dem heutigen Stand der Wissenschaft notwendig erschien, habe ich den Text mit Fußnoten, Randbemerkungen und Kommentaren ausgestattet. Durch die Anwendung der heute gültigen Rechtschreibung und Interpunktion wird das Lesen erleichtert, insbesondere ist dieses Buch deshalb auch für Schüler ab etwa 14 Jahre geeignet. Der breite Rand soll den Leser dazu einladen, den Text mit Bemerkungen und Marginalien zu versehen.

Detlef Wilkens, März 2014

Erster Brief:

Einfluss und Nutzen der Chemie

In den Schriften der neueren Zeit ist so viel und so häufig von Chemie die Rede, dass eine bestimmtere Andeutung ihres Einflusses auf Gewerbe und Industrie, ihrer Beziehungen zur Landwirtschaft, Physiologie und Medizin vielleicht keine ganz undankbare Aufgabe genannt werden dürfte.

Möchte es mir in diesem ersten Brief gelingen, die Überzeugung zu festigen, dass die Chemie als selbstständige Wissenschaft eines der mächtigsten Mittel zu einer höheren Geisteskultur darbietet, dass ihr Studium nützlich ist, nicht nur insofern sie die materiellen Interessen der Menschen fördert, sondern weil sie Einsicht gewährt in die Wunder der Schöpfung, welche uns unmittelbar umgeben, an die unser Dasein, Bestehen und unsere Entwicklung aufs Engste geknüpft sind.

Die Fragen nach den Ursachen der Naturerscheinungen, nach den Quellen des Lebens der Pflanzen und Tiere, nach dem Ursprung ihrer Nahrung, den Bedingungen ihrer Gesundheit und den Veränderungen in der Natur, der wir durch unseren körperlichen Leib angehören, diese Fragen sind dem menschlichen Geist so angemessen, dass die Wissenschaften, welche befriedigende Antwort darauf geben, mehr wie alle anderen Einfluss auf die Kultur des Geistes ausüben.

Naturwissenschaftliche Bildung als Mittel der Erziehung

Das Studium der Naturwissenschaften als Mittel der Erziehung ist ein Bedürfnis unserer Zeit. Neben der Unterweisung in den Grundsätzen der Moral und Religion, der nächsten und wichtigsten Aufgabe derselben, sollen durch die Erziehung die verschiedenen menschlichen Fähigkeiten, der Individualität entsprechend, entwickelt und geübt werden, es soll der Geist einen gewissen Umfang allgemeiner und nützlicher Kenntnisse gewinnen. Keine unter allen Wissenschaften bietet dem Menschen eine größere Fülle von Gegenständen des Denkens, der Überlegung und von frischer sich stets erneuernder Erkenntnis dar als wie die Chemie; keine ist mehr geeignet, das Talent der Beobachtung in der Entdeckung von Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten in den Erscheinungen in gleicher Weise zu wecken und die Gesetze des Denkens in ihren strengen Methoden der Beweisführung für die Wahrheit einer Erklärung oder in der Aufsuchung der Ursachen und Wirkungen einer Erscheinung gleich anschaulich und geläufig zu machen. In demselben Grade, als der menschliche Geist an Einsicht zunimmt, die ihm von irgendeiner Seite zufließt, stärken und erheben sich seine Fähigkeiten nach allen anderen Richtungen hin; der Erwerb einer neuen Wahrheit ist ein dem Menschen zugewachsener, neuer Sinn, der ihn jetzt befähigt, eine Menge von Erscheinungen wahrzunehmen und zu erkennen, die einem anderen unsichtbar und verborgen bleiben, wie sie es früher ihm selbst waren.

Verwandtschaft der Chemie mit anderen Wissenschaften

Die Chemie führt den Menschen ein in das Reich der stillen Kräfte, durch deren Macht alles Entstehen und Vergehen auf der Erde bedingt ist, auf deren Wirkung die Hervorbringung der wichtigsten Bedürfnisse des Lebens und des Staatskörpers beruht; als Teil der Wissenschaft der Naturforschung ist sie aufs Engste verwandt mit der Physik und diese letztere steht in genauer Verbindung mit Astronomie und Mathematik. Die Grundlage eines jeden Zweiges der Naturwissenschaft ist die einfache Naturbeobachtung; nur ganz allmählich haben sich die Erfahrungen zur Wissenschaft gestaltet.

Der Ortswechsel der Gestirne, der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten haben zur Astronomie geführt. Mit der Astronomie entstand die Physik, bei einem gewissen Grad ihrer Ausbildung zeugte sie die wissenschaftliche Chemie, aus der organischen Chemie werden sich die Gesetze des Lebens, es wird sich die Physiologie entwickeln.

Wissenschaft als Erfahrung

Die Quelle aller Wissenschaft ist die Erfahrung; man hat die Dauer des Jahres bestimmt, den Wechsel der Jahreszeiten erklärt, Mondfinsternisse berechnet, ohne die Gesetze der Schwere zu kennen; man hat Mühlen gebaut und Pumpen gehabt und den Druck der Luft nicht gekannt; man hat Glas und Porzellan gemacht, man hat gefärbt und Metalle geschieden, alles durch bloße Experimentierkunst, ohne also durch richtige wissenschaftliche Grundsätze geleitet zu sein. So ist die Geometrie in ihrer Grundlage eine Erfahrungswissenschaft, die meisten Lehrsätze derselben waren durch Erfahrung gefunden, ehe ihre Wahrheit durch Vernunftschlüsse bewiesen wurde. Dass das Quadrat der Hypotenuse gleich sei dem Quadrat der beiden Katheten, war eine Erfahrung, eine Entdeckung; würde sonst der Entdecker, als er den Beweis fand, eine Hekatombe1 geopfert haben?

Wie ganz anders stellen sich jetzt aber die Entdeckungen des Naturforschers dar, seitdem der geistige Hauch einer wahren Philosophie ihn dahin geführt hat, die Erscheinungen zu studieren, um zu Schlüssen auf ihre Ursachen und Gesetze zu gelangen.

Wissenschaft als Forschung

Von einem einzelnen erhabenen Genius, von NEWTON, ist mehr Licht ausgegangen, als ein Jahrtausend vor ihm hervorzubringen vermochte. Die richtige Ansicht von der Bewegung der Himmelskörper, des Falls der Körper, ist die Mutter von zahllosen anderen Entdeckungen geworden; die Schifffahrt, der Handel, die Industrie, jeder einzelne Mensch zieht, so lange Menschen existieren, geistige und materielle Vorteile aus seinen Entdeckungen.

