Die Welt mit eigenen Augen gesehen
Herzlichen Dank
meiner lieben Frau Sabine,
meinem Freund Jürgen
und all denen, die zum
Entstehen dieses Buches
beigetragen haben.
Schon als Kind wollte ich unsichtbar mitfliegen, wenn im Herbst die Kraniche oder Wildgänse hoch am Himmel wie ein Pfeil ihre Routen zogen. Es war immer mein Traum, diese wunderschöne Erde selbst zu erleben, nicht nur durch Bücher oder Filme. Ich brannte darauf, mein Herz und meinen Verstand für die Kulturen anderer Völker zu öffnen, mich auf diese Weise reich zu machen. Aber wie sollte das gehen im Osten Deutschlands, in der DDR? „Reisefreiheit“ war ein Fremdwort. Es gab nur beschränkte Möglichkeiten innerhalb des Ostblocks. Auch wir DDR-Journalisten waren in dieser Hinsicht nicht privilegiert, es sei denn, man hatte den „richtigen“ Posten. Ich erinnere mich, wie ich mir einmal kräftig „den Mund verbrannte“, weil ich in der Redaktion äußerte: „Ein Journalist, der nicht reisen darf, ist ein Krüppel.“ Der Traum vom Erkunden ferner fremder Welten blieb, wahr werden aber konnte er erst nach der Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten. Mein jüngerer Sohn fragte mich einmal Jahre vor der Wende, ob denn Deutschland wieder ein „einiges Vaterland“ werden würde. Ich antwortete ihm: „Ja, gewiss, aber ob ich das jemals erleben werde… Du, ja!“ 1971 schrieb ich ein Gedicht mit dem Titel „Neid“: „Wie ich die Vögel beneide…“ – sie kennen keine Grenzen, brauchen keinen Pass. Als wir dann einen Pass für die ganze Welt in den Händen hatten, sparten meine Frau und ich unser Geld vor allem für Reisen und für das dazugehörende Hobby Fotografie. Die Idee, Reiseberichte zu verfassen, kam mit wachsendem Interesse der Familie und Freunde. So entstand für mich das eigene Genre „Reisebriefe“, in denen meine ganz persönliche Sicht auf das Erlebte festgehalten ist. Aus dem Zuspruch erwuchs die Vision, einen Teil dieser Briefe zu veröffentlichen. Ausgewählte Fotos sollen die Aufzeichnungen noch anschaulicher machen. Natürlich bin ich mir darüber im Klaren, dass vieles, was ich da aufgeschrieben habe, nichts Neues ist – Reiseliteratur gibt es wie Sand am Meer, aber nicht meine „Reisebriefe“…
Lassen Sie sich von der Lektüre überraschen.
Ihr Walter Vorwerk
Berlin, 2014
(Griechenland – 08.09.-29.09.1992)
Es war gar nicht unsere Absicht zu verreisen. Ich war fix und fertig von all dem Theater um eine neue Arbeitsstelle, nachdem ich zu jenen Leuten im Funkhaus in der Nalepastraße, der ehemaligen DDR-Rundfunkfestung, gehörte, die „strukturbereinigend abgewickelt“ wurden. Dabei hatte ich den neuen Rundfunk im alten Haus mit aufbauen helfen, hatte sogar einen Redaktionsleiterposten bekommen. Und dann das: als Überbrückung, die Fühler nach einer neuen Arbeitsstelle auszustrecken, genehmigte man mir eine ABM-Stelle. Eine „Arbeitsbeschaffungsmaßnahme“ ist das – ein toller Begriff… Diese Stelle wurde als „Gnade“ deklariert. Der Sarkasmus bestand darin, dass ich an meinem alten Schreibtisch saß und hier als Journalist vollwertige Arbeit leisten durfte, obwohl mir die neue Führung das Gefühl vermittelte, ein Nichts zu sein. Dazu kam noch das Auseinanderdriften der Ehe…
In all den Querelen hatte ich den Beistand einer Frau, die nicht minder unter der deprimierenden Situation zu leiden hatte (seit 1999 sind wir verheiratet). Ein guter Freund, ein Berliner Kinderarzt, rät uns dringend, in den Urlaub zu fahren. Wohin aber? Mit den paar D-Mark kann man keine großen Sprünge machen. „Ich stelle Euch kostenlos unser Ferienhaus auf der griechischen Insel Rhodos zur Verfügung, im Dorf Lachania.“ Dieses Angebot überrascht uns völlig, wir nehmen es an.
Wenn man eine Reise ins Unbekannte antritt, sollte man sich, bevor man ins Flugzeug, in die Bahn oder ins Auto steigt, darüber informieren, wohin man fliegt oder fährt. Und schlecht ist es auch nicht, sich ein paar Grundwörter in jener Sprache anzueignen, die dort gesprochen wird, dass zum Beispiel „Guten Tag“ – „kalimera“ heißt, „efcharisto pali“ – „Dankeschön“ und „parakalo“ – „Bitteschön“. Das macht nicht nur einen guten Eindruck, sondern schlägt Brücken zwischen Gast und Gastgebern. Uns hat das jedenfalls immer geholfen, auch bei dieser, unserer ersten gemeinsamen Reise.
Rhodos ist mit gut 1.400km2 die viertgrößte Insel Griechenlands (78km lang und 38km breit), die Hauptinsel der Inselgruppe Dodekanes in der Ägäis. Hier leben rund 117.000 Einwohner, die Hälfte davon allein in der Stadt Rhodos. Die Geschichte der Insel ist ein Geschichtsbuch für sich – angefangen mit der Erstbesiedelung etwa 2800 vor Christus bis hin zur turbulenten Geschichte der Antike und dem Hin und Her vor, während und nach dem 2. Weltkrieg. Türken, Italiener, Briten und Deutsche hinterließen ihre Spuren. 1948 wurde die Insel wieder endgültig griechisch. Ihr Name kommt vom Wort „Rose“, womit hier zumeist der Hibiskus gemeint ist, der in allen Farben leuchtet. Aber es gibt auch noch eine andere, ziemlich einleuchtende Namenserklärung: Der griechischen Mythologie nach ließ der Meeresgott Poseidon die Insel aus dem Meer aufsteigen. Er gab seiner Tochter, der Nymphe Rhode, den Auftrag, auf die schöne Insel aufzupassen, wenn er unterwegs war. Der Sonnengott Helios verliebte sich in Rhode und nahm sie zur Frau. Dieser Ehe sollen sieben Söhne entsprungen sein… Helios gab der Insel den Namen seiner Frau – Rhodos. Das Wappentier ist ein springender Hirsch. 1912 hatten die Italiener hier diese Tiere angesiedelt, aber auf Rhodos gibt es schon lange keine Hirsche mehr. Sie sind nur noch in Form von zwei goldleuchtenden Statuen an der Einfahrt zum Mandraki-Hafen zu finden – auf der einen Säule steht Elafos und auf der anderen Elafina. Man nimmt an, dass sie jene Stelle markieren, wo sich einst der „Koloss von Rhodos“ befunden haben soll. Aber das ist ein anderes Kapitel. Wenden wir uns unserer Reise zu.
