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Inhalt

Einführung

Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ ist ein in Ostpreußen entstandenes Kirchenlied aus dem 17. Jahrhundert zu einem älteren Text von Georg Weissel (1590– 1635). Das Lied gehört sowohl in der evangelischen Kirche (Evangelisches Gesangbuch Nr. 1), in der römisch-katholischen Kirche (Gotteslob Nr. 107) als auch in vielen evangelischen Freikirchen (FL Nr. 179, MG Nr. 233) zu den bekanntesten und beliebtesten Adventsliedern und wurde auch in andere Sprachen übersetzt, beispielsweise im Jahre 1853 von Catherine Winkworth ins Englische unter dem Titel „Lift up your heads, ye mighty gates“. Kaum jemand macht sich bewusst, dass mit dem besungenen Tor der Eingang in das Himmlische Jerusalem gemeint ist. Als Torszenen, Himmelspforten, Porta Coeli (auch Ianua Coeli) oder Himmelstore ist dieses Architekturdetail in allen Materialien dargestellt worden: auf Miniaturen, Glas, Leinwand, in Stein, Holz, Elfenbein etc.

Torszenen zeigen vom Himmlischen Jerusalem lediglich ein Tor. Dabei steht pars pro toto das einzelne Tor für die gesamte Himmelsstadt. Selten ist wirklich nur ein Tor zu sehen, meist sind auch angrenzende Wandpartien oder zumindest ein Turm beigegeben. Dabei muss dieses „Rumpf-Jerusalem“ nicht notgedrungen einfach gestaltet sein, sondern Torszenen können, insbesondere in der Gotik, zu eigenständigen Kunstwerken heranreifen, auf denen man viele ungeahnte Einzelheiten erkennen kann. Bei Altären der Zeit um 1450 übertrafen sich die Meister in der Darstellung ornamentierter Prachtportale. Dann wieder wurden die Zugänge jedoch einfach, schlicht dargestellt – sei es aus Kostengründen, sei es, weil eine solche Darstellung der christlichen Tugend der Bescheidenheit entsprach (ein Beispiel ist das Paderborner Weltgericht von 1520 (S. 30). Zu dieser Zeit waren Tore häufig Bestandteil von großformatig angelegten Gerichtsszenen: links symbolisiert das Himmlische Jerusalem das ewige Leben, rechts ein Höllenschlund oder Drache den ewigen Tod, dazwischen sitzt oder steht meist Christus als Weltenrichter.

Auf eine Besonderheit soll noch hingewiesen werden: Die meisten Eingänge sind auch Ausgänge. Nicht so das Tor zum Himmlischen Jerusalem: ähnlich wie das Höllentor geht man nur einmal in diesen Ort hinein, ohne ihn jemals wieder zu verlassen. Er ist der End- und Schlusspunkt der menschlichen Pilgerreise. Diese ist keine einsame Angelegenheit: So gut wie immer sind Torszenen mit Personen verbunden, entweder den Geretteten in der Stadt oder den Einlass Begehrenden vor der Stadt, gelegentlich auch mit Engeln (schöne Beispiele etwa auf Seite 6, 10, 27, 43).

Lectionarium missae s. petri montis majoris (um 1100)

Latin 889 aus der Französischen Nationalbibliothek ist eine lateinischsprachige Apokalypsenhandschrift mit einer ungewöhnlichen Repräsentation des Himmlischen Jerusalem. Drei Fantasiesäulen werden auf Folio 5v von drei Bögen überspannt, in welchem das Agnus Dei erscheint. Links misst ein Engel die Architektur, bzw. die Größe der Stadt. Die Bogenführung, aber vor allem die leuchtenden Farben, verweisen auf einen mozarabischen Einfluss, möglicherweise nicht direkt, sondern über die weit verbreiteten Beatus-Apokalypsen. Das würde erklären, weshalb apokalyptische Thematik hier überhaupt dargestellt wurde. Ein Lectionarium missae oder Epistolae et Evangelia totius anni ist ein Messbuch und damit das wichtigste liturgische Buch der mittelalterlichen Kirche. Es enthält eine Ordnung, wie eine Messe korrekt durchzuführen ist und beinhaltet die Lieder, die dabei zu singen sind. Darstellungen des Himmlischen Jerusalem in dieser Literaturgattung sind eine große Ausnahme, und auch hier handelt es sich um eine kaum benutzte Prachtausgabe, die für die zahlreichen, mehrmals täglich zu haltenden Messen viel zu kostbar gewesen wäre.

Die spätottonische Handschrift entstand um 1100 in Montmajour im französischen Département Bouches-du-Rhône, einige Kilometer nordöstlich von Arles, im dortigen Benediktinerkloster Saint-Pierre. Aufgrund des 1030 erhaltenen „Pardon de Montmajour“, das zur Erteilung eines Ablasses berechtigte, wurde die kleine Abtei Saint-Pierre zu einer vielbesuchten Pilgerstätte: die Einnahmen stiegen und ermöglichten eine kostbare Kunstsammlung.

Jean-Paul Laroche (Hrsg.): L’âge de l’enluminure: l’Apocalypse de Saint-Sever, Orléans (1960).