Das Verdienst der Geschichte um die Wissenschaft

Ohne die Geschichte der Physik zu Rate zu ziehen ist es unmöglich, sich eine Vorstellung von dem Einfluss zu machen, den die Naturforschung auf die Kultur des Geistes ausgeübt hat. In unseren Schulen prägen sich den Kindern Wahrheiten ein, deren Eroberung unermessliche Arbeiten, unsägliche Anstrengungen gekostet hat. Sie lächeln, wenn wir ihnen erzählen, wie der italienische Naturforscher eine lange, ausführliche Abhandlung darüber schrieb, dass der Schnee auf dem Ätna aus derselben Substanz bestehe, wie der Schnee der Schweizer Alpen, dass er eine Menge Beweise häufte, um zu belegen, dass beide beim Schmelzen Wasser von gleichen Eigenschaften und gleicher Beschaffenheit geben; und doch war dieser Schluss nicht so handgreiflich, denn wie sehr ist die Temperatur Siziliens von der in der Schweiz verschieden. Niemand hatte damals eine Vorstellung über die Verbreitung der Wärme auf der Oberfläche der Erde; und wenn ein Knabe ein gefülltes Glas mit einem losen Stück Papier verschließt und umkehrt, ohne dass ein Tropfen Flüssigkeit herausläuft, so setzt er nur ein zweites Kind damit in Erstaunen und doch ist es der nämliche Versuch, der den Namen TORRICELLI unsterblich macht; es ist eine Variation des Versuchs, mit welchem der Magdeburger Bürgermeister in Regensburg Kaiser und Reich in sprachlose Verwunderung setzte. Unsere Kinder haben von der Natur und von Naturerscheinungen richtigere Begriffe und Vorstellungen als PLATO; sie dürften zu spotten sich vermessen über die Irrtümer, welche PLINIUS beging.

Was die Geschichte uns lehrt – und was sie nicht lehren kann

Durch Geschichte, Philosophie und die klassischen Studien erwerben wir uns Kenntnis der Intellektuellen Welt, der Gesetze des Forschens und Denkens, der geistigen Natur des Menschen. Indem wir in den Seelen der großen und guten Menschen aller Zeiten lesen, lernen wir aus den Erfahrungen vergangener Jahrhunderte, wie die Leidenschaften zu mildern und zu regieren, wie das Herz zu sänftigen; sie führen uns zum Verständnis des Menschen der gegenwärtigen Zeit, dessen moralische Irre ewig dieselbe bleibt; sie lehren uns die Grundsätze der Religion, der Wahrheit, des Rechts in die schönste Form zu kleiden und um so tieferen Eindruck auf die Gemüter anderer zu machen. Aber die Geschichte und Philosophie konnten nicht hindern, dass man Menschen als Zauberer verbrannte; und da sich der große KEPLER nach Tübingen begab, um seine Mutter vom Feuertode zu retten, konnte er nur beweisen, dass ihr die wahren Erfordernisse zu einer Hexe völlig abgingen.

Chemie als eigenständige Wissenschaft

Wie ein Samenkorn von einer gereiften Frucht trennte sich vor siebzig Jahren die Chemie als selbstständige Wissenschaft von der Physik; mit BLACK, CAVENDISH, PRIESTLEY fängt ihre neue Zeitrechnung an. Die Medizin, die Pharmazie, die Technik hatten den Boden vorbereitet, auf welchem das Samenkorn sich entwickeln, auf welchem es gedeihen sollte.

Veränderungen und Umwälzungen durch die Chemie

Ihre Grundlage ist, wie man weiß, eine dem Anschein nach sehr einfache Ansicht über die Verbrennung. Wir wissen jetzt, was sich daraus entwickelt, welche Wohltaten, welchen Segen sie verbreitet hat. Seit der Entdeckung des Sauerstoffs hat die zivilisierte Welt eine Umwälzung in Sitten und Gewohnheiten erfahren. Die Kenntnis der Zusammensetzung der Atmosphäre, der festen Erdrinde, des Wassers, ihr Einfluss auf das Leben der Pflanzen und Tiere, knüpften sich an diese Entdeckung. Der vorteilhafte Betrieb zahlloser Fabriken und Gewerbe, die Gewinnung von Metallen steht damit in engster Verbindung. Man kann sagen, dass dadurch der materielle Wohlstand der Staaten um das Mehrfache seit dieser Zeit erhöht worden ist, dass das Vermögen eines jeden Einzelnen damit zugenommen hat. Eine jede einzelne Entdeckung in der Chemie hat ähnliche Auswirkungen in ihrem Gefolge, eine jede Anwendung ihrer Gesetze ist fähig, nach irgendeiner Richtung hin dem Staat Nutzen zu bringen, seine Kraft, seine Wohlfahrt zu erhöhen.

Beziehung der Mathematik zur Chemie

In vielen Beziehungen besitzt die Chemie Ähnlichkeit mit der Mathematik; so wie letztere uns lehrt, Felder zu vermessen, Häuser zu bauen, Lasten zu heben, ist sie, wie die Rechenkunst, ein Instrument, dessen geschickte Handhabung augenfälligen Nutzen bringt. Auf der anderen Seite befähigt die Mathematik den Menschen, richtige Vernunftschlüsse nach bestimmten Regeln zu ziehen; sie lehrt ihn eine eigentümliche Sprache, die ihm erlaubt, eine Reihe von Folgerungen auf eine außerordentlich einfache Art in Linien und Zeichen auszudrücken, die jedem verständlich sind, der diese Sprache kennt; sie lehrt ihn durch gewisse Operationen, die mit diesen Linien und Zeichen vorgenommen werden, Wahrheiten aufzufinden; sie lehrt ihn, klare Einsicht in vorher dunkle und unbekannte Verhältnisse zu gewinnen.

Der Mechaniker, der Physiker, der Astronom benutzen die Mathematik wie ein völlig unentbehrliches Instrument, welches ihnen als Mittel dient, um gewisse Zwecke zu erreichen; sie müssen in seiner Handhabung, in seinem Gebrauch so geübt sein, dass ihre Anwendung zu einer mechanischen Fertigkeit wird, die nur ihr Gedächtnis in Anspruch nimmt; aber das Instrument macht ja das Werk nicht, sondern der menschliche Geist. Sie werden zugeben, dass Ihnen ohne Urteil, ohne Scharfsinn und Beobachtungsgabe alle mathematischen Kenntnisse nutzlos sind.

