Hidden Legacy
Das Erbe der Magie
Roman
Ins Deutsche übertragen
von Marcel Aubron-Bülles
Wenn Vertrauen zur Feuerprobe wird
Eine Welt, in der Magie alles bedeutet: Reichtum, Macht und Ansehen. Eine Welt, in der Familiendynastien das Schicksal der Menschen bestimmen, Kriege führen und Politik beeinflussen.
Seit dem Tod ihres Vaters ist Nevada Baylor die Hauptverdienerin in ihrer Familie. Als Privatdetektivin übernimmt sie jeden Fall, um alle über Wasser zu halten. So hat sie keine andere Wahl, als sich auf einen Auftrag einzulassen, der sie in Lebensgefahr bringt. Nevada soll einen mächtigen Feuermagier dingfest machen, als sich ihr Weg mit dem von Connor »Mad« Rogan kreuzt. Rogan ist eiskalt, tödlich, sexy und auf der Suche nach demselben Verdächtigen wie Nevada. Um am Leben zu bleiben, muss sie mit ihm zusammenarbeiten, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu fliehen und der Leidenschaft, die zwischen ihnen beiden brennt. Denn Rogan geht ihr unter die Haut … aber Liebe ist in dieser Welt so gefährlich wie der Tod!
Für unsere großartigen Töchter, die die ganze Mühe wert sind, und für den Rest unserer Familie, die uns in den Wahnsinn treibt.
Im Jahr 1863, in einer Welt, die der unseren sehr ähnlich ist, entdeckten europäische Wissenschaftler das Osiris-Serum, ein Gebräu, das schlummernde magische Begabungen erweckt. Dabei kamen Fähigkeiten mit den unterschiedlichsten Auswirkungen zum Vorschein: Einige Menschen lernten, Tieren zu befehlen, die nächsten konnten Wasser aus großer Entfernung erspüren, und wieder andere stellten mit Überraschung fest, dass sie ihre Feinde mit Blitzen vernichten konnten, die aus ihren Händen schleuderten. Das Serum verbreitete sich auf der gesamten Welt. Es wurde Soldaten in der Hoffnung verabreicht, dass militärische Streitkräfte schneller und effizienter den Tod in feindliche Reihen tragen konnten. Aristokraten kauften es, weil sie ihre schwindende Macht zurückerlangen wollten. Die Reichen holten es sich, um noch reicher zu werden.
Schließlich aber begriff die Welt, welche Konsequenzen es nach sich zog, gottgleiche Fähigkeiten in einfachen Leuten zu erwecken. Das Serum wurde weggeschlossen – doch es war zu spät. Die magischen Begabungen wurden von Eltern an ihre Kinder weitergegeben und veränderten den Lauf der menschlichen Geschichte. Die Zukunft ganzer Nationen fand in nur wenigen Jahrzehnten eine neue Ausrichtung. Wer einst heiratete, um gesellschaftlichen Rang, Geld oder Macht zu erlangen, der schloss nun die Ehe um der Magie willen, denn starke Magie ermöglichte einem alles.
Jetzt, anderthalb Jahrhunderte später, haben sich Familien, in denen das Erbe der Magie stark und mächtig ist, in Dynastien gewandelt. Diese Familien – sie nennen sich selbst »Häuser« – besitzen Unternehmen, haben in den Städten ihre eigenen Areale und beeinflussen die Politik. Sie unterhalten Privatarmeen, mit denen sie sich untereinander bekämpfen, und ihre Auseinandersetzungen enden stets tödlich. Dies ist eine Welt, in der man mächtiger, reicher und berühmter ist, je mehr Magie man besitzt. Einige magische Begabungen sind zerstörerisch, andere sind wesentlich raffinierter. Eines aber ist gewiss: Einen jeden magisch Begabten sollte man sehr ernst nehmen.
»Ich kann es dich nicht tun lassen. Auf keinen Fall. Kelly, der Mann ist wahnsinnig.«
Kelly Waller griff nach der Hand ihres Ehemanns, um sich zu beruhigen, woraufhin er seine Rechte vom Lenkrad löste und zärtlich ihre Finger drückte. Seltsam, wie intim eine solche Geste sein kann, dachte sie. Diese Berührung, die ihre Kraft aus den zwanzig Jahren ihrer Liebe zog, war der Fels in der albtraumhaften Brandung, zu denen sich die letzten achtundvierzig Stunden entwickelt hatten. Ohne diese Berührung hätte sie jetzt laut geschrien.