Der Start ist hart: morgens 2.30 Uhr ruft uns der Wecker unsanft aus den Betten, denn kurz nach 4.00 Uhr müssen wir auf dem Flughafen Schönefeld sein, zwei Stunden bevor die Boeing 752 – 200 der LTU nach Rhodos abhebt. Es geht über Prag – Wien – Budapest – die Karpaten – die Rhodopen – übers Ägäische Meer – unter uns die zwölf Inseln des Dodekanes.
9.50 Uhr Ortszeit landen wir nach einer Schleife über dem Mittelmeer auf dem Diagoras-Airport von Rhodos, der etwa 16km außerhalb der Stadt liegt. Zuerst tauschen wir D-Mark in Drachmen um – der Kurs steht 1 : 120. Dann bringt uns ein Taxi ins Zentrum der Stadt. Mächtig thront auf einer felsigen Anhöhe der Großmeisterpalast, das einstige Herrschaftszentrum des Ritterordens Sankt Johannis – der Johanniter, die hier von 1309 bis 1522 das Sagen hatten, bevor sie von den Türken vertrieben wurden und sich auf der Insel Malta (als Malteser) niederließen, die ihnen Karl V. 1530 überließ. Die Türken herrschten auf Rhodos fast 400 Jahre lang. Der Palast der Ritter wurde 1856 zerstört und 1939 von den Italienern wieder aufgebaut. Zum Glück sind einige Kostbarkeiten, auch aus der Antike, im Museum erhalten geblieben – wir sehen die Prachtstücke: die kniende Aphrodite von Rhodos, eine Marmorstatue aus dem 1. Jahrhundert v.Chr. oder die Grabsäule von Tymarista und Krito. Man kann sich lange aufhalten auf den Spuren der Antike und des Mittelalters, denen man auf den noch vorhandenen Straßen im musealen Palastgelände folgt. Aber wir wollen ja weiter – nach Süden. Wie soll das gehen mit unserem Gepäck. Zum Glück haben wir uns auf Taschen und Beutel beschränkt. Bei „Filimon“ mieten wir ein Yamaha-Motorbike, das uns beide und das Gepäck problemlos befördert. Aber ich saß sechzehn Jahre nicht auf so einem Vehikel… Nach anfänglichen Unsicherheiten lässt sich das Gefährt beherrschen, zumal der Verkehr auf den Straßen und Wegen der Insel nicht aufregend ist. Vor uns liegen etwa 70km. Es geht nahe der Ostküste entlang. Man muss aufpassen, dass man vor Bewunderung der herrlichen Landschaft nicht die Konzentration aufs Fahren verliert. An der Bucht von Tsambika machen wir Rast. Wir gehen in die Kloster-Kirche, die direkt an der Straße steht. Die Kirchen sind zumeist griechisch-orthodox. Sie stehen jedermann offen und die Priester sind aufgeschlossene Leute. Das erfahren wir in Tsambika, wo uns der Kirchendiener selbstgebackenes, geweihtes Brot reicht und uns erklärt, dass es aus Sesam und mit Ouzo (einem Anis-Schnaps) gebacken sei. Es schmeckt köstlich. Die nächste Bucht bietet wieder einen Grund anzuhalten, denn an den Felsen der Bucht von Lardos bewundern wir besondere Akrobaten – wilde Bergziegen, die mit ungeheurer Geschicklichkeit auf den Felswänden balancieren und sich an den Golddisteln oder an den paar besonderen Grashalmen laben, die aus den Steinritzen sprießen. Man könnte sich weit länger hier aufhalten, aber erstens hat der Urlaub erst begonnen und zweitens brennt die Sonne unbarmherzig auf Kopf und Arme, die sich langsam röten. Von rechts kommt stärkerer Wind, von links die Sonne und das Meer. Über Gennadi erreichen wir schließlich gegen 15.30 Uhr Lachania, das kleine Dorf, wo sich für drei Wochen unsere Bleibe befindet. Nachdem wir das Gepäck abgeladen haben, besichtigen wir die Unterkunft. Es ist ein orientalisches Steinhaus und mit allem ausgestattet – Küche, Wohn- und Schlafraum mit einem hochgebockten Holzbett, darunter sind Abstell- und Aufbewahrungsmöglichkeiten für unsere Sachen. Alles ist sehr spartanisch eingerichtet. Waschküche und Toilette sind außerhalb in einem Nebenhäuschen. Uns empfängt ein Zikadenkonzert und – ein Gecko, den wir „Peterle“ taufen (angelehnt an den Namen des Gastgebers). Im Garten stehen ein Granatapfel- und ein gut tragender Zitronenbaum, ein großer Mandelbaum, riesige Geranien, Agaven und hohes Gras. Unsere Aufmerksamkeit wird auf das Steinmosaik im Hof gelenkt. Es sind typisch griechische Kochlaki – Muster, die aus runden schwarzen und weißen Kieselsteinen gelegt wurden. Diese Technik geht auf die Antike zurück. Nachbarn sagen uns später, dass diese Kochlaki hier ein Vermögen wert seien. Ich erkenne sofort die asiatische Monade – das Zeichen für die Ausgeglichenheit, für das „Streben nach der Mitte“ – das Yin und Yang – man findet sie u.a. in der südkoreanischen Fahne wieder. Der Magen knurrt. Wir suchen ein Restaurant und müssen gar nicht weit gehen. Neben einer riesigen Platane befindet sich das Lokal „Platanos“. Die Mittagszeit ist längst vorbei, es wird ein frühes Abendbrot mit griechischem Salat, an dem natürlich Tzaziki nicht fehlen darf. Wir sind die einzigen Gäste. Danach schauen wir uns das Dorf Lachania an. Im Zentrum steht die orthodoxe Kirche. Die Häuser sind flach und rein äußerlich dem Haus, in dem wir wohnen, sehr ähnlich. Die Wege sind kopfsteingepflastert, wenig Asphalt, auch Lehm- und Sandwege gibt es. Wir sehen das erste Mal in unserem Leben Feigenbäume, große Kakteen mit Blüten und Früchten, Bougainvillen, Hibisken und Oleander machen die Dörfer bunt. Auf freiem Feld steht der Anis – hochgewachsene Stauden, die das Grundmaterial für das griechische Nationalgetränk, den Ouzo, liefern. Ein anderes beliebtes Getränk ist der Retsina, ein geharzter Wein. Bine findet keinen Gefallen an ihm – mir schmeckt er… nach dem dritten Glas. Im Nachbarhaus übt eine Band – wir kommen erst gegen 23.00 Uhr zur Ruhe. Die Nacht ist klar, gegen Morgen wird es etwas kühler.