Unterschied zwischen bloßer Anwendung und Wissenschaft

Sie können sich einen Menschen denken, der, begünstigt durch ein großes Gedächtnis, sich mit allen Lehrsätzen der Mathematik aufs Vollkommenste vertraut gemacht hat, der es zu einer großen Fertigkeit gebracht hat, mit diesem Instrument umzugehen, ohne dass er im Stande ist, sich selbst eine Aufgabe zu geben. Wenn Sie ihm die Aufgabe und die Bedingungen zur Lösung einer Frage geben, so gelingt es ihm, durch die Vornahme der ihm geläufigen Operationen zu einer Antwort zu gelangen, ausgedrückt in einer Formel, in gewissen Zeichen, deren Sinn ihm aber unverständlich ist, weil zur Beurteilung der Wahrheit dieser Formel ihm wieder andere Bedingungen fehlen. Dies ist ein bloßer Rechner; sobald er aber die Fähigkeit und das Talent besitzt, sich selbst eine Frage zu stellen und die Wahrheit seiner Rechnung zu prüfen, so wird er zum Naturforscher; denn wo sonst sollte die Aufgabe hergenommen sein, wenn nicht aus der Natur oder aus dem Leben?

Beobachtung macht den Wissenschaftler aus

Sie nennen ihn Mechaniker oder Astronom oder mathematischen Physiker, wenn er, von der Beobachtung ausgehend, den Zusammenhang gewisser Erscheinungen zu ermitteln, wenn er die Ursachen aufzufinden weiß, durch die sie hervorgebracht werden, wenn er die Resultate seiner Forschung nicht nur in einer Formel, in der Sprache des Mathematikers auszudrücken vermag, sondern wenn er überdies noch die Fertigkeit besitzt, eine Anwendung davon zu machen; wenn er die Formel also in einer Erscheinung wiedergeben und hierdurch ihre Wahrheit prüfen kann.

Der Astronom, der Physiker, der Mechaniker bedarf demnach zur Mathematik, die er als Instrument gebraucht, noch der Kunst, Beobachtungen zu machen, die Erscheinungen zu interpretieren; es gehört dazu die Fähigkeit, einen Vernunftschluss in einer Erscheinung, in einer Maschine, durch einen Apparat wiederzugeben, eine Reihe von Schlüssen durch Versuche zu beweisen.

Der Physiker stellt sich die Lösung einer Frage, er will die Bedingungen einer Erscheinung, die Ursachen ihres Wechsels erforschen und er gelangt, wenn die Frage richtig gestellt und alle Faktoren in Rechnung genommen sind, durch Hilfe mathematischer Operationen zu einem einfachen Ausdruck der unbekannten Größe oder des gesuchten Verhältnisses. Dieser Ausdruck erklärt, in Worte übersetzt, den Zusammenhang der beobachteten Erscheinungen der von ihm angestellten Versuche; er ist wahr, wenn er ihm erlaubt, eine gewisse Reihe von anderen Erscheinungen hervorzurufen, welche Folgerungen dieses Ausdrucks sind.

Entdeckungen kommen von guter Beobachtung, nicht durch die Mathematik allein

Sie sehen leicht ein, wie die Mathematik mit der Naturforschung zusammenhängt, dass neben der Mathematik ein hoher Grad von Einbildungskraft, Scharfsinn und Beobachtungsgabe dazu gehört, um nützliche Entdeckungen in der Physik, Astronomie oder Mechanik zu machen. Es ist ein ganz allgemeiner Irrtum, dass man die Entdeckungen der Mathematik zuschreibt; es geht damit, wie in tausend Dingen, wo man die Wirkung mit der Ursache verwechselt. So schreibt man den Dampfmaschinen zu, was dem Feuer, den Steinkohlen, was dem menschlichen Geiste angehört. Zu Entdeckungen in der Mathematik gehört dieselbe Geisteskraft, derselbe Scharfsinn, das nämliche Denkvermögen wie zur Lösung anderer schwieriger Probleme; in Beziehung auf ihre Anwendungen sind es Vervollkommnungen des Instruments, unzähliger nützlicher Anwendungen fähig, die Mathematik allein macht in der Wissenschaft der Naturforschung, von sich selbst ausgehend, keine Entdeckungen, sie verarbeitet stets nur das Gegebene, das durch die Sinne Beobachtete, den durch den Geist geschaffenen neuen Gedanken.

Der mathematischen Physik gegenüber steht die Experimentalphysik; diese ist es, welche Tatsachen entdeckt, untersucht und dem mathematischen Physiker vorbereitet. Die Aufgabe der Experimentalphysik ist, die Gesetze, die aufgefundenen Wahrheiten durch Erscheinungen auszudrücken, die mathematische Formel durch Versuche zu erläutern und den Sinnen anschaulich zu machen.

Wie die Chemie verfährt, um Fragen zu lösen

Die Chemie verfährt in der Beantwortung ihrer Fragen in derselben Weise, wie die Experimentalphysik. Sie lehrt die Mittel, welche zur Kenntnis der mannigfaltigen Körper2 führen, woraus die feste Erdrinde besteht, welche Bestandteile den tierischen und pflanzlichen Organismus bilden. Wir studieren die Eigenschaften der Körper, die Veränderungen, die sie in Berührung mit anderen erleiden. Alle Beobachtungen zusammen genommen bilden eine Sprache; jede Eigenschaft, jede Veränderung, die wir an den Körpern wahrnehmen, ist ein Wort in der Sprache.

Die Körper zeigen in ihrem Verhalten gewisse Beziehungen zu anderen, sie sind ihnen ähnlich in der Form, in gewissen Eigenschaften, oder weichen darin von ihnen ab. Diese Abweichungen sind ebenso mannigfaltig wie die Worte der reichsten Sprache; in ihrer Bedeutung, in ihren Beziehungen zu unseren Sinnen sind sie nicht weniger verschieden.

Der Name eines jeden dieser Körper besitzt für den Chemiker seine besondere Bedeutung; die Namen Schwefel, Jod, Eisen erwecken in ihm nicht nur gewisse Merkmale der Ähnlichkeit oder Verschiedenheit in der äußeren Beschaffenheit, in der Farbe, in der Gestalt, Härte usw., sondern eine Reihe von verborgenen Eigentümlichkeiten, welche erst in Berührung mit anderen Körpern zum Vorschein kommen.