»Er wird mir nicht wehtun. Wir sind eine Familie.«
»Du hast mir selbst gesagt, dass er seine Familie hasst.«
»Ich muss es versuchen«, sagte sie. »Oder sie werden unseren Jungen töten.«
Tom starrte mit glasigem Blick durch die Windschutzscheibe und steuerte den Wagen die Zufahrt entlang. Alte texanische Eichen breiteten ihr ausladendes Blätterdach über dem Rasen aus, auf dem vereinzelt gelber Löwenzahn und rosafarbener Hahnenfuß wuchs. Connor ließ das Anwesen wirklich verwahrlosen. Ihr Vater hätte das Unkraut vernichten lassen …
Ihr wurde flau im Magen. Der eine Teil von ihr wäre am liebsten in die Vergangenheit gereist und hätte das ungeschehen gemacht, was in den letzten beiden Tagen geschehen war. Der andere Teil von ihr wollte einfach nur den Wagen wenden. Es ist zu spät, ermahnte sie sich. Zu spät für Reue und Bedauern. Sie musste sich der Realität stellen, wie furchterregend sie auch sein mochte. Sie musste sich wie eine Mutter verhalten.
Die Zufahrt endete vor einer hohen Stuckfassade. Sie kramte in ihren Erinnerungen. Sechzehn Jahre waren eine lange Zeit, aber sie war sich sicher, dass diese Fassade damals noch nicht existiert hatte.
Ein schmiedeeisernes Tor versperrte den bogenförmigen Eingang. Das war es also. Es führte kein Weg zurück. Wenn Connor ihren Tod beschloss, dann würde ihre Magie – oder zumindest das wenige, was davon noch übrig war – ihn nicht aufhalten können.
Connor war die Krönung dreier Generationen sorgfältig geplanter Ehen, die nicht nur die guten Verbindungen der Familie, sondern auch ihre Magie stärken sollten. Eigentlich hätte er sich als würdiger Nachfolger des Hauses Rogan erweisen und dessen Schicksal bestimmen sollen. Doch ähnlich wie sie hatte er sich nicht zu dem entwickelt, was sich ihre Eltern vorgestellt hatten.
Tom stellte den Wagen ab. »Du musst das nicht tun.«
»Doch, muss ich.« Grauen ergriff Besitz von Kelly, legte sich drückend auf ihre Seele, und eine bodenlose Angst befiel sie. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie schluckte schwer und versuchte sich zu räuspern. »Das ist die einzige Möglichkeit.«
»Lass mich wenigstens mitkommen.«
»Nein. Er kennt mich. Er könnte dich als Bedrohung verstehen.« Sie schluckte erneut, aber der Kloß in ihrem Hals weigerte sich zu verschwinden. Sie wusste nie, ob Connor die Gedanken anderer Leute lesen konnte, aber er war sich ihrer Gefühle auf jeden Fall bewusst. Sie hatte auch nicht den geringsten Zweifel, dass sie in diesem Augenblick beobachtet und vermutlich auch belauscht wurden. »Tom, ich glaube nicht, dass irgendetwas Schlimmes passieren wird. Falls doch, und ich komme hier nicht mehr raus, dann will ich, dass du verschwindest. Ich will, dass du nach Hause fährst, zu den Kindern. Im Schrank über dem kleinen Tisch in der Küche steht ein blauer Ordner. Auf dem zweiten Regalbrett. Du findest dort unsere Lebensversicherungen und mein Testament …«
Tom ließ den Wagen an. »Schluss damit. Wir fahren sofort nach Hause. Wir kümmern und selbst drum.«
Sie riss die Autotür auf, sprang heraus und rannte zum Tor, was ihre High Heels über den Boden klacken ließ.
»Kelly!«, rief er ihr hinterher. »Tu es nicht!«
Sie zwang sich, das Eisentor zu berühren. »