Für
alle
guten
Geister
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© 2014 Dr. Hans-Dieter Langer
Illustration: Dr. Hans-Dieter Langer
Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN: 978-3-7386-6879-7
Auch eine Großstadt blickt auf eine Zeit zurück, in der die Geschichte nicht geschrieben, sondern nur gelebt wurde. Dies ist die Wiege der Sagen, Legenden und Märchen ihrer Bewohner … oder der eine Teil der Chemnitzer Geisterstunde. Mit dem Einzug der Moderne sollte dieser Spuk ein Ende haben. Doch weit gefehlt, die Geister leben länger als Menschen. Und es kommen immer neue hinzu. Die Schar der Berg- und Klostergeister wird laufend ergänzt durch die der auserwählten Bürgergeister. Für die Geisterstunde steht das umfangreiche Werk „Die Schatzkammern von Chemnitz - Nur eine Saga der uralten Stadt?“1) als Pate zu Buche. Wer also mehr über den Hort und die Quellen der Chemnitzer Geisterschar erfahren möchte, der sehe dort nach oder schaue sich zur Mitternacht den Film „Wenn Steine sprechen könnten -unentdecktes Chemnitz“2) an. Der Autor beginnt mit seinem Gedicht „Die Heinzelmännchen zu Chemnitz“, das sich an die Fassung „Die Heinzelmännchen zu Köln“ von August Kopisch (1836) anlehnt und aufzeigen soll, dass diese geheimnisvollen Hausgeister nicht ausgestorben sind, nachdem sie aus Köln vertrieben wurden. Auch er, der in Chemnitz eine neue Heimat fand3), träumte einst als Kind in seinen Schlesischen Märchenstunden4) davon, als Heinzel zu wirken, doch glitten später er und seine Wichtelkameraden ebenfalls auf gestreuten Erbsen aus, wo auch immer sie es versuchten.
So bleibt für den Rest eine Prosaerzählung, genauso wie einst zu Köln5). Es heißt freilich, je geistreicher die Bürgerschaft daher kommt, desto besser geht es ihrer Kommune.
Jedenfalls gibt es dafür aktuelle Beispiele. Somit muss man sich nicht wundern, wenn der Zeiger der Geisterstunde - die natürlich standesgemäß düster daher kommt - nicht auf halbem Wege stehen bleibt, sondern auch den jüngeren Zeitgeist einbezieht.
Die Heinzelmännchen zu Chemnitz
Wie war´s zu Chemnitz ehedem?
Man ging zur Arbeit Tag um Tag,
um das Gemeinschaftsgut zu mehren
und den Sozialismus zu verehren.
Doch übersah man diese heil´ge Pflicht,
die Güter der Geschicht´ zu wahren,
denn sie drohten zu verfallen
im grauen Alltag roter Hallen.
Auf Kaßberg´s Höh´ verkamen
die stolzen Male alter Blütezeiten
und d´runter in des Berges Bauch
litt eine vergessene Geisterschar … auch.
Da kamen über Nacht die Männchen
die - einst aus Kölen war´n vertrieben
nun wieder Lust bekamen,
in einer Stadt herumzukramen.
Im Dickicht an des Kaßberg´s Hang
fanden sie den Unterschlupf und
entdeckten hier gar seltsam´ Dinge,
manch´ Mundloch und auch Pinge.
Da liefen sie zu allen Ämtern,
argumentierten dort und lamentierten,
sie stöberten in den Archiven
und redeten und schrieben.
Sie bettelten und zettelten
und spitzelten und schaufelten,
sie untersucheten und planeten
und schürfeten und mahneten.
Und eh´ der Hahn kräht´ in der Nacht
war´d ihr erstes Tagewerk vollbracht:
Im Jänner 99 ließ die Presse hoffen
die Unterwelt sei nun für alle offen.