Äußere und innere Eigenschaften von Körpern

Die Körper besitzen, wie die Menschen, gewisse äußere und eine ganze Anzahl verborgene Eigentümlichkeiten. An der äußeren körperlichen Beschaffenheit erkennen wir die Individuen und unterscheiden sie voneinander, aber durch die Sinne oder an körperlichen Merkmalen ist niemand im Stande, die verborgenen Eigenschaften eines Individuums, ob es sanft oder heftig, freigebig oder habgierig ist, zu erraten oder zu erkennen, weil diese erst im Verkehr mit anderen Menschen zum Vorschein kommen. So ist z. B. der Name Luft, atmosphärische Luft, für den Chemiker ein Inbegriff von Eigenschaften; kein sterbliches Auge hat je ein Luftteilchen gesehen: Denn das Sehen setzt gewisse Wirkungen auf das Auge voraus, welche die Luftteilchen nicht haben; aber sie besitzen andere Eigenschaften, welche die Chemie zur Wahrnehmung bringt und durch diese anderen Eigenschaften erkennt der Chemiker nicht bloß die Anwesenheit von Luftteilchen, wo kein anderer Mensch sie erkennen würde – er zeigt auch, dass diese unsichtbare und unfühlbare Materie aus mehreren, gleich unsichtbaren Materien zusammengesetzt ist; es gelingt ihm, durch die genaue Bekanntschaft mit ihren Eigentümlichkeiten, sie voneinander zu trennen, zu wiegen und ihre Anwesenheit jedem anderen Auge erkennbar zu machen; er zeigt Ihnen, dass die „Luftart“, die in unseren Straßenlaternen brennt, aus fünf oder sechs ganz verschiedenen „Luftarten“ besteht; er zeigt Ihnen in einem Bestandteil der Atmosphäre, welcher im Atemprozess verwendet wird, eine der wichtigsten Bedingungen des tierischen Lebens und in einem Produkt des Atemprozesses die Bedingung für das Pflanzenleben; er zeigt Ihnen den innigen Zusammenhang der sichtbaren mit der unsichtbaren materiellen Welt, von deren Dasein unsere Voreltern keine Ahnung hatten und all dies dadurch, dass er die Eigentümlichkeiten dieser Stoffe kennen gelernt hat durch sichtbare oder durch sinnlich wahrnehmbare Erscheinungen, die erst in Gegenwart oder beim Zusammenbringen mit anderen Stoffen wahrnehmbar werden, aber deutlicher wie der Ton einer Saite, die Sie anschlagen, und ebenso verständlich wie die schwarzen Linien und Schriftzeichen, womit Sie einem Freund auf die größten Entfernungen hin Ihre unsichtbaren Gedanken vor Augen bringen.

Eigenschaften der Körper ändern sich mit ihrer Zusammensetzung

Die Körper sind verschieden in ihrer Qualität; was ihre Eigenschaften uns sagen, ändert sich, je nachdem, wie sie geordnet sind; wie in jeder anderen haben wir in der eigentümlichen „Sprache“, mit der die Körper zu uns reden, Artikel, Fälle, alle Beugungen der Haupt- und Zeitwörter, wir haben eine Menge Synonyme. Dieselben Quantitäten verschiedener Elemente bringen je nach ihrer Stellung ein Gift, ein Arzneimittel, ein Nahrungsmittel, einen flüchtigen oder einen feuerbeständigen Körper hervor.

Wir kennen die Bedeutung ihrer Eigenschaften, der Worte nämlich, in denen die Natur zu uns spricht, und benutzen das Alphabet, um zu lesen. Eine Mineralquelle in Savoyen heilt Kröpfe; ich stelle an sie gewisse Fragen und alle Buchstaben zusammengestellt sagt sie mir, dass sie Jod enthält.

Ein Mann ist nach dem Genuss einer Speise mit allen Zeichen der Vergiftung gestorben; die Sprache der Erscheinungen, welche dem Chemiker geläufig ist, sagt ihm, der Mann sei an Arsenik3 oder an Sublimat4 gestorben.

Analyse als ein Mittel der Forschung

Der Chemiker bringt ein Mineral durch seine Fragen zum Sprechen; es antwortet ihm, dass es Schwefel, Eisen, Chrom, Kieselerde, Tonerde oder irgend eins der Worte der chemischen Sprache der Erscheinungen, in bestimmter Weise geordnet, enthält. Dies ist die chemische Analyse.

Die Sprache der Erscheinungen leitet den Chemiker zu Kombinationen, aus denen sich unzählige nützliche Anwendungen ergeben: Sie führen ihn zu Verbesserungen in Fabriken und Gewerben in der Bereitung von Arzneien, in der Metallurgie. Er hat das Ultramarin entziffert, jetzt geht es darum, das Wort durch eine Erscheinung wiederzugeben, das Ultramarin mit allen seinen Eigenschaften wieder darzustellen. Die Bekanntschaft mit der Zusammensetzung der Körper befähigt den Chemiker Fragen zu lösen, die man noch vor wenig Jahren für unlösbar gehalten hat.

Bedeutung für Landwirtschaft und Physiologie

Ein Feld, auf dem wir eine Anzahl von Jahren hinter einander die nämliche Pflanze kultivieren, wird in drei, ein anderes in sieben, zehn, hundert Jahren unfruchtbar für diese Pflanze; das eine Feld trägt Weizen, keine Bohnen, es trägt Gerste, aber keinen Tabak, ein drittes gibt reichliche Ernten von Rüben, aber keinen Klee!

Die Ermittlung der Zusammensetzung des Bodens und der Asche der Pflanze lässt Sie den Grund erkennen, warum der Acker bei der Kultur ein und derselben Pflanze, wenn der Boden keinen Dünger empfängt, seine Fruchtbarkeit für dieselbe allmählich verliert, warum eine Pflanze darauf gedeiht und die andere darauf fehlschlägt. Die Chemie lehrt den Grund der Wirkung des Düngers und die Mittel kennen, durch welche die Fruchtbarkeit des Feldes wieder hergestellt wird. Dies ist die angewandte Chemie.

Die Lösung der Frage, in welchem Verhältnis die organische Form abhängig ist von ihren Bestandteilen ist die Physiologie, die nächste Aufgabe der Chemie; Sie soll zeigen, welche Veränderungen die Speisen erleiden, wenn sie zu Blut werden, welchen Änderungen die Nahrungsbestandteile unterliegen, wenn sie zu Bestandteilen der Organe werden.

Das Wissen von der Physiologie ist sehr ungenau, die Vorstellungen teilweise auch falsch oder stark vereinfacht. Krankheiten werden auf Entmischung von Körperflüssigkeiten zurückgeführt.

