Gerold Trank, ein neun und dreissigjähriger Historiker, arbeitet als Sekretär der angesehenen „Stiftung für die Ausbreitung humanistischer Ideale“. Vor über hundertfünfzig Jahren gegründet, finanziert die Stiftung mit Geldern, die sie von der Wirtschaft erhält, kulturelle Aktivitäten, die im Einklang mit der herrschenden Ordnung stehen.
Während er in einer Sitzung des Stiftungsrats gefangen ist, wird Trank von einer mächtigen Flut von Gedanken überwältigt. Verzweifelt erkennt er, dass sein Leben sinnlos zerrinnt. Hin und her gerissen zwischen Anpassung und Auflehnung, zwischen Begründungen seines jetzigen Daseins und extremen Fluchtszenarien, findet er am Ende einen Ausweg, der ihn selbst überrascht.
Andreas Pritzker, geboren 1945, ist Schweizer, Physiker und Schriftsteller. Bisher sind von ihm erschienen: „Filberts Verhängnis“ (Roman, 1990), „Das Ende der Täuschung“ (Roman, 1993), „Eingeholte Zeit“ (Erzählung, 2001), „Die Anfechtungen des Juan Zinniker“ (Roman, 2007) sowie „Allenthalben Lug und Trug“ (Roman, 2010). Er war Mitherausgeber des REFUNA-Jubiläumsbuchs „1/3 Technik, 1/3 Politik, 1/3 Psychologie” (2004) und verschiedener Texte in erzählter Geschichte. Zudem hat er in Zusammenarbeit mit Zeitzeugen die „Geschichte des SIN” (2013) verfasst.
Das geräumige Zimmer ist weiss verputzt, sein Teppichboden ist taubengrau. Die leeren Wände erinnern an eine Kinoleinwand, der Boden an die Steinplatten eines antiken Forums. Die Stuckatur der Zimmerdecke stammt noch aus der Zeit, als die Villa erbaut worden ist. Sie stellt von Bändern umschlungene Blumen dar und sieht aus, als wenn lebendige Natur durch eine Verwünschung in totem Gips erstarrt wäre.
In der Mitte des Zimmers steht ein sieben Meter langer, weiss lasierter Eichentisch, umringt von Stühlen aus verchromtem Stahlrohr mit weinrotem Bezug. Einige Male pro Jahr setzen sich an diesem Tisch angesehene Männer für einen Tag zusammen und zelebrieren ihre Rituale. Sie breiten zu Papier gewordene Ideen darauf aus und liefern sich Wortgefechte. Heute ist ein solcher Tag.
Alles an der Einrichtung passt zusammen, obschon der Raum niemals gesamthaft gestaltet worden ist. Die neuen Stühle, beispielsweise, hat der jetzige Präsident ausgesucht. Das einzige Gemälde hingegen, das die Stirnseite des Raumes beherrscht, der Tisch, der Teppichboden, die Farbe der Wände gehen auf seine Vorgänger zurück. Die Einrichtung hat sich scheinbar zufällig ergeben. Dennoch wird nur zu deutlich, dass sie sich an einer alteingesessenen Ordnung orientiert.
Der Raum ist dank einer Reihe von hohen Fenstern sehr hell. Die Fensterfront gewährt einen weiten Blick über die Stadt. So hat es der Erbauer der Villa gewünscht: Dem Dasein der gewöhnlichen Menschen entrückt, ohne Tuchfühlung mit Handel, Arbeit und der Befriedigung von Bedürfnissen, aber dennoch alles im Auge behaltend.
Wie immer an Sitzungstagen hat der Hauswart in der Frühe alle Fenster aufgesperrt, und nun weht die angriffig frische Luft des Sommermorgens ungehindert herein. Zudem hat er Flaschen mit Mineralwasser – eine schweizerische Marke – und Gläser auf den Tisch gestellt. Die Flaschen stehen ungeöffnet und stramm wie antretende Soldaten da, die Gläser blitzsauber, jungfräulich, mit der zum Kuss bereiten Öffnung nach unten.