Wir bereiten uns ein spätes Frühstück – erst gegen 10.00 Uhr – wir waren ganz schön „geschafft“ vom gestrigen Anreisetag. Heute müssen wir zu einem Supermarkt, das Notwendigste einkaufen. Wir fahren nach Gennadi, das ist das nächste kleine Städtchen. An der Erste-Hilfe-Station empfängt uns ein nostalgischer Gruß aus der Heimat – ein grüner „Trabbi“. Der Ort ist gepflegt, neben Altem steht auch Neues rechts und links der Straßen und Gassen. Beschaulichkeit herrscht. Junge Leute sieht man relativ selten. Sie fahren sicherlich in die Stadt Rhodos zur Arbeit. Ansonsten lebt die Insel vom Tourismus und von Viehzucht und Weinbau. Die Rentner sitzen auch hier in Gennadi vor den Bistros und gehen ihrer Lieblingsbeschäftigung nach – über Politik diskutieren, und das mit Leidenschaft… „ja, ja, die Welt ist ganz erbärmlich schlecht…“. Man trinkt dazu gespritzten Retsina, was wir uns abgucken. Bier habe ich nur holländisches entdeckt – Amstel und Heinecken. Die Umgebung ist bergig und bewaldet mit Pinien, Zypressen, Mandelbäumen und ab und zu Palmen. Die Agaven sind riesig – ihre weißen Blütenständer ragen in den Himmel. Wenige Kilometer südlich von Lachania befindet sich die Plimiri Bucht. Weit und breit niemand am Strand. Wir nutzen das angenehm warme Wasser und bleiben eine knappe Stunde im nassen Element. Ich hatte mir kurz vor Abreise in Berlin eine Schnorchelausrüstung besorgt. An der Brille hätte ich nicht sparen sollen – sie ist undicht. Dennoch erfreue ich mich an den bunten Fischen – grün und blau, einer leuchtet golden – wunderschön. Vom Grund (nicht sehr tief) hole ich ein paar braungetupfte gedrehte Muscheln – zur Erinnerung. Wir fahren schließlich mit unserem Motorbike ein Stück weiter und genießen südwestlich von Kattavia den Sonnenuntergang. Die Wellen sind hoch. Zum Schutz der Küste hat man Betonplatten ausgelegt. Auf der Rückfahrt gibt es ein Hindernis – der Kraftstoff ist alle. Ein Toyota-Transporter nimmt uns freundlicherweise mit, etwa drei Kilometer vor dem Abzweig nach Lachania. Der Roller und wir auf der Ladefläche, wir sitzen auf Gemüsestiegen. Die Nacht ist unruhig. Uns schreckt immer wieder ein knackendes Geräusch hoch – wahrscheinlich Ratten, die sich am Mandelbaum zu schaffen machen und Nüsse knacken. Unter dem Baum liegen die Schalen wie gesät. Ab und zu macht sich „Peterle“, unser Hausgecko, bemerkbar. Unangenehm sind die dicken schwarzen Schaben.
Den nächsten Tag nennen wir „Lindos-Tag“, weil wir zum interessantesten antiken Heiligtum der Insel fahren. Aber bevor es losgeht, muss Benzin in den Tank. Damit wir bis zur nächsten Tankstelle, nach Gennadi, mit dem Motorbike kommen, hilft uns ein Deutscher, der hier baut. Dabei macht er mich darauf aufmerksam, dass wir durchaus mit dem Gefährt bis Lachania gekommen wären, hätte ich den Reservehahn aufgedreht. Es folgt die berühmte Verlegenheitsbewegung an meinen Kopf und die Ausrede, dass ich eben lange nicht mehr mit so einem Rad zu tun gehabt habe. Gennadi – der Tank ist voll, es geht nach Lindos über Lardos, an unserer felsigen Ziegenbucht vorbei. Hier an der Straßenkurve steht ein Schrein. Offensichtlich gab und gibt es gerade an dieser Stelle schlimme Unfälle. Lindos hat etwa 1.000 Einwohner (als Großgemeinde 3.600). Die Stadt wurde im 11. Jh. v.Chr. von den Dorern gegründet. Sie bot ihnen einen günstigen Meereszugang. Lindos sieht man schon von weitem, denn auf einem 116m hohen Felsen steht die Akropolis. Sie wurde im 4. Jh. v.Chr. errichtet und ist damit älter als die Akropolis von Athen. Die maritime und kulturelle Blüte erreichte Lindos unter einem der Sieben Weisen Griechenlands, Kleobulos, der im 6. Jh. v.Chr. die Stadt vierzig Jahre lang regierte; heute ist sie voller Touristen – an unser Ohr dringen englische, holländische, italienische, französische, schweizerische und deutsche Sprachfetzen. Wir nehmen keinen Esel, um hoch auf die Akropolis zu gelangen, wir gehen zu Fuß, um uns die antiken Reste und die Ruinen der Johanniter-Festung aus dem 14. / 15. Jh. anzusehen. Es ist wieder so heiß, dass wir erst einmal viel Wasser trinken. Unten in der Stadt, wo emsiges Markttreiben herrscht, kaufen wir wunderbare Weintrauben und saftige Pfirsiche, die wir im klaren Springbrunnenwasser waschen. Ältere Griechinnen preisen mit viel Pathos ihre handbestickten Decken oder die buntbemalten Teller mit Motiven von Lindos an. Es geht orientalisch zu. Oben auf der Akropolis könnte man lange verweilen, wäre es nicht so drückend heiß. Uns bietet sich ein wunderbarer Blick auf die Paulus-Bucht. Der Apostel Paulus (Agios Pavlos) soll auf seiner dritten Missionsreise (die Angaben schwanken zwischen 51 und 58 n.Chr.) hier Schutz vor einem Sturm gesucht haben und dann nach Jerusalem zurückgekehrt sein. Andere Überlieferungen meinen, Paulus sei mit Lukas auf dem Weg von Ephesus nach Lykien gewesen, als ein Sturm ihn zwang, hier vor Anker zu gehen. Er brachte das Christentum auf die Insel. Diesem denkwürdigen Ereignis ist in der Bucht eine kleine Kapelle gewidmet. Von oben sieht man erst, wie wunderschön die Bucht gelegen ist. Sie ist fast vollständig von Felsen umschlossen, hat nur zwei kleine Öffnungen als Verbindung zum Meer. Auf jeden Fall lohnt sich auch ein Rundgang durch die engen malerischen Gassen von Lindos, ein Blick in die Kirche der Panagia (14./15. Jh.) oder auf die schmuckreichen „Kapitänshäuser“, die während der Türkenherrschaft von einheimischen wohlhabenden Seefahrerfamilien errichtet wurden. Kurzum, besuchst du Lindos, bringe viel Zeit mit.