Die Ernährungsfähigkeit einer Speise, die Wirkung eines Arzneimittels, die der Gifte, alle diese Eigenschaften sind an etwas Materielles, an bestimmte Elemente gebunden, sie sind die Träger dieser Tätigkeiten. Die vitalen Eigenschaften eines Organs, einer jeden tierischen Flüssigkeit sind abhängig von ihrer Mischung, d. h. von ihrer Zusammensetzung; eine jede Krankheitsursache hat eine Entmischung, eine Änderung in der Zusammensetzung zur Folge. Die Anwendung von Arzneien bezweckt die Wiederherstellung der ursprünglichen Zusammensetzung, ihre Wirkung hängt ab von ihrer Zusammensetzung. Es ist eine der wichtigsten Aufgaben für die Chemie, auszumitteln, wie und auf welche Weise die arzneilichen, die giftigen Eigenschaften einer Materie abhängig sind von der Natur und dem Verhältnis ihrer Elemente, in welchem Zusammenhang die Wirkung zu den Bestandteilen steht. Nach den neuesten Entdeckungen bietet der Organismus dem Forscher zwar noch Unbegriffenes genug, aber nichts Unbegreifliches mehr dar.

Kaum ist bis jetzt eine Anforderung der Gewerbe, der Industrie, der Physiologie durch die wissenschaftliche Chemie unbefriedigt geblieben. Eine jede Frage, scharf und bestimmt gestellt, ist bis jetzt gelöst worden; nur wenn sich der Fragende selbst nicht klar über den Gegenstand war, über den er Erläuterungen begehrte, blieb er ohne Antwort.

Ursachenforschung von Naturerscheinungen

Die letzte und höchste Aufgabe der Chemie ist die Erforschung der Ursachen der Naturerscheinungen, ihres Wechsels, sowie der Faktoren, welche verschiedenartige Erscheinungen miteinander gemein haben; der Chemiker ermittelt die Gesetze, nach denen die Naturerscheinungen vor sich gehen und er gelangt zuletzt, indem er alles durch die Sinne Wahrnehmbare und Erkannte zusammenfasst, zu einem geistigen Ausdruck der Erscheinungen: zu einer Theorie.

Wie man Chemie lernt

Um aber in dem mit unbekannten Zeichen geschriebenen Buch lesen zu können, um es zu verstehen, um die Wahrheit einer Theorie klar einzusehen und die Erscheinungen, worauf sie gestützt, und die Kräfte, durch die sie hervorgebracht sind, unserem Willen untertan zu machen, muss man notwendigerweise erst das Alphabet kennen lernen, man muss sich mit dem Gebrauch dieser Zeichen bekannt machen, man muss sich Übung und Gewandtheit in ihrer Handhabung verschaffen, man muss die Regeln kennen lernen, welche den Kombinationen zu Grunde liegen.

Ähnlich wie die höhere Mechanik, die Physik eine große Geübtheit in der mathematischen Analyse voraussetzt, muss der Chemiker als Naturforscher sich die vertrauteste Bekanntschaft mit der chemischen Analyse erworben haben. Alle seine Schlüsse, seine Resultate, drückt er durch Versuche, durch Erscheinungen aus.

Jeder Versuch ist ein Gedanke, der den Sinnen wahrnehmbar gemacht ist durch eine Erscheinung. Die Beweise für unsere Gedanken, für unsere Schlüsse, sowie ihre Widerlegungen, sind Versuche, sind Interpretationen von absichtlich hervorgerufenen Erscheinungen.

Kenntnisse ersetzen mechanische Geschicklichkeit

Es war eine Zeit, wo die Chemie, ähnlich wie die Astronomie, die Physik und Mathematik, weiter nichts war als eine durch Erfahrung ausgemittelte und in Regeln gebrachte Experimentierkunst; seitdem man aber die Ursachen und Gesetze kennt, die diesen Regeln zu Grunde liegen, hat die Experimentierkunst ihre Bedeutung verloren.

Das mühsame, zeitraubende Erlernen von Handgriffen und Methoden, von Vorsichtsmaßregeln in den chemischen Gewerben, in der Industrie, der Pharmazie, die sonderbaren Attribute des Chemikers früherer Zeit, ihre Öfen und Gefäße, sind zu Kuriositäten geworden; all dies erlernt sich nicht mehr, sondern es versteht sich von selbst, da man die Ursachen kennt, die es notwendig gemacht haben. Das Gelingen eines Versuches, einer Operation, hängt weit weniger von der mechanischen Geschicklichkeit als von Kenntnissen ab; das Missglücken beruht auf der mangelhaften Erkenntnis, das Entdecken auf Gewandtheit im Kombinieren und auf der Kraft, welche neue Gedanken schafft.

Studium der Chemie bei Liebig

In den Vorlesungen lehren wir das Alphabet, in den Laboratorien den Gebrauch dieser Zeichen; der Schüler erwirbt sich darin Fertigkeit im Lesen der Sprache der Erscheinungen, er lernt die Regeln der Kombinationen, sowie Gewandtheit und die Gelegenheit, sie in Anwendung zu bringen.

Sobald sich diese Buchstaben und Zeichen zu einer geistigen Sprache gestaltet haben, so verliert und verwischt sich ihre Bedeutung nicht mehr. Mit ihrer Kenntnis ist er ausgerüstet, um unbekannte Länder zu erforschen, sich überall zu belehren und Entdeckungen zu machen, wo ihre Zeichen gelten; sie ist das Mittel zum Verständnis der Sitten, Gewohnheiten, der Bedürfnisse, die in diesen Gegenden herrschen. Er kann zwar auch ohne die Kenntnis dieser Sprache die Grenzen dieser Länder überschreiten, allein er setzt sich zahllosen Missverständnissen und Irrtümern aus. Er fordert Brot, und man gibt ihm einen Stein.

Die Medizin, die Physiologie, die Geologie, die Experimentalphysik, sie sind diese unbekannten Länder, deren Gesetze, deren Einrichtungen und Regierungsformen er kennen lernen will. Ohne die Sprache der Erscheinungen zu kennen, ohne die Kunst, sie zu interpretieren, bleibt ihm nichts darin zu entdecken übrig, als die Kenntnis der Formen und äußeren Beschaffenheiten.