Drei Aschenbecher sind über den Tisch verteilt. Sie tragen das Signet einer schweizerischen Grossbrauerei und passen auf den ersten Blick keineswegs hierher. Bedingt durch ein Missgeschick haben sie sich dennoch ihren Platz erobert. Früher hat es nämlich nur einen Aschenbecher gegeben – ein Stück aus kostbarem Kristall – den Oederlein immer für sich beanspruchte. Als Berglass einmal darum bat, um seine schwarz gebrannte Pfeife darin auszuklopfen, stiess Oederlein das Ding so schwungvoll über den Tisch, dass es über die Kante kippte und am Boden zerschellte. Danach wies Brockstätte Trank an, dem Hauswart zu sagen, er solle genügend Aschenbecher beschaffen. Als Brockstätte die volkstümlichen Werbeträger zum ersten Mal erblickte, verzog er das Gesicht und rief: „Wo sind wir hier eigentlich, etwa in einer Brasserie?“ Doch gerade da kam Oederlein ins Zimmer, sah die Glasschalen, ergriff eine davon, streichelte sie mit seinen wurstigen Fingern liebevoll und lobte Brockstätte wegen der gelungenen Wahl. Er sei, erklärte Oederlein, zwar mehr dem Rotwein zugetan, aber wenn er ein Bier trinke, dann immer von dieser Brauerei.
Als Erster betritt auch heute Dr. phil. Gerold Trank den Raum. Mit seinem taubengrauen Anzug und der weinroten Krawatte wirkt er wie eine Fortsetzung der Einrichtung. Er fröstelt, schreitet sogleich zu den Fenstern, schliesst sie und wünscht sich, für einmal einfach stehen bleiben und die Aussicht auf sich wirken lassen zu können. Auf Schönwetterszenerien fällt er immer wieder herein. Im heiteren Morgenlicht ausgebreitete Städte, fruchtbare, gelbgrüne Ebenen, das blaue Meer. Solche Ansichten gaukeln ihm vor, es existiere fern von seinem eigenen, grauen Alltag eine wunderschöne Wirklichkeit. Sie wecken seine Sehnsucht und vermitteln ihm gleichzeitig das beunruhigende Gefühl, diese Schönheit sei für ihn unerreichbar.
Übrigens, alle, die nicht vollkommen blind durchs Leben laufen, begeben sich, wenn sie das Sitzungszimmer erstmals betreten, geradewegs zu den Fenstern und beteuern, der Fernblick sei prächtig. Dies, obschon sie in Wirklichkeit nur das Naheliegende beschäftigt, nämlich Verdauung, Geld oder sexuelles Verlangen. Besser so. Bei längerem Blick in die Ferne verlieren sich manche Menschen nur zu leicht.
Trank ist geübt darin, seine Wünsche wegzustossen. Er hat schliesslich Pflichten, die zu erfüllen sind, jeden neuen Tag, so auch heute. Er wendet sich dem massiven Tonbandgerät zu und prüft dessen Funktionen. Dann probiert er den lichtstarken Hellraumprojektor aus. Sind Schreibstifte in allen Farben vorhanden? Gewiss. Befindet sich in der Geräteschublade eine Reservelampe? Auch das. Gut so.
Das alles ist sehr, sehr wichtig. Denn einmal hat die Lampe mit einem klackenden Geräusch ihr bisschen Geist aufgegeben. Ausgerechnet während eines Vortrags von Nationalrat Oederlein, dem Vorsitzenden und Inhaber der wegen ihres Erfolgs viel gerühmten Gomser-Werke.
Und keine Ersatzlampe greifbar.
Präsident Biland lehnte sich stirnrunzelnd zurück. Brockstätte eilte beflissen durchs Zimmer und durchstöberte die Geräteschublade. Keine Lampe. Oederlein erklärte eisig: „Herr Präsident, meine Herren, ich habe mein Referat sorgfältig vorbereitet und bin nicht bereit, ohne Projektor weiterzufahren.“
Der Vortrag drehte sich, für Trank unvergesslich, um „die kulturelle Versorgung der Bevölkerung in Alpentälern mit engem Horizont“. Oederlein war im Begriff, ein Bildungsprogramm auf die weisse Wand zu projizieren, das mit der Unterstützung der lokalen Geistlichkeit entstanden war. Und weshalb die lokale Geistlichkeit und nicht die lokale Lehrerschaft? Gerade als er zur Begründung ansetzte, passierte es.
