Das Buch
Das Märchen von Frau Holle gehört zu den beliebtesten Märchen weltweit. Hinter der Geschichte eines braven Mädchens, das für seine hausfraulichen Fähigkeiten großzügig belohnt wird, verbirgt sich ein uralter Mythos. Wilfried Richert hat die Symbole dieses Märchens bis in ihre Einzelheiten entschlüsselt und vielfältige Verbindungen zum Große-Göttin-Kult aus frühester Zeit der Menschheitsgeschichte nachgewiesen. Die Beschreibung spiritueller Erfahrungen an den heiligen Orten der Frau Holle am Hohen Meißner rundet die Erforschung des Frau-Holle-Mythos ab. Dadurch kann der Autor eindrucksvoll belegen, welche konkreten Antworten dieses Märchen auf ewig aktuelle (Über-)Lebensfragen gibt.
Dass der Frau-Holle-Mythos heute wieder auf vielfältige Weise unter uns lebendig ist, wird an vielen Beispielen aufgezeigt.
Der Autor
Wilfried Richert, 1949 geboren, lebt seit 1979 am Fuße des Frau-Holle-Berges, dem Hohen Meißner in Nordhessen.
Forscht seit 1992 zum Thema „Frau Holle“. Mitarbeit im Morgane-Zentrum seiner Frau Ute Wilke-Richert, die als Diplomingenieurin und Ethnologin seit mehr als zehn Jahren geomantisch sowie spirituell-schamanisch arbeitet und Seminare zu diesen Themen leitet.
Oberstudienrat i.R., 35 Jahre Tätigkeit als Lehrer für Geschichte, Politik, Betriebs- und Volkswirtschaftslehre.
Langjähriger Leiter der Schulprogrammentwicklung.
Nebenberuflich zeitweise Selbstversorgungslandwirtschaft betrieben. Mitarbeit in Umweltschutzorganisation und lokaler Radiostation. Atlantiküberquerung und Südamerikareise mit der Familie. Mitautor des Reisebuchs: „So war das nicht geplant. Eine außergewöhnliche Familienreise.“ (ISBN 978-3-8334-8524-4)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
© 2015 Alle Rechte bei Wilfried Richert
Satz, Umschlagdesign, Herstellung und Verlag:
BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7386-9877-0
für Ute
Nach einem Jahrhundert der Frauenemanzipation gehört ein Text zu den beliebtesten Geschichten der Deutschen, der das Ideal der braven Hausfrau feiert: das Märchen von Frau Holle. Es steht auf der Märchen-Hitliste weit oben und wurde 2006 sogar zu Deutschlands schönstem Märchen erkoren.
Ein unscheinbares Mädchen aus kleinen Verhältnissen, schön, gehorsam und arbeitsam, gelangt durch Fleiß und gute Haushaltsführung zu Reichtum (vgl. Abb. 1).
Das soll das Vorbild sein, von dem noch im 21.
Jahrhundert den Kindern – vor allem Mädchen – vor dem Schlafengehen erzählt wird? Wie kann das sein?
Denken moderne Eltern nicht darüber nach, was sie ihren Kindern da vorlesen? Oder treibt hier eine romantisch verklärte Heile-Welt-Sehnsucht ihr Unwesen?
Oder aber geht es uns mit dem Frau-Holle-Märchen so wie auf einem Waldspaziergang mit dem Förster? Wir sehen den Weg, die Bäume, das Sonnenlicht. Aber erst, wenn der Förster uns darauf aufmerksam macht, bemerken wir Tierspuren im Unterholz, entdecken einen gut getarnten Reiher am Seeufer, erkennen am Wuchs der Pflanzen die geologischen Besonderheiten des Waldbodens. Wir nehmen plötzlich Dinge wahr, für die wir vorher blind gewesen sind. Birgt das Frau-Holle-Märchen auf vergleichbare Weise Geheimnisvolles, das wir bislang übersehen haben und allenfalls nur erahnen?
Haben wir uns jemals gefragt, wie es möglich sein kann, dass eine Holle, die unter der Erde wohnt, Schnee vom Himmel fallen lassen kann? Ist uns aufgefallen, dass es in diesem Märchen keinen Mann gibt, obwohl doch der Prinz oder der König zur Grundausstattung von Märchen gehört? Welche weiteren blinden Flecken gibt es noch in unserer Holle-Wahrnehmung?