Verhältnis der Physiologie zur Chemie

Die bedeutungsvolle und mächtige Bewegung in der neueren Physiologie ist darauf gerichtet, die vorhandenen Mängel zu beseitigen und Brücken für den Übergang der Chemie in dieses Gebiet zu erbauen; die Kenntnis der äußeren Formen und der mechanischen Vorgänge befriedigt die Physiologen in unserer Zeit nicht mehr, sie sind durchdrungen von der Wichtigkeit und Unentbehrlichkeit einer tieferen, inneren, einer chemischen Einsicht; aber ist diese denkbar oder möglich ohne Kenntnis unserer Sprache?

Wenn manche minderbegabten Physiologen der Chemie den Vorwurf machen, dass alle unsere Resultate ihnen nutzlos, unfähig einer nützlichen Anwendung für sie wären, so kann man sicher sein, dass sie ihren Sinn und ihre Bedeutung nicht verstehen; für sie wäre es ebenso unmöglich, ein Buch in deutscher Sprache, aber in hebräischen Buchstaben geschrieben, zu lesen, wenn sie diese Buchstaben nicht kennen.

Bemerken Sie nicht, dass die Physiologie von vielen Medizinern in ganz gleicher Weise wie die Chemie gering geachtet wird? Dass ihr die Medizin die gleichen Vorwürfe macht und zwar mit demselben Unrecht?

Es gibt in der Tat Ärzte und medizinische Schriftsteller, welche behaupten, dass eine auf exakte Kenntnis zu begründende Wissenschaft der diätetischen und medizinischen Praxis unmöglich sei und auf diese Voraussetzung begründen sie das Recht, das „Wesen des Lebens“ auf ihre eigene Art zu erklären; sie bemühen sich, die mangelhaften Vorstellungen, welche ihnen die Betrachtung gewisser physiologischer, pathologischer und therapeutischer Erscheinungen einflößt, deren innerer Zusammenhang ihnen unbekannt ist, uns als Naturgesetze, als Gesundheits- und Krankheitsgesetze aufzudrängen. Nicht das Studium der Natur, sondern das ihrer Bücher sei, so meinen sie, für die medizinische Praxis von Wert. In den Worten „Lebenskraft“ und „Lebensgewalten“ schaffen sie sich wunderbare Dinge, mit denen sie alle Erscheinungen erklären, die sie nicht verstehen. Mit einem durchaus unbegreiflichen, unbestimmten, durch klare Vorstellungen nicht begrenzbaren Etwas erklären sie, was ihnen nicht begreiflich ist! In jeder Krankheit sei, so sagen sie, ein die physiologischen Kräfte befeindendes, selbstständiges Kraftwesen tätig! Und da eine exakte Einsicht in die physiologischen Vorgänge der Gesundheit, Krankheit und Heilung nimmer zu hoffen, so beruhe die Diätetik und Therapie vorzüglich auf der Kenntnis dessen, was in ähnlichen Fällen genützt und geschadet und die Naturwissenschaften nebst Physiologie, Chemie und Anatomie dienten zunächst nur zur Vermehrung der Merkmale der Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten! Nur ihrer Systeme wegen, nur zur Feststellung ihrer Vorstellungen über Ähnlichkeit und Unähnlichkeit von Krankheitserscheinungen oder Nützlichkeit und Schädlichkeit von Arzneiwirkungen verdienten diese Wissenschaften einige Beachtung. Indem sie von vornherein auf die Quelle alles Wissens, auf eine exakte Naturerkenntnis verzichten, halten sie sich für die Propheten des Lichts und ihrem sich vergötternden Geiste erscheint auch der bescheidenste Widerspruch als Zeichen von Atheismus.

Derjenige, welcher den gegenwärtigen Standpunkt der Naturwissenschaften nicht kennt, dürfte, von dergleichen Aussprüchen verleitet, sich leicht der Ansicht hingeben, dass die Naturwissenschaften, die Physiologie und Chemie vor Jahrhunderten bereits entwickelt und auf ihrem Höhepunkt sich befanden, dass die Naturkräfte erforscht, ihre Gesetze festgestellt und alle Bemühungen gescheitert seien, durch sie eine exakte Einsicht in die Vorgänge des Lebens zu gewinnen und dass der Weg, um zu dieser Einsicht zu gelangen, stets der richtige gewesen sei. Wäre dies der Fall, so würde ein Vernünftiger vielleicht zu dem Ausspruch verleitet werden können, eine solche Einsicht sei nimmer zu hoffen, ohne dass dieser Mangel an Hoffnung eine „Unmöglichkeit“ einschließt; aber die physiologischen und chemischen Forschungen auf dem Gebiet der Heilkunst und Diätetik sind erst in ihrer Kindheit, aber kaum begonnen, haben sie die volle Überzeugung befestigt, dass beide eine auf exakter physiologischer Einsicht beruhende wissenschaftliche Grundlage haben, dass die Vorgänge im lebendigen Leib auf Naturgesetzen beruhen und ein jeder Tag bringt Entdeckungen, welche beweisen, dass sie erforschbar sind. Die Wahrheit ist, dass es vor Jahrtausenden ausgezeichnete Ärzte gab, welche von Anatomie nichts wussten, und dass seit vielen Jahrhunderten mit Erfolg Krankheiten geheilt worden sind, ohne dass man die Natur und das Wesen derselben kannte, so wie man denn noch heute nicht weiß, was „Fieber“ oder „Entzündung“ ist; aber dem Schluss, dass eine exakte Einsicht in diese Vorgänge unmöglich sei, fehlt heutzutage alle und jede Grundlage.

Gegen die Medizin, die keine Wissenschaft ist

Der Arzt, welcher die Medizin nicht als Wissenschaft, sondern als Experimentierkunst erlernt hat, erkennt keine Prinzipien, sondern nur Regeln an, aus der Erfahrung entnommen, was in diesen und jenen Fällen gut und nicht gut wirkte. Nach dem Warum, nach den Ursachen fragt die Experimentierkunst nicht.

Von welchem Standpunkt aus würden aber die abnormen, die krankhaften Zustände im menschlichen Organismus beurteilt werden, wenn uns die normalen mit genügender Sicherheit bekannt wären, wenn wir völlig klare Vorstellungen über die Verdauungs-, Assimilations- und die Exkretionsprozesse hätten? Wie ganz anders würde die Behandlungsweise der Krankheiten sein! Ohne richtige Vorstellungen über Kraft, Ursache und Wirkung, ohne praktische Einsicht in das Wesen der Naturerscheinungen, ohne gründliche physiologische und chemische Bildung ist es kein Wunder, dass sonst verständige Menschen die widersinnigsten Ansichten verteidigen, dass in Deutschland die Lehre von HAHNEMANN aufkommen, dass sie Schüler in allen Ländern finden konnte. Der Verstand allein schützt selbst Nationen nicht vor Aberglauben, aber das Kind verliert mit der Entwicklung seines Geistes und seiner Kenntnisse die Furcht vor Gespenstern.