Der Präsident sagte: „Herr Oederlein, entschuldigen Sie bitte, ich bin enorm verärgert.“ Er blickte Trank an, der sich hinter das Tonbandgerät duckte, und rief: „Schaffen Sie augenblicklich eine Ersatzlampe herbei, wie, ist Ihre Sache, hopphopp, im Laufschritt.“
Also sprang Trank auf und eilte zum Hauswart. Dieser weilte nicht in der Pförtnerloge, sondern zusammen mit einem Monteur im Heizungskeller. Trank fand die beiden, weil es blechern durchs Treppenhaus herauf schepperte. Er stiess atemlos hervor: „Entschuldigung, aber die Sache ist ausserordentlich dringend.“
Nicht für den Hauswart. Der zündete umständlich seinen ausgegangenen Stumpen an, knurrte barsch „Augenblick!” durch die Zähne und fingerte weiter mit dem grinsenden Monteur am Brenner herum.
Trank sah sich schon ins nächste Schulhaus eilen und um eine Ersatzlampe betteln, doch endlich bequemte sich der Hauswart, vom Keller emporzusteigen. In seiner Loge wühlte er lange in einem Schrank und tauchte schliesslich mit der richtigen Packung auf. Zielstrebig drängte er Trank aus dem Weg und marschierte ihm voran ins Sitzungszimmer.
Dort war eine Diskussion darüber im Gang, ob solche Pannen der Unzulänglichkeit der Technik oder jener des Personals zuzuschreiben seien.
Der Hauswart ersetzte gemütlich die Lampe. Er entflammte seinen Stumpen von neuem und entfernte sich. Dabei dankte ihm der Präsident überschwänglich, und Brockstätte winkte ihm nach.
Trank bemerkte die Zeichen, und sie bekümmerten ihn. Jetzt würde die Schuldfrage unvermeidlich auf ihn zukommen. In seinem Innersten fühlte er sich ohnehin immer schuldig.
Der Präsident sprach: „Das ist das letzte Mal, dass ich Ihnen so eine dumme Panne durchgehen lasse. Hier ist Zeit zwar nicht Geld, da wir ehrenamtlich wirken, aber gerade deswegen erwarte ich von Ihnen, dass Sie sorgfältig damit umgehen. Sie sind mir dafür verantwortlich, dass wir unsere Sitzungen störungsfrei abhalten können.“
Um den Tisch herum nickten alle ausser Hartmann, der sich über seine Akten beugte.
Aber war die Reservelampe nicht Sache des Hauswarts? Für kurze Zeit quälte Trank die Einsicht, dass ein erprobter Praktiker, der es unter anderem verstand, die Heizung zu betreiben sowie die Reinmachefrau zu betreuen, noch dazu beides erfolgreich, viel schwerer zu ersetzen war als ein Sekretär. Doktoren der Philosophie, die nach einer derartigen Stellung gierten, gab es im Überfluss.
Heute Morgen ist das Wetter herrlich, aber Gerold Trank leidet unter Magenschmerzen unklarer Ursache. Könnte auch das Herz sein, hat er gelesen. Der Schmerz nimmt seine Eingeweide in den Griff, so wie das Leben Trank in den Griff nimmt. In dieser Verfassung ist er gar nicht erpicht auf Menschen. Er wünscht sich an eine einsame Küste mit weitem Blick auf zeitlose, in langen Wellen dahin rollende Wassermassen. Sie würden seine Schmerzen bestimmt fort spülen.
Zuvorderst stehen im Augenblick allerdings seine Aufgaben als zweiter Sekretär der 'Stiftung für die Ausbreitung humanistischer Ideale'. Das ist bestimmt kein einsichtiger Name. Und nur wenn Trank bekannt gibt, er arbeite für die SAHI, nicken die Zuhörer verständnisvoll.
Als erstes Mitglied des Stiftungsrates betritt Erziehungsrat Professor Berglass das Zimmer – einsneunzig gross, massig, Glatze mit grauem Haarkranz, Knubbelnase, weich fallender Vollbart. Hat er nicht einen Sokrateskopf, wenn er die randlose Brille ablegt? Damit ist die Ähnlichkeit mit dem Weisen aber auch schon zu Ende. Berglass ist, sagen wir es ruhig, geschwätzig. Ein Mann mit einem unbegrenzten Vorrat an Zeit. Bei seinen Aussagen holt er immer sehr weit aus, unter zehn Minuten schafft er es in keinem Fall. Nachher weiss dennoch niemand, worauf Berglass eigentlich hinaus wollte.