Wir fahren zurück nach Lachania und genießen das erfrischende Bad im Mittelmeer. Für das Quartier wollen wir uns unseren Gastgebern gegenüber dankbar erweisen, indem wir uns am etwas „urwüchsigen“ Garten zu schaffen machen. Das hält man bei den Temperaturen nicht sehr lange aus… Eigentlich wollten wir an die Westküste, aber uns zieht es zur Halbinsel Prassonissi, zum südlichsten Zipfel der Insel. Ost- und Westküste werden hier nur durch einen einige Meter breiten Streifen voneinander getrennt. Der Weststrand ist steinig und die See bewegt, links, am Oststrand ist es ruhig und sandig. Um nach Prassonissi zu gelangen, müssen wir über Kattavia, wo wir an der Kirche einen Foto-Stopp einlegen. Dann geht es bergig über heiße staubige Wege bis etwa 500m vor die Südspitze. Mit unserem Motorbike kommen wir nicht mehr weiter durch den Sand. Wir stellen es ab und ein Jeep mit Leuten aus Düsseldorf nimmt uns freundlicherweise bis zur Steilküste mit. Dort gibt es einen Leuchtturm und ein Bistro. Zum Baden nehmen wir die Ostseite, den Sandstrand. Zwischen beiden Seiten frustriert ein Berg von Müll. Von Umweltschutz keine Spur. Alles, was nicht gebraucht wird, landet einfach in der Natur. Nach dem Essen holen wir unser Moped, fahren auf der unwegsamen steinigen Strecke zurück und bewundern das türkisfarbene Wasser an der Steilküste. Auf einem Hügel steht eine weiße Kapelle, eine Ikone zweier Heiliger hängt an der Wand, innen ist alles schlicht gehalten – eine Stätte zum Meditieren. Es geht zurück nach Lachania. Wir säubern den Mosaikhof, auch um ihn besser fotografieren zu können. Die Spaghetti von gestern schmecken wunderbar… Irgendjemand nagt nachts an den Granatäpfeln – unser Haus-Gecko „Peterle“ ist es bestimmt nicht.
Am nächsten Morgen suche ich den Schlüssel vom Motorbike. Wir wollen nach Gennadi zum Einkaufen. Schließlich finde ich ihn – er steckt im Lenkradschloss. Und das, obwohl das Gefährt draußen vor dem Tor auf der Straße geparkt ist… Das ist beruhigend. In Lachania sehen wir uns endlich den Friedhof und die Kapelle (1877) an. Weiß, rot und blau dominieren hier – das Blau kommt vom Himmel, rot liefern die Blüten und weiß sind die Steinbauten. Wir fahren über Kattavia am Südwestufer entlang Richtung Apolakia. Die Straßen sind schlecht, steinig und staubig. Es packt uns, wir müssen ins Wasser, denn die Sonne brennt auf uns nieder. Herrlich ist es in den Wellen, die Steine stören uns nicht. Sie sind bunt und vom Wasser poliert. Wunderschön auch die Strandlilien. Auf der Rückfahrt halten wir an einem Melonenfeld. Ein Bauer winkt uns heran und schenkt uns drei dieser Feldfrüchte. In Apolakia biegen wir ab Richtung Arnitha. Wir kehren in einem Café ein. Der Kaffee ist sehr stark und ohne Wasser nicht zu genießen – eben griechisch. Draußen auf der Bank sitzt ein Priester, unter seiner schwarzen staubigen Robe trägt er Jeans. Er lächelt uns freundlich zu und erlaubt mir, ein Foto zu schießen. Ich bin etwas nervös, aber das Bild ist scharf. Die Weiterfahrt nach Lachania über Gennadi wird zur romantischen Bergtour.
Kurz nach 7.00 Uhr früh weckt uns die Kirchenglocke. Wir entschließen uns, einen griechisch-orthodoxen Gottesdienst mitzuerleben. Zunächst sind wir sogar die einzigen Besucher, aber nach und nach kommen immer mehr. Jeder bekommt eine Kerze. „Papa Georgios“ – „Papa Schorsch“ – begrüßt uns mit „kalimera“ und richtet seine Blicke während der Zeremonie immer wieder auf uns – „Wie werden sich die Fremden verhalten“, denkt er vielleicht. Gesänge, Liturgie, Predigt – alles in Griechisch. Die Ikonen werden geküsst und die Kerzen aufgestellt. Das Kirchenschiff ist relativ prächtig. An der Oststirnseite befindet sich eine interessante Ikonostase. Der Heilige Georg scheint hier eine besondere Rolle zu spielen, denn wir sehen in den Kirchen oft sein Abbild. Er war es ja auch, der das Christentum von Konstantinopel (Byzanz) aus nach Kleinasien brachte. Der Gottesdienst dauert zwei bis drei Stunden. Auch seiner Frau und seinem Sohn reicht Papa Georgios das Abendmahl, bei dem ihm die Hand geküsst wird. Die Glocke läutet während der Zeremonie mehrmals. Gegen Ende wird der Blick zum Altar, der sich hinter der Ikonostase befindet, durch Türen verschlossen. Nach dem Gottesdienst kommen wir mit dem Priester ins Gespräch und richten die herzlichen Grüße unseres Gastgebers aus. „Ah, Doktor Peter!“ und ein Strahlen geht über sein Gesicht. Später treffen wir „Papa Schorsch“ an ganz anderem Ort wieder – in einem „Coffee-Shop“ mit einem Ladenteil – „My second job!“, sagt er schmunzelnd und verkauft uns Weintrauben und Auberginen, dann lädt er uns zum starken Kaffee ein.
Die Sonne steht fast senkrecht. Wir unternehmen einen Spaziergang zur Kapelle auf dem Hügel. Von hier hat man einen schönen Blick auf das Dorf Lachania. Oben gibt es Pinien und Olivenbäume, also Schatten. Unterwegs fotografiere ich eine Sonnenanbeterin, jenes eigentümliche Insekt mit den langen Greifarmen, das zur Gruppe der Fangschrecken gehört und nach der Begattung das Männchen auffrisst. Den Namen „Sonnenanbeterin“ hat das Tier sicherlich von der gebetsartigen Haltung der Greifarme, es liebt die Wärme. Wir gehen ins Quartier und machen Mittag – Aubergine (von „Papa Schorsch“) mit Jagdwurst und als Nachtisch Melone. Als die Sonne etwas tiefer steht, machen wir uns auf zur Lachania-Bucht, um ein abkühlendes Bad zu nehmen. Wir wundern uns, dass am Montag früh 7.35 Uhr die Kirchenglocke läutet und erkundigen uns: Der 14. September ist „Fest des Heiligen Kreuzes“.