Ärzte müssen den Weg der Wissenschaft gehen

Kann man von solchen Männern erwarten, dass sie aus den Entdeckungen der Chemie und Physiologie auch nur den kleinsten Nutzen ziehen, kann man sie für fähig halten, auch nur die unbedeutendste Anwendung davon zu machen, sie, die nicht das Wesen der Naturforschung mit philosophischem Geist erfassen, die nicht gelernt haben, die Sprache der Erscheinungen zu interpretieren? Sie und ihre Geistesverwandten verdrießt es, dass die Wahrheit so einfach ist, obwohl es ihnen mit aller Mühe nicht gelingt, sie praktisch zu nutzen.

Um das Wesen der Lebenskraft zu ergründen und ihre Wirkungen zu begreifen, müssen die Ärzte genau den Weg verfolgen, den man in der Physik und Chemie mit so großem Erfolg betreten hat.

Das Wesen der Elektrizität

Sicher gab es keinen Zustand der Materie, welcher dem körperlichen und geistigen Auge verborgener und dunkler war, wie der, welchen wir mit elektrisch bezeichnen. Ein Jahrtausend seit der Entwicklung der Physik ist vorübergegangen, ehe der menschliche Geist nur eine Ahnung von der ungeheuersten Naturgewalt hatte, die an allen Veränderungen der anorganischen Natur, an allen Prozessen des pflanzlichen und tierischen Lebens Anteil nimmt.

In Folge unermüdlicher Untersuchungen, unabgeschreckt durch Schwierigkeiten ohne Zahl, erwarb sich der Naturforscher ihre genaueste Bekanntschaft und machte sie zu seiner Dienerin; er weiß jetzt, dass sie mit Wärme, Licht und Magnetismus von einer Mutter stammt, durch sie hat er sich die Geschwister untertan gemacht, sie folgen seinem Ruf, mit ihrer Hilfe sendet er seine Gedanken in die größten Entfernungen mit der Schnelligkeit des Blitzes, er lockt damit die edelsten Metalle aus ihren ärmsten Erzen, durch sie gelang es ihm zuerst, die wahre Natur der Bestandteile des Erdkörpers zu ergründen, er setzt mit ihrer Hilfe Schiffe in Bewegung und vervielfältigt mit ihr Gegenstände der Kunst.

Eine Kraft lässt sich nicht sehen, wir können sie mit unseren Händen nicht fassen; um sie in ihrem Wesen und ihrer Eigentümlichkeit zu erkennen, müssen wir ihre Äußerungen studieren und ihre Wirkungen erkennen. Die einfache Beobachtung reicht aber hierzu nicht aus, weil der Irrtum stets an der Oberfläche liegt, die Wahrheit muss tiefer gesucht werden. Wenn wir eine Erscheinung, eine Tatsache falsch auffassen, unrichtig anknüpfen und auslegen, so heißt dies einen Irrtum begehen; wir schützen uns aber gegen Irrtum, wenn wir unsere Auffassung, die Auslegung der beobachteten Erscheinungen prüfen, wenn wir uns bemühen, ihre Wahrheit zu beweisen. Die Bedingungen, unter welchen die Erscheinung wahrgenommen wird, müssen erforscht, sind sie erkannt, so müssen sie geändert werden; der Einfluss dieser Änderung muss Gegenstand von neuen Beobachtungen werden. Auf diesem Wege wird die erste Beobachtung berichtigt und dem Geiste klar, der Phantasie darf nichts überlassen werden. Der wahre Naturforscher erklärt und erläutert durch Tatsachen, durch Erscheinungen, deren Auffindung und Entdeckung seine Aufgabe ist, er lässt seinen Gegenstand sprechen. Kein Phänomen für sich allein genommen erklärt sich aus sich selbst, aber das, was damit zusammenhängt, wohl beobachtet und geordnet, führt zur Einsicht. Unverrückbar fest muss man im Auge behalten, dass eine jede Erscheinung ihren Grund, eine jede Wirkung ihre Ursache hat. (F. BACON VON VERULAM.)

Die Meinung, dass es der Schöpfungskraft der Natur möglich sei, aus verwitterten Gebirgsarten, aus faulenden Pflanzenstoffen die mannigfaltigsten Pflanzen, ja selbst Tiere ohne Samen zu erzeugen, der Horror vacui, der Spiritus rector, die Annahme, dass in dem lebendigen Tierkörper Eisen und Phosphor erzeugt werde, sie sind nur Folgen des Mangels an Untersuchungen gewesen, es sind Ausflüsse der Unwissenheit, der Trägheit und Unfähigkeit, den Ursprung oder die Ursachen aufzufinden. Eine einfache Wahrnehmung oder Tausende, die nicht in Zusammenhang gebracht sind, haben keine Beweiskraft. Wir haben kein Recht, uns Ursachen durch die Einbildungskraft zu schaffen, wenn wir in der Auffindung derselben auf dem Wege der Forschung scheitern und wenn wir sehen, dass die Infusorien5 aus Eiern entstehen, so bleibt uns nur noch zu wissen übrig, auf welchen Wegen sie sich verbreiten.

Richtige Vorgehensweise schützt vor Irrtum

Von dem Augenblick an, wo wir der Einbildungskraft allein die Führung überlassen und ihr das Recht zuerkennen, die noch übrig bleibenden Fragen zu lösen, hört die Forschung auf. Die Wahrheit bleibt unvermittelt; dies wäre noch das kleinste Übel, das schlimmste aber ist, wenn die Phantasie an ihre Stelle ein hartnäckiges, bösartiges, missgünstiges Ungeheuer, den Irrtum, setzt, welcher der Wahrheit, versucht sie endlich sich Bahn zu brechen, entgegentritt, sie bekämpft und zu vernichten strebt; immer und zu allen Zeiten stand die alte Lüge an der Tür, wenn die junge Wahrheit Einlass begehrte; so war es zu GALILEIS Zeit und ist es jetzt noch überall, in allen Wissenschaften, wo man Meinungen für Beweise gelten lässt. Wenn wir, unsere Unvollkommenheit erkennend, gestehen, dass wir mit unseren gegenwärtigen Hilfsmitteln die Frage nicht lösen, die Erscheinung nicht erklären können, so bleibt sie ein Problem, an welchem Tausende nach uns, eifrig und voller Mut, ihre Kräfte versuchen. Der Erfolg ist, dass sie früher oder später gelöst wird.