Märchen erzählen nicht nur Geschichten. Ihre Bilder und Symbole enthalten Botschaften aus alter Zeit. Sie holen Erinnerungen aus dem Unbewussten, die über Jahrhunderte wenn nicht gar Jahrtausende von Generation zu Generation überliefert wurden, und schaffen eine Atmosphäre, die Mythen aus grauer Vorzeit in uns zum Klingen bringt. Märchen überliefern Inspirationen, die uns von menschlichen Gesellschaften durch die Eingeweihten früherer Zeiten überliefert wurden.
Was also erzählt uns das Frau-Holle-Märchen wirklich?
„Ein echtes Märchenbild hat immer einen doppelten Boden, unter welchem sich – wie bei allen Geheimfächern – das Wesentliche versteckt.“
(Marcus Kraneburg)
Ich möchte Sie einladen, mit mir auf eine Entdeckungsreise in dieses „Geheimfach“, in den verborgenen Kern des Frau-Holle-Mythos zu gehen. Wir werden erleben, dass trotz der vordergründigen Geschichte eines braven Mädchens, das für seine Tugend großzügig belohnt wird, nichts vom Urwissen in diesem Märchen verloren gegangen ist. Es will nur entdeckt werden. Und Sie werden sehen: der Jahrhunderte alte mythische Kern des Frau-Holle-Märchens hat uns auch und gerade heute Wichtiges zu sagen.
Wie kommen wir dem Frau-Holle-Mythos näher?
Ich habe zwei Zugänge zum Frau-Holle-Mythos genutzt. Zum einen habe ich die einzelnen Bilder des Frau-Holle- Märchens herausgearbeitet und die enthaltenen Symbole so genau wie möglich entschlüsselt und in ihrem Zusammenhang dargestellt. Ich gehe dabei so weit wie möglich über die bisher bekannten Deutungsversuche hinaus und beziehe auch die spirituelle Ebene ein.
Als zweiten Zugang zum Holle-Mythos ergänze ich die Aussagen des Märchens um die Botschaften der heiligen Orte der Frau Holle am Hohen Meißner. Ich beschreibe diese Orte und berichte von den spirituellen Erfahrungen, die meine Frau Ute und ich an diesen Orten seit rund zehn Jahren gemacht haben. Schließlich führe ich beides dann zusammen zu einem neuen umfassenden Verständnis des Frau-Holle-Mythos.
Diesen Frau-Holle-Mythos allein auf eine „streng wissenschaftliche Weise“ verstehen zu wollen, wäre so, als ob man den langen Weg zum Kern des Märchen-Themas und zur Frau Holle auf einem Bein erwandern wollte. Nutzen wir also „beide Beine“: die (kritisch zu betrachtenden) wissenschaftlichen Aussagen zum einen und unsere Intuition, unsere Phantasie, unseren Spürsinn, unsere Resonanz zum anderen.
Fragen wir uns also, was das Frau-Holle-Märchen in uns zum Klingen bringt! Und folgen Sie mir zu den heiligen Orten der Frau Holle und spüren Sie mit mir, was sie uns zu sagen haben.
Ich darf Ihnen schon jetzt verraten, dass wir auf diesem Weg überraschende und neue Antworten auf die Frage finden werden, warum dieses Märchen heute immer noch so beliebt ist, obwohl seine verstaubt anmutende Fassade so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint.
Um den in einem Märchen enthaltenen Mythos entschlüsseln zu können, muss man seine Wahrnehmungsfähigkeiten erweitern. Darum geht es in den folgenden beiden Kapiteln.
Da die Brüder Grimm das Holle-Thema in ihrem Sinn stark bearbeitet haben, nehme ich Sie dann mit auf einen kurzen Ausflug in die Welt der Brüder Grimm, um ihnen hinter die Kulissen schauen zu können.
Auf diese Weise erfahren Sie, von welchen Überlegungen ich bei der Entschlüsselung des Frau-Holle-Märchens ausgegangen bin.
Im Anschluss an die Entschlüsselung der Symbolik des Märchens stellt sich die Frage, wen oder was die Frau Holle darstellt. Die heiligen Orte der Frau Holle am Hohen Meissner in Nordhessen geben uns dazu auf spirituellem Wege erste Hinweise, über die ich im 6.