Heute soll es mit dem Motorbike an einen besonderen Ort gehen – nach Mesanagros. Der Name bedeutet so viel wie „weit entferntes Feld“. Das ist ein winziges Bauerndorf, in dem fast nur noch ältere Leute leben – insgesamt weniger als hundert, es liegt auf einer leichten Anhöhe von 270m. Die meisten Dorfbewohner sind an touristisch lukrativere Orte abgewandert. Dennoch bietet dieser Ort Wertvolles und Sehenswertes – ich meine die Überreste einer Basilika aus dem 5. Jh., auf denen die Kirche Kimissistis Theokou (Mariä Himmelfahrt) aus dem 13. Jh. steht. Sie hat keinen Kirchturm und ist verschlossen, aber man bekommt den Schlüssel beim Pfarrer oder im einzigen Kafenion „O Mike“, in dem man landesüblich essen und trinken kann. „Hauptverkehrsmittel“ ist hier der Esel, mit dem man bequem durch die engen Gassen kommt. Schon allein die Ursprünglichkeit dieses Ortes ist reizvoll. Hierher verirren sich recht selten Touristen. In der Kirche kann ich ein historisches Mosaik fotografieren, alte Fresken und ein beeindruckendes Kruzifix. Auf einem Schild lesen wir, dass es sich hier um eine „Kulturstätte des griechischen Kulturministeriums“ handelt. Aber wir erfreuen uns auch an den Oleander- und Bougainvillen-Blüten. Am Himmel erscheinen nach sieben Tagen die ersten Wolken. Über einen steinigen Bergweg mit halsbrecherischen Serpentinen fahren wir nach Arnitha und weiter nach Apolakia. Wir wundern uns, dass man hier nirgendwo essbaren Wein kaufen kann, obwohl Weinlesezeit ist. Es geht weiter bis zur Westküste, an die Steilküste von Monolithos. Auf einem 240m hohen Felsen haben die Johanniter-Ritter 1467 ihre südlichste Burg errichtet. Der Großmeister Pierre d’Aubusson ließ sie 1480 bis 1489 renovieren. Die Festung wurde nie eingenommen, verfiel aber im Laufe der Zeit. Neben der Ruine steht eine kleine weiße Kapelle, die dem Heiligen Pantaleon (Agios Pantaleimos) gewidmet ist. Vom Felsen oben hat man einen malerischen Blick aufs Meer. Nach recht halsbrecherischer Fahrt kommen wir am Kap Fourni an, das auf einer Halbinsel an der Steilküste liegt. Die Sandsteinfelsen leuchten golden in der Abendsonne. Trotz der Wellen und der Steine erfrischen wir uns im Mittelmeerwasser. Wir fahren zurück nach Lachania und schaffen es gerade so, die Tankstelle in Gennadi zu erreichen. Mit dem Motorbike sind wir heute 128km gefahren. Es ist kühl geworden, so dass wir diesmal nicht wie sonst draußen unterm Zitronenbaum den Tisch fürs Abendbrot decken, sondern im Haus.
Wir sind ziemlich k.o., deshalb gehört der nächste Tag dem Relaxen, wir fahren zur Plimiri-Bucht und genießen die Sonne und das Meer. Unter Wasser begegnen mir bereits bekannte bunte Fische. Am Abend machen wir wieder einen Bummel durch das Dorf. Eine kleine Katze findet daran Gefallen, uns zu begleiten. Erst in unserer Gasse verschwindet sie. Sicherlich gehört sie den Nachbarn. Wir sitzen wieder draußen und sind fasziniert von dem unvorstellbar schönen Sternenhimmel über uns. Satelliten kreuzen über den Zenit. Sie müssen eine wahnsinnige Geschwindigkeit haben, denken wir. Nachts wecken uns die Ratten, die sich am Mandelbaum zu schaffen machen.
Vor einer Woche hatten wir in Lindos Schiffskarten für eine Fahrt von Rhodos nach Piräus / Athen und zurück gekauft. Nun also steht uns diese Fahrt bevor. Das ist die Gelegenheit, das Motorbike bei „Filimon“ wieder abzugeben. Für den Rest des Urlaubs wollen wir auf einen PKW umsteigen. Also wird das Moped gesäubert. Dabei schaut mir die kleine Katze von neulich zu, die uns nun jeden Tag besuchen kommt. Sie schreckt wie wir vor der Knallerei zurück, die ab und zu zu hören ist. Man sagt uns, es würden „große Vögel“ abgeschossen. Wir konnten allerdings nicht feststellen, um was für Vögel es sich handelt.
In der Frühe, kurz nach 7.00 Uhr, fahren wir nach Rhodos City – es sind 76km. Als wir das treue Gefährt abgeben, verrät uns der Tacho, dass wir damit 582km auf der Insel Rhodos herumgefahren sind. Mit unserem leichten Gepäck gehen wir im Mandraki-Hafen an Bord des Fährschiffes „Jalysos“. Genau mittags um 12.00 Uhr soll es in See stechen – vor uns liegen 19 Stunden Überfahrt nach Piräus, das heißt, wir sind nachts auf See. Schlafplätze haben wir nicht gekauft, sie waren uns zu teuer. Die Tour hin und zurück kostet uns zusammen rund 85 D-Mark. Die Nächte sind relativ mild, so dass wir, wie die meisten Passagiere, auf dem Oberdeck bleiben können. Das Fährschiff ist wie ein Bus, es geht an fast jeder Insel auf seiner Route vor Anker – Kós, Kalimnos, Léros, Pátmos. Das Meer ist ruhig.
Ziemlich erschlagen treffen wir am nächsten Morgen 7.45 Uhr im Hafen von Piräus ein. Mir geht Melina Mercouris Schlager durch den Kopf „Ich bin ein Mädchen von Piräus“… Mit jährlich 20 Millionen Passagieren ist Piräus der größte Passagierhafen Europas und der drittgrößte der Welt. Die Gemeinde ist ein Vorort von Athen in der Region Attika. Den Namen trägt eigentlich die bergige Halbinsel, acht Kilometer südwestlich von Athen. Die Akropolis (akro – hoch, polis – Stätte) ist schon weithin sichtbar vom Meer aus. Im Hafen steht eine große Bronzestatue – es ist ein Abbild des griechischen Feldherrn Themistokles, der die Anlage des Hafens 493 v.Chr. und eine „Lange Mauer“ zwischen Piräus und Athen bauen ließ (461 – 456) v.Chr.). Zeitig beginnt im Hafen das Markttreiben, denn mittags ist es zu heiß. Fisch, Backwaren, Obst und Handarbeiten (unter anderem Körbe, Messingartikel und Teppiche) werden angeboten, aber auch Makabres, zum Beispiel Nazisymbole, Mützen, Uniformen, Hakenkreuzbinden – wir sind schockiert. Wir laufen durch die Stadt und sind eine Stunde später auf der Akropolis. Es ist ein unvergessliches beeindruckendes Bild, vor den Zeugnissen der einstigen europäischen Hochkultur zu stehen, die einmalig klare Architektur und die Meisterschaft der bildnerischen Darstellung des Menschen der Antike zu bewundern. Weniger bewundernswert ist das, was die heutigen „Kulturmenschen“ hinterlassen – überall liegt Müll herum, auch um die unvollendet gebliebenen „Vorhallen“, die Propyläen (437 – 432) v.Chr.), oder das Parthenon (438 v.Chr.), die Kultstätte der Athena Parthenos, der Pallas Athena. Unvorstellbar, dass dieser Tempel ein Volumen von 22.500m3 hatte. Wir bleiben den ganzen Nachmittag auf der Akropolis. Wenn die Schiffs-Rückfahrt uns nicht ein Zeitlimit aufgedrängt hätte, wären wir weit länger da oben geblieben. Unsagbar schön das Erechtheion (421 – 406 v.Chr.) mit der Korenhalle, den anmutigen Frauengestalten als tragende Säulen… Wir gehen ins Museum, in dem kostbare Stücke der Antike aufbewahrt werden. Fotografieren ist erlaubt. Am Fuße der Akropolis fährt eine S-Bahn zum Hafen. Unsere Fähre, es ist diesmal die MS „Rhodos“, legt 18.00 Uhr ab. Wir sind also wieder eine Nacht auf dem Meer. Nach dem heißen und staubigen Tag wollen wir uns an Bord frisch machen und teilweise die Kleidung wechseln. Das ist nur in der Toilette möglich, die Duschräume bleiben verschlossen. Auf dem Deck fallen uns vor Müdigkeit die Augen zu.