Ein Berggnom und die Klostergeister,
Der Narrengeist des Kriegsprälaten
nebst ruhelosem Schlimpergeist,
Dämonen, Elfen, Feen und Erdengeister,
sie alle fanden ihre Meister.
Doch wie einst des Schneider´s Weib
machten sich auf zum Zeitvertreib
vier Zwerge - künstlich aufgebracht
und streuten Erbsen über Nacht.
Die Rotte hieß mit diesen Namen
Geozwerg und Bergzwerg,
Actionzwerg und Kultzwerg
und ging spontan ans Werk.
Sie verleumdeten und handelten,
verordneten und wandelten,
sie schürten den Konflikt
kraft ihrer Macht in Politikt.
Der Geozwerg, aus dem Metier,
nahm der Historie den Dreh´
und gab gar dem Chemnitzer Geschehen
ein künstlich freibergisch Ansehen.
Er erfand gleich die Geschichten
und sorgte so - mitnichten! -
dass der Untergrund der Stadt
die falsche Herkunft hat.
Er rechnete und knombelte
vermutete und mongelte,
schob hin und her die Hunderte,
verstrickte sich und konterte,
so dass man sich nur wonderte.
Im Bergzwerg fand er einen eitlen Boss,
der groß´ Anseh´n in der Stadt genoss.
Doch hatte dieser Multifunktionär
kaum eine Ahnung vom Metiär.
Als Schlossherr auf dem Berge
zog er die Fäden dieser Zwerge.
Besonders lag ihm wohl am Herzen
die Gäng´ im Berg gar auszumerzen.
Er denkelte und kritisierte,
verwechselte und liiierte,
er tratschelte und klatschelte,
und so alles ganz vermatschelte.
Der Actionzwerg, ein Execute,
sah seine Chanc` im Wirtschaftsgute
und zog sich gleich ans Land
was man so in den Bergen fand.
Mit aller Macht der Steuergelder
bestellte er für sich die Felder
und schlug im Nu
den Wichteln ihre Türe zu.
Da wäre noch ein vierter Stift,
der Kultzwerg, auch ein Bösewicht,
obgleich im Rat berufen für Kultur
gab er den Heinzeln eine Erbsenkur.
Dass sich was konnt´ bewegen
auf bisher unbekannten Wegen
im städtischen Touristenstrom
vermasselte auch dieser Gnom.
Und nahm das Salz von ungefähr
aus Kaßberg´s Bauch;
die Heinzelmännchen auch.
Es kam in der Vergangenheit bereits mehrfach am Kaßberg zu Begegnungen des Menschen mit dem Berggeist. Ob das auch für die damaligen Zeitgenossen Georgius Agricola und Georgius Fabricius zutrifft, die eine besondere Beziehung zu diesem Berg entwickelt hatten, wissen wir nicht. Wenn ja, so muss diese zumindest für Fabricius eine sehr angenehme gewesen sein, denn nach der Rückkehr von einer Italienreise im Jahr 1543 schrieb er:
“Dann empfängt uns die Stadt, vom Kaiserscepter gegründet, der den Namen verlieh das vorübergleitende Wasser, Chemnitz, mit fröhlichem Gruß, geschmiegt an die Höhe des Kaßberg´s“.
Die Erinnerung an Begegnungen mit dem Berggeist wird während der Führungen in den Chemnitzer Gewölbegängen wachgehalten. Am nachhaltigsten geschieht dies im Saal der Naturwunder, der doch ehedem das unterirdische Gefängnis jener Elenden gewesen sein soll, die die Chemnitzer Unterwelt bauen mussten. Ihr Fluch brachte ja den Berggeist erst auf den Plan. Und mit ihren Tränen wachsen noch immer die zarten Tropfsteine.