Kapitel berichte.
Anschließend gehe ich der Frage nach, wie der Frau-Holle-Mythos in Form der Verehrung der Großen Göttin über Jahrhunderte seinen Weg bis in die heutige Zeit finden konnte. Abschließend fasse ich zusammen, welche konkreten Antworten das Frau-Holle-Märchen auf ewig aktuelle (Über-)Lebensfragen gibt und auf welche Weise Frau Holle heute unter uns lebendig ist.
Das Wesentliche einer nicht-intellektuellen Überlieferung, wie sie Märchen, Mythen und Symbole darstellen, können wir auf rein intellektuellem Weg nicht erkennen. Märchen bedienen sich einer symbolischen Sprache, in der durch die Schilderungen der Außenwelt religiöse und philosophische Ideen und Erfahrungen der Seele ausgedrückt werden.
Oft sind die in verschiedenen Kulturen gebrauchten Symbole einander ähnlich, weil sie auf Sinneswahrnehmungen und emotionale Erfahrungen zurückgehen, die den Menschen aller Kulturen gemeinsam sind (vgl. Erich Fromm: Märchen, Mythen, Träume). So gibt es universale Symbole wie Feuer, Wasser, Erde, Luft, die alle Menschen verstehen, weil sie elementare Gefühle repräsentieren.
Je nach Erfahrungshintergrund können aber durchaus unterschiedliche Aspekte im Vordergrund stehen, so kann Feuer als Symbol sowohl für das Wärmende als auch das Vernichtende stehen. Bezogen auf das Frau-Holle-Märchen heißt dies, dass der Backofen und das Brot zum Beispiel nicht wörtlich zu verstehen sind, sondern als Symbol für etwas ganz anders stehen.
Logisch lässt sich nicht erschließen, warum Goldmarie dem Backofen mitten auf einer blühenden Wiese begegnet. Ein Sinn ergibt sich nur über die Entschlüsselung des Backofens als Symbol im Rahmen des erzählten Zusammenhangs. Dazu sind Phantasie und Vorstellungsvermögen erforderlich. Mit einer rein realistischen, rationalen Herangehensweise wäre ein Sinn nicht zu erkennen.
Dass Symbole gerade auch in unserer so rationalen Welt (oftmals unbewusste) Wirkungen auf uns haben, beweisen uns die Marketing-Fachleute jeden Tag aufs Neue. Ein Krokodil auf einem Pullover, ein Jaguar oder ein Stern auf der Motorhaube, welche Botschaften übermitteln uns diese Symbole über ihre Besitzer, was bedeuten solche Symbole für uns? Auch dass wir uns z. B. bei der Begrüßung die Hand geben, ist eine (unbewusste) symbolische Handlung. Sie zeigt unserem Gegenüber, dass wir unbewaffnet sind und ihm offen begegnen wollen.
Da sich Märchen einer symbolhaften Sprache bedienen, gilt für sie Ähnliches wie für die heiligen Schriften der Religionen. „Das heilige Buch (…) ist ein Kryptogramm, wie man das nennt, ein Buch der Symbole. Es sagt uns, dass wir die Wirklichkeit nicht einfach so verstehen können. Wenn wir das versuchen, entschwindet sie am Horizont. (…) Der Koran lässt das Offensichtliche aus, und das fordert vom Leser eine gewisse Arbeit. Genau wie die großen Kunstwerke. Und die Idee, die dahinter steckt, ist, dass man mit dieser Arbeit in neue Bereiche des Bewusstseins vordringt, Bereiche, in die man niemals käme, wenn man sein Wissen als Babykost zu sich nähme.“ (Anthony McCarten in: Englischer Harem).
Dies gilt nicht nur für die heiligen Bücher der Menschheit, sondern auch für die Kunst. „Der Wert eines Gemäldes gründet nicht in der Qualität der Leinwand und der Farben, sondern die materiellen Bestandteile des Bildes sind lediglich Träger und Vermittler einer Idee eines inneren Bildes des Künstlers. Leinwand und Farbe ermöglichen dabei die Sichtbarwerdung des sonst Unsichtbaren und sind so physischer Ausdruck eines metaphysischen Inhaltes.“