Am Morgen erleben wir einen wunderschönen Sonnenaufgang – der Mandraki-Hafen von Rhodos ist nicht mehr weit. Die MS „Rhodos“ ist moderner als die „Jalysos“, wir brauchen nicht 19, sondern nur 14 Stunden für die Fahrt von Piräus nach Rhodos. 8.30 Uhr läuft die „Rhodos“ in Rhodos ein. Uns begrüßt das Hirsch-Ehepaar auf den Säulen. Hier also, an dieser Stelle, soll sich einst der „Koloss von Rhodos“ befunden haben, eines der Sieben Weltwunder, ein Leuchtfeuer an der Hafeneinfahrt. Es gab ihn wirklich. 304 bis 292 v.Chr. goss ihn Chares von Lindos in Bronze. Die Monumentalfigur soll 33 bis 35m hoch gewesen sein. 226 v.Chr. wurde der Koloss das Opfer eines Erdbebens und blieb Jahrhunderte lang im Hafen liegen. Als 653 n.Chr. die Araber Rhodos plünderten, verhökerten sie die Einzelteile an jüdische Händler. 900 Kamele sollen für den Transport der Bronzeteile benötigt worden sein. Vom „Koloss von Rhodos“ fehlt jede Spur…
An der Bus-Information erfahren wir, dass erst 15.00 Uhr ein Omnibus nach Kattavia fährt. Wir haben also viel Zeit, um die Stadt Rhodos zu erleben. Wir bummeln durch das Hafengelände und lassen uns noch einmal vom Flair des Großmeisterpalastes begeistern. Die Odós Ippoton, die Ritterstraße, ist die einzige spätmittelalterliche Wohnstraße des Johanniterordens, die erhalten geblieben ist. Unter dem Großmeister Foulquet de Villaret eroberten die Kreuzritter 1309 Rhodos, nachdem sie aus Jerusalem und dem Heiligen Land vertrieben worden waren. Im Hof des Palastes steht unter anderem ein über 1.500 Jahre altes, steinernes Becken, in das Kreuzritterzeichen gemeißelt sind und in dem die Christen von Arnitha getauft wurden. Die Mosaike im Innenhof ziehen auch die Aufmerksamkeit auf sich, genauso wie eine rothaarige Katze, die zwischen steinernen Kanonenkugeln schläft. Wir suchen ein Restaurant in der Fußgängerzone, was kein Problem ist, denn es befinden sich gleich mehrere nebeneinander – die Folge: der Konkurrenzkampf, das Werben um Kunden ist groß und manchmal ziemlich heftig, wie wir selbst erleben können. Man setzt „Schlepper“ ein, um Gäste zu gewinnen und nimmt die Markierungslinie zum Geschäftsnachbarn nicht so ernst. Da gibt es nicht nur Wortgefechte, da fliegen auch manchmal die Speisekarten an den Kopf des anderen. Streit aus purem Neid, denn die Leute gehen natürlich zu dem, der ein besseres Angebot hat und wo es hervorragend schmeckt. Wir essen Lamm vom offenen Grill mit griechischem Salat, köstlich. Der Bus fährt pünktlich über Archángelos, Lindos, Lardos, Asklepios, Gennadi und Lachania weiter bis Kattavia. Die Anstrengungen der Reise nach Athen sind in all unseren Knochen zu spüren – wir fallen müde in die Betten.
Als wir aufwachen wird uns klar: wir haben kein Fortbewegungsmittel mehr. Wie kommen wir am Sonntag zu einem Mietwagen für eine Woche? „Papa Schorsch“ will mit Theo reden, der ist Taxiunternehmer und vermietet auch Autos. Ein Grund, wieder in die Kirche zu gehen – den Priester freut es, uns wiederzusehen. Im Mittelpunkt des Gottesdienstes stehen diesmal zwei Kinder, die eine Weihe erhalten – so etwas wie eine Firmung. Anschließend gehen wir zu Theo, aber das Haus ist verschlossen. Später versuchen wir es noch einmal. Theos Frau ist da – jung, schlank und hübsch. Sie verspricht uns für Morgen einen „Panda“, da sei Theo zurück. „Kommt 8.30 Uhr hierher, dann wird es klappen.“ Und sie fügt lachend hinzu, dass es für Freunde von „Dr. Peter“ auch nicht so teuer wird. Wir nutzen den Nachmittag und machen uns zu Fuß auf den Weg zur Bucht. „Eine halbe Stunde werdet Ihr brauchen“, meint der Sohn von „Papa Schorsch“. Wir brauchen eine ganze Stunde, allerdings genießen wir die einzigartige Landschaft. Der Weg führt durch Schluchten und über Steppe. Den größten Teil der Strecke gehen wir in einem Wadi. Ganz sicher wird hier in der Regenzeit Wasser fließen, aber wann ist hier schon Regenzeit – auf Rhodos regnet es selten. Die Bauern bohren das Flussbett an, um Brunnen für Vieh und Felder anzulegen. Das scheint zu funktionieren. An einem der Brunnen windet sich eine Schlange. Der Strand an der Lachania-Bucht ist steinig, es ist mühsam, hier barfuß zu gehen. Als Souvenir heben wir vom Sand die Hüllen eines Seeigels, eines Seesterns und eines Seepferdchens auf. Beim Schnorcheln um die großen Steine im Wasser bin ich von Fischen „umschwärmt“. Der Weg zurück in der Abendsonne ist angenehm kühl und schön.