Mit der Erklärung befriedigt sich der Geist, der für wahr gehaltene Irrtum bringt dessen Tätigkeit, ganz wie die Wahrheit selbst, zur Ruhe.

Die Phantasie schafft in hunderttausend Fällen hunderttausend Irrtümer und nichts ist schädlicher für die Fortschritte der Wissenschaft, nichts ist hemmender für die Einsicht, als ein alter Irrtum, denn es ist unendlich schwer, eine falsche Lehre zu widerlegen, eben weil sie auf der Überzeugung beruht, dass das Falsche wahr sei. Es war gewiss der vernünftigen Naturforschung nicht angemessen, Bildungs-, Ernährungs- und Sekretionsprozesse im Organismus zu erklären, ehe man die Nahrungsmittel und die Quellen kannte, aus denen sie stammen, ehe man Eiweiß, Käsestoff6, Blut, Galle, Gehirnsubstanz etc. zuverlässigen Untersuchungen unterworfen hatte. Alles dies sind ja sonst nur Namen, deren Buchstaben man höchstens kennt; ehe man ihre Eigenschaften und ihr Verhalten, ehe man die Metamorphosen kannte, die sie in Berührung mit anderen Körpern erleiden, ehe man sie mit einem Wort zum Sprechen gebracht hatte, durfte man erwarten, dass sie uns etwas sagen würden?

Die Ursache der Lebenserscheinungen ist eine Kraft, die nicht in messbaren Entfernungen wirkt, deren Tätigkeit erst bei unmittelbarer Berührung der Nahrung oder des Blutes mit dem zur Aufnahme oder ihrer Veränderung geeigneten Organ wahrnehmbar wird. In ganz gleicher Weise äußert sich die chemische Kraft, ja es gibt in der Natur keine Ursachen, welche Bewegung oder Veränderungen bewirken, keine Kräfte, die einander näher stehen, wie die chemische Kraft und die Lebenskraft. Wir wissen, dass chemische Aktionen überall eintreten, wo sich überhaupt verschiedenartige Körper berühren; vorauszusetzen, dass eine der mächtigsten Naturkräfte an den Prozessen in dem lebendigen Organismus keinen Anteil nehme, obwohl sich gerade hier alle Bedingungen, unter denen sie sich tätig zeigt, vereinigen, würde gegen alle Regeln der Naturforschung sein. Weit entfernt sind aber Gründe für die Ansicht zu haben, dass die chemische Kraft in der Weise sich der Lebenskraft unterordne, dass ihre Wirkungen für unsere Beobachtungen verschwinden. Sehen wir in dem Atmungsprozess die chemische Kraft des Sauerstoffs z. B. in jeder Zeitsekunde in ihrer vollen Wirksamkeit; der Harnstoff, das Allantoin, die Säure in den Ameisen und Wasserkäfern, die Oxalsäure, das flüchtige Öl der Baldrianwurzel, das Öl der Blüte der Spiraea ulmaria, das flüchtige Öl der Gaultheria procumbens sind Produkte des Lebensprozesses; aber sind es, so muss man fragen, Produkte der Lebenskraft?

Wir sind im Stande, durch die chemische Kraft alle diese Verbindungen hervorzubringen; aus dem Kot der Schlangen und Vögel erzeugt die Chemie die kristalline Substanz der allantoischen Flüssigkeit der Kuh, aus verkohltem Blut machen wir Harnstoff, aus Sägespänen Zucker, Ameisensäure, Oxalsäure, aus Weidenrinde das flüchtige Öl der Spirae ulmaria, das Öl der Gaultheria, aus Kartoffeln die flüchtige ölartige Säure der Baldrianwurzel.

Dies sind Erfahrungen genug, um die Hoffnung zu begründen, dass es uns gelingen wird, Chinin und Morphin, die Verbindungen, woraus Eiweiß oder die Muskelfaser besteht, mit allen ihren Eigenschaften hervorzubringen.

Unterscheiden wir die Wirkungen, welche der chemischen Kraft, von denen, welche der Lebenskraft angehören, und wir befinden uns auf dem Weg, um Einsicht in die Natur der letzteren zu gewinnen. Nie wird die Chemie im Stande sein, ein Auge, ein Haar, ein Blatt zu erzeugen. Wir wissen aber mit Bestimmtheit, dass die Entstehung von Blausäure und Bittermandelöl in den bitteren Mandeln, von Senföl und Sinapin im Senf, von Zucker im keimenden Samen, Resultate chemischer Zersetzungen sind;7 wir sehen, dass ein toter Kalbsmagen mit Hilfe von etwas Salzsäure auf Fleisch und hartgekochtes Eiweiß gerade so wirkt, wie ein lebendiger, dass beide löslich, d. h. verdaut werden. Alles dies berechtigt zu dem Schluss, dass wir auf dem Weg der Naturforschung zu einer klaren Einsicht über die Veränderungen gelangen werden, welche die Nahrungsmittel im Organismus erleiden und über die Wirkung der Arzneimittel.

Ohne ein genaues Studium der Chemie und Physik werden die Physiologie und Medizin in ihren wichtigsten Aufgaben, in der Erforschung der Gesetze des Lebens und der Hebung und Beseitigung von anomalen Zuständen im Organismus, kein Licht erhalten. Ohne Kenntnis der chemischen Kräfte kann die Natur der Lebenskraft nicht ergründet werden; der wissenschaftliche Arzt wird dann erst von der Chemie Hilfe erwarten können, wenn er im Stande sein wird, dem Chemiker regelrechte Fragen zu stellen.

Die Industrie hat aus der Kenntnis der Chemie unübersehbare Vorteile gezogen; die Mineralogie ist seit der Zeit, wo sie auf die Zusammensetzung der Mineralien und das Verhalten ihrer Bestandteile Rücksicht nahm, zu einer neuen Wissenschaft geworden; es ist unmöglich, Fortschritte in der Geologie zu erwarten, wenn nicht mehr wie bisher, und zwar in gleicher Weise wie in der Mineralogie, die chemische Beschaffenheit und Zusammensetzung der Felsarten Rechnung getragen wird. Die Chemie ist die Grundlage der Landwirtschaft; ohne die Bestandteile des Bodens, der Nahrungsmittel der Gewächse, zu kennen kann an eine wissenschaftliche Begründung derselben nie gedacht werden.