Früher, als die Besuchergruppen noch direkt unter dem „stacheligen“ Ziegelgewölbe im Kleinen Saal den Worten lauschten, war das Bedürfnis groß, zuzulangen. Einmal versuchte ein Besucher, wie magisch angezogen, einen der längsten „Stäbe“ mit dem Finger genau in dem Augenblick zu berühren als die Rede von ihren Zauberkräften war. Trotz des markerschütternden „Nein!“ von vorn kam es hinten zum Kontakt. Der Zauber wurde wirksam, denn der Stalagtit löste sich augenblicklich in ein weißes Nichts auf, das langsam nach unten schwebte: Einer der längsten und schönsten Steine war weg.
Der Finger des ausgestreckten Armes zeigte noch immer ins Leere, während schon alle Anwesenden fassungslos auf den Täter schauten. Man darf sicher sein, dass dieser die gewiss nicht böswillige Tat seinen Lebtag nicht vergessen wird … und dass sich der Berggeist am nächsten Tag verzählte.
Doch die Dramatik nahm zu. Es gab eine Besprechung zur Vorbereitung der geplanten Erschließung der Unterirdischen Gewölbegänge ab April im Jahr 1999. Ein verantwortlicher Mitarbeiter sagte doch folgenden ernst gemeinten Satz: „Da müssen wir einen Metallbesen kaufen, um die Decke sauber zu machen.“
Er meinte die Tropfsteine am Deckengewölbe!!!
Heute darf man die einmaligen Naturwunder nur aus gehöriger Entfernung wahrnehmen. Die bergseitige Front des Saales lässt dagegen ungehindert den Blick frei auf das anstehende Gebirge. Am Boden einer ca. 1,5 m tief reichenden, abschließenden Aushöhlung - vielleicht wurde hier dereinst der Gangvortrieb unterbrochen als der böse Ritter starb - stapeln sich zudem von sich aus herabgebrochene Schieferletten, als wollten sie noch mehr über ihre charakteristische Entstehungsgeschichte verraten. Schon vor langer Zeit erkannten also Menschen, die die Ziegelausmauerung des ehemaligen Felsenraumes ausführten, dass hier etwas Besonderes zu Gange ist.
Sie sparten den Bereich aus und verschonten sogar am Boden den unregelmäßigen Schieferletten-Stapel.
Die unberührte Situation verdanken wir außerdem jenen, die sich später um den Ausbau des Luftschutzstollens im Weltkrieg bemüht haben. Auch ihnen muss das Wunder der Natur definitiv aufgefallen sein. Trotz der generell prekären Situation (es wurde ja jeder Quadratmeter Schutzraum dringend benötigt) haben sie unterirdischen Naturschutz praktiziert und nichts verändert, vermieden insbesondere hier auch den aus hygienischen Gründen vorgeschriebenen Kalkanstrich.So zeigt sich die natürliche Szene vollständig. Was oben fehlt, liegt unten, und im Hintergrund blieb alles beim Alten.
Unbeeindruckt also von all der tropfsteinernen „Dynamik“ ist das Naturwunder der wieder zu Stein gewordenen Sedimente die Ruhe selbst, denn seine Sturm-und-Drang-Zeit liegt über 300 Millionen Jahre zurück. Die Region Chemnitz lag im Bereich des Variszischen Gebirges, das damals ziemlich rauen Verhältnissen ausgesetzt war. Der Zahn der Zeit nagte an seinem Bestand. Staubkörnchen für Staubkörnchen zog es in die Ferne. Viele Sintfluten und unzählige Fließgewässer schleppten den tonigen Schlamm in die Umgegend. Es scheint zudem so, dass zwischendurch das Klima für richtige Abwechslung sorgte. Vielleicht war es Wüstensand, den die Stürme zeitweise herantransportierten. Jedenfalls stapelten sich allmählich viele rote bis schwarze Ton- und dann wieder grüne Sandschichten übereinander.
Das Hochgebirge ist verschwunden und die Wüsten zogen sich zurück. Dafür stehen Chemnitz und Zwickau auf rötlichem Grund, dem Rotliegenden. In Zwickau ist das Sediment über 700 m dick, und darunter liegt die Steinkohle.