Am nächsten Morgen gehen wir zu „T.E.O.“ – das ist die Firma, und wir dachten schon, dass wäre der Name des Autovermieters. Wir sind zwar verabredet, aber damit nimmt man es nicht so ernst – es ist niemand da. Gleich um die Ecke wohnt Papa Georgios. Er sagt uns, dass wir den weißen „Panda“ nehmen sollen, der Schlüssel würde stecken. Dann sollen wir nach Lardos ins „T.E.O.-Office“ fahren, dort wäre der Chef, um mit uns den Vertrag abzuschließen. Wir überprüfen das Fahrzeug. Es ist innen ziemlich schmuddelig. An der rechten Rückstrahlereinheit fehlt das Plexiglas, aufgetankt ist der „Panda“ auch nicht. Ansonsten – so war der erste Eindruck – ist alles o.k. Was wir vergessen hatten zu überprüfen, sollte sich bald als folgenschwer herausstellen. Das Wort vom „special price“ fällt auch beim Chef in Lardos, aber beim genauen Hinschauen entpuppt sich dieser Preis als Hammer, denn 72 DM pro Tag für eine Klapperkiste, das ist ganz schön happig. Jedenfalls haben wir „unser Auto“ und fahren zuerst zum Tsambika-Kloster auf den Berg. Von hier oben hat man einen herrlichen Blick über die Bucht nach Kolimbia (Kap Vagia). Tsambika heißt übrigens „Feuerschein“. Der Legende nach soll ihn ein Mann auf dem Berg gesehen haben. Er ging diesem Schein nach und fand eine Ikone der Mutter Gottes. Er gelobte, hier ein Kloster zu errichten, wenn seine Frau schwanger werden würde. So geschah es – eine Tochter wurde geboren. Sie erhielt den Namen Tsambika. Ich hörte den Namen in Gennadi, als eine Mutter ihre Tochter rief. Frauen mit Kinderwunsch tragen Steine auf den Berg – davon liegen hier oben inzwischen viele. Wir tragen zwar keine Steine nach oben, aber wir tragen uns ins Klosterbuch ein. Dann fahren wir weiter nach „Epta Piges“ (Sieben Quellen). Es ist ein besonderer Flecken Erde in steinigem Gelände, wo immer Quellwasser fließt. Hier gibt es unter der Erde einen 186m langen Tunnel, durch den knietief kaltes Wasser strömt. Durch den Tunnel zu waten, in dem es stockdunkel ist, gilt als besondere Mutprobe. Ich bestehe sie… Am anderen Ende befindet sich ein kleiner glasklarer See, auf dem eine weiße Ente schwimmt. Ein Imker hat seinen Wagen am Ufer hingestellt, wir kaufen ein Glas Honig. Unsere Tour geht weiter nach Archángelos. Der Ort ist dem Erzengel Michael geweiht. Wie ein weißer Finger ragt der Glockenturm (Anfang 20. Jh.) der gleichnamigen Kirche (1845) in den Himmel. Um aus diesem größten Dorf von Rhodos eine Stadt zu machen, fehlten lange Zeit ein paar Einwohner. Mit 5.000 bekommt man nämlich erst das Stadtrecht. Inzwischen ist das Problem gelöst, denn heute leben in Archángelos etwa 7.800 Einwohner. Der Ort liegt nicht direkt am Meer, sondern auf einem 160m hohen Plateau eines Felsmassivs. Die Siedlung war für Seeräuber nicht zu sehen. 1454 und 1476 bauten sich hier die Johanniter auch eine Burg. Davon existieren nur noch 5 bis 7m hohe Mauern, die kleine Kapelle des Agios Ioannis (Apostel Johannes) und Ruinen. Archángelos hat seinen dörflichen Charakter mit seinen Gassen, den Tavernen und Cafés behalten. Die Touristen können sich von der Kunst meisterlicher Töpferei, Schuhherstellung oder Teppichweberei überzeugen. Auch wir bewundern die Fingerfertigkeit eines Töpfers. Es ist ein beschaulicher Ort, den man nicht links liegen lassen sollte. Wir fahren zur Plimiri-Bucht, um uns im Wasser zu erfrischen. Eine Schwimmflosse geht kaputt. In Gennadi kann ich neue kaufen, was jetzt mit dem „Panda“ natürlich bequemer ist als mit dem Motorbike.
Auf der Landkarte sehen wir, dass sich gar nicht weit von Lachania entfernt der höchste Berg der Insel Rhodos befindet – der „Attaviros Zeus“ (1.215m). Seine „Bezwingung“ steht für den nächsten Tag auf dem Plan. Die Erfahrungen, die wir hier machen, reichen fürs ganze Leben. Als Neulinge auf dem Gebiet des Bergwanderns begehen wir nämlich grundlegende Fehler. Aber der Reihe nach. Über Gennadi, Apolakia, Monolithos, Siona kommen wir nach Embona zum Kloster Artamiti (Moni Artamiti). Hier stellen wir unser Fahrzeug ab. Inzwischen ist es 11.30 Uhr und wir beginnen mit dem Aufstieg vom Osten her – in der Mittagsglut, im Gepäck einen halben Liter Wasser, Weintrauben und ein paar Kekse… an den Füßen Sportschuhe, ansonsten leichte kurze Kleidung. An Kopfbedeckung haben wir zum Glück gedacht. Wir sehen keinen markierten Wanderweg, deshalb gehen wir quer durch die Natur, über Stock und Stein, durch kratzendes Distelgestrüpp, an Oliven- und Bittermandelbäumen vorbei, die bald einer Geröllwüste weichen. Wir erschrecken vor einem raschelnden Geräusch und denken zuerst an Schlangen, aber das Geräusch wird lauter, es trappelt und poltert. Vor uns tauchen wilde Ziegen auf, denen der Aufstieg, der immer steiniger wird, nichts ausmacht. Uns läuft der Schweiß in Strömen. Das Wasser, das wir mithaben, ist im wahrsten Sinne des Wortes „ein Tropfen auf den heißen Stein“. Wir folgen den Trampelpfaden der Ziegen, aber der Gipfel ist auch nach dem nächsten und übernächsten Hügel nicht in Sicht. Keine Menschenseele rundum. Bine rutscht am Felsen ab und verstaucht sich das rechte Fußgelenk. Glücklicherweise habe ich an eine elastische Binde gedacht, das ist die Rettung. Nach fünf Stunden erreichen wir den Gipfel, geschwächt von der Hitze und dem Durst. Uns entschädigt der Blick von oben übers Land – oben befinden sich die Reste einer Burg. Aber so richtige Freude kommt nicht auf, weil wir an den vor uns liegenden Abstieg denken. In diesen Breiten geht die Sonne schnell unter. Es bleibt also nicht mehr viel Zeit fürs Tageslicht und im Finstern durch unbekanntes Berggelände zu laufen, ist gefährlich. Das ist uns klar, aber wir können es nicht verhindern. An Stirnlampen haben wir damals noch nicht gedacht. Wir beeilen uns, aber es wird immer dunkler. An einem Hang rutscht Bine herunter und landet in Disteln, deren Widerhaken sich in den Wertesten krallen. Erst später erfahren wir, dass es viel leichter gewesen wäre, vom Westen aus auf den Attaviros zu steigen, da gibt es auch einen Wanderweg… Unser Abstieg (ohne Wasser, den Rest tranken wir auf dem Gipfel) erweist sich als halsbrecherisch und eher für Bergziegen geeignet als für uns. Die betrachten uns neugierig. In der Ferne sehen wir einen Weg, der uns Hoffnung und Ziel ist. Als wir ihn total zerkratzt und erschlagen erreichen, ist es bereits dunkel. Wir gehen in die falsche Richtung zwischen einer Schafherde durch und müssen umkehren. Über uns dehnt sich ein herrlicher Sternhimmel mit Sternschnuppen. Vor uns ein Zaun. Wir öffnen ihn und hören an einer Steinwand ein Plätschern – Wasser. Ist es eine Quelle oder Gülle eines Schafstalls? Ich probiere – es ist Wasser. Wir füllen unsere leere Flasche und ziehen in der Dunkelheit weiter. Um die aufkommende Angst zu vertreiben, erzählen wir uns Geschichten und singen. Plötzlich stehen wir auf einer Asphaltstraße. Wo befindet sich das Kloster, an dem unter einem Olivenbaum unser Auto abgestellt ist? Rechts oder links? Wir wählen die linke Richtung. Nach etwa fünf Kilometern Marsch taucht wie Phönix aus der Asche das Kloster Artamiti auf – geschafft! In Embona hat kurz vor 22.00 Uhr noch ein Laden geöffnet – wir kaufen Wasser – welch ein Genuss… Im Quartier wird geduscht, etwas gegessen und Bine versorgt, was heißt, den Hintern von Distelstacheln zu befreien und den verstauchten Fuß mit Heparin einzureiben und neu zu wickeln. Diese unsere erste Bergbesteigung vergessen wir nie.