Berglass ist immer der erste Stiftungsrat, der erscheint. Nur so kann er sich den von ihm begehrten Platz sichern. Er setzt sich umständlich hin, oben am Tisch, nahe beim Stuhl des Präsidenten. Nachdem Trank sich zu ihm hinbegeben hat, erhebt er sich ebenso umständlich und schüttelt Trank minutenlang die Hand. Gleichzeitig beklagt er sich über die im Lauf des Tages zu erwartende sommerliche Hitze, die stockende Fahrt in die Stadt und die Mühe, einen Parkplatz zu finden. Kein Wunder. In diesen unguten Zeiten besitzen bereits die Sekretärinnen und Ladenmädchen eigene Autos und verstopfen damit alle Strassen. Während er spricht, blickt er Trank nicht etwa an, sondern behält die Türe im Auge. Und als Gewerkschaftssekretär Hartmann eintritt, bricht er seine bitteren Ausführungen zur Frauenemanzipation einfach ab und wendet sich dem Ankömmling zu.
Trank kehrt zum unteren Tischende zurück, an seinen angestammten Platz, den er mit dem Tonbandgerät teilt.
Dennoch begrüsst Hartmann zuerst ihn, wobei er, von Berglass abgewandt, eine verschwörerische Miene aufblitzen lässt. Er will damit ausdrücken, dass er Trank als Angehörigen der unteren Klassen anerkennt.
Trank hat herausgefunden, dass es nur sehr dicke oder sehr dünne Gewerkschaftssekretäre gibt. Im normalen Umfang sind sie scheinbar nicht zu haben. Hartmann gehört zu den Ersteren. Er setzt sich zu Berglass, der die ganze Zeit mit ausgestreckter Hand und ein wenig blödem Lächeln auf ihn gewartet hat und nun erneut anfängt mit dem sommerlichen Wetter, der stockenden Fahrt in die Stadt und der Mühe, einen Parkplatz zu finden, wobei er diesmal jedoch seinen Unmut über die Motorisierung der weiblichen Angestellten ausklammert. Mit seiner Schilderung vermag er allerdings keine Spur von Mitgefühl zu wecken. Hartmann ist ehemaliger Bahnbeamter und stolz darauf, keinen Wagen zu besitzen.
Nacheinander treffen die weiteren Stiftungsräte ein. Alles Herren in vorgerücktem Alter, so dezent gekleidet, dass Hartmanns schwarze Lederjacke und Professor Berglass' einst massgeschneiderter, nun formloser Cordanzug nicht hierher passen. Um den Tisch herum werden Hände geschüttelt, gepflegte, weiche, unterschriftsgeübte Hände. Präsident Biland tritt mit Brockstätte zusammen auf, und dieser erkundigt sich bei Trank über das Durcheinander hinweg sehr laut, ob er auch wirklich alles genaustens kontrolliert habe. Zum Schluss erscheint Nationalrat Oederlein, der alle begrüsst – ausser Trank.
Nun zückt der Präsident einen silbernen Kugelschreiber aus der Brusttasche. Er fängt an, damit penetrant auf den Tisch zu klopfen, bis das Geplauder verebbt und sich die grauhaarigen Köpfe, wie von unsichtbaren Kräften gesteuert, ihm zuwenden. Er spricht: „Meine Herren, ich bin berüchtigt dafür, Sitzungen pünktlich anzufangen. Ich habe, wenn's sein musste, auch schon ganz allein angefangen, doch heute ist dies, dank Ihrer erfreulichen Disziplin, nicht notwendig.“ Er sagt jedes Mal dasselbe. Immer lächeln die Stiftungsräte verbindlich, und Trank findet es peinlich. Biland fährt fort: „Ich bin froh, dass Sie vollzählig erschienen sind, geht es doch heute um eine bedeutsame Angelegenheit, nämlich um unsere Beiträge zur 700-Jahrfeier der Eidgenossenschaft.“