Nach dem aufregenden Abenteuer lernen wir eine einmalige Besonderheit von Rhodos kennen, etwas, was es nur hier gibt – wir fahren auf der Oststraße bis Afandou und biegen nach Psinthos ab. Es geht ins „Tal der Schmetterlinge“, nach Petaloudes – ein idyllisches Tal, das Ruhe hätte, wären da nicht die Touristen, die die Tausenden „Spanischen Flaggen“ (Panaxia quadripunetaria) – so heißen die Falter – sehen wollen. Von Juli bis September flattern sie hier umher, angelockt vom Duft der Amberbäume. Wenn sie sitzen, sind sie unscheinbar, man kann sie mit graubraunen Blättern oder Baumrinde verwechseln. Ihre volle Schönheit aber, das leuchtende Rot und Gelb, zeigen sie im Flug. Ich habe das Glück, dass sich so ein Falter auf mein T-Shirt setzt und wir ihn ganz nahe betrachten können. Auf einem an einen Baum genagelten Brett lesen wir, dass es verboten ist, Schmetterlinge zu fangen. Im Kloster Kalopetra, wo sich ein kleines Restaurant befindet, genießen wir auf der Terrasse den Blick über die Insel zum Mittelmeer. Bei unserer Weiterfahrt sehen wir unseren Abenteuerberg, den Heiligen Attaviros Zeus, von der Westküste aus. Hier gibt es Weinfelder und auf einem Hügel die Kreuzritterfestung Kastelos, die im 16. Jh. zum Schutz der Westküste errichtet wurde. Wir fahren nach Lachania zurück, es bläst ein kühler, kräftiger Wind, der auch am nächsten Tag anhält. Nachdem wir in Gennadi eingekauft haben, geht es zur Plimiri-Bucht. Der Wind treibt den Sand wie ein Sandstrahlgebläse auf die Haut – das tut weh. Deshalb ist das Baden eine wahre Wohltat. Wir spüren die Folgen der strapaziösen Bergbesteigung. Uns wird allmählich das Ausmaß des Abenteuers bewusst und wir betrachten den „Attaviros Zeus“ nun mit ganz anderen Augen.
Der Kalender zeigt den 25. September 1992. Nachts wachen wir auf, es stürmt und treibt uns einen brenzligen Geruch zu. Bine nimmt an, dass jemand in der kühlen Nacht einen Kamin angemacht haben könnte. „Oder es ist ein Waldbrand!“, vermute ich. Und genau das bestätigt sich am Morgen. Vor Siona tobt ein mächtiger Flächenbrand. Wir wollen zum dritthöchsten Berg, dem „Profitis Illias (Prophet Elias – 798m). Löschflugzeuge kreisen. Der Himmel ist von Rauchschwaden verhangen. Die Sonne versteckt sich dahinter. Es wird noch kühler. Wegen des Brandes wählen wir eine andere Route, nicht über Lardos – Learmon – Embona, sondern über Asklepios. Hier sehen wir wieder die Spuren der Johanniter-Kreuzritter, die eine Festung hinterließen, erbaut im 14. Jh. Die schöne byzantinische Kirche stammt aus dem Jahre 1060. Wir sind beunruhigt – am Horizont sind Rauchschwaden zu sehen. Wir fahren auf einem steinigen Weg zum Kloster Thari. Uns empfängt ein Mönch, der uns durch die Klosterkirche begleitet. Sie ist dem Erzengel Michael geweiht, der Altarraum stammt aus dem 13., die Fresken aus dem 14. Jh. Das Kloster Thari (Moni Thari) soll der Legende nach von einer byzantinischen Prinzessin gestiftet worden sein, weil ihr hier im Wald Heilung von einer schweren Krankheit widerfahren sei. Vom Kloster Thari geht es nach Laermon und von da auf 11km Feldweg bis zum Dorf Agios Isodoros (Heiliger Isidor), wo wir ziemlich dicht an den Flächenbrand heranfahren. Löschflugzeuge starten immer wieder Richtung Meer und nehmen Wasser auf, um die Flammen zu ersticken.
Später, als wir wieder in Berlin sind, schneide ich eine Zeitungsnotiz vom 27. September 1992 aus: „Auf der griechischen Ägäis-Insel Rhodos stehen mehr als 1.000 Hektar Kiefernwald in Flammen. Bei dem Feuer, das am Freitag ausbrach und bisher noch nicht unter Kontrolle gebracht werden konnte, kam der Bürgermeister des Dorfes Learmon ums Leben, wie die Feuerwehr am Samstag berichtete. Wegen des starken Windes breitet sich der Waldbrand rasch aus. Die Polizei vermutet Brandstiftung.“ Brandrodungen, um Weideflächen für die Schafe und Ziegen zu gewinnen, und das Abfackeln von dürrem Gras seien hier gang und gäbe, sagt man uns. Leider geraten diese Feuer oft außer Kontrolle. Auf unserer Fahrt zum Berg „Profitis Illias“ nehmen wir bis Embona eine Ärztin mit. Auf den Berg gehen wir zu Fuß, weil sich hier eine große Funkanlage der Armee befindet. Daneben steht eine verfallene Villa. Sonst ist nichts Besonderes zu sehen. Ich lasse vorsichtshalber meinen Fotoapparat stecken. Es geht zurück nach Lachania über Ellousa, Archipolis und Kolimbia.
Unbehagen und Sorge machen sich im Dorf breit, der Brand könnte auch Lachania erreichen. Alles sei eine Frage der Windrichtung. Auf alle Fälle soll man sich auf Schutz- und Evakuierungsmaßnahmen vorbereiten. Ausgerechnet in diese Situation platzt ein Anruf, ich solle zu einem Vorstellungsgespräch nach Frankfurt kommen, das am Tag der Abreise von Rhodos, für den 29.09. angesetzt ist. Es kämpfen zwei Seelen in meiner Brust – hierbleiben oder einen neuen Arbeitsplatz finden. Die Angst vor einer unsicheren Zukunft siegt. Ich will versuchen, durch Umbuchung zwei Tage früher nach Deutschland zu fliegen. Wir müssen also nach Rhodos… Die Nerven liegen blank – das Feuer und der ominöse Anruf – was wird aus uns… Vom Himmel schneit es weiße Asche, die Sonne ist verfinstert, die Feuersbrunst hat sich ausgedehnt, Siona und Learna sollen betroffen sein – eine riesige Fläche. Man habe die Leute evakuiert, heißt es. Jetzt sind schon sechs Feuerlöschflugzeuge im Einsatz. In der Lardos-Bucht tanken sie und fliegen zur Brandstätte – pausenlos. Die Sonne über Lachania schimmert heute Abend blutrot durch die gespenstischen Rauchschwaden. In Rhodos muss morgen geklärt werden, ob ein vorzeitiger Rückflug für mich möglich ist. Nachts können wir vor Aufregung kaum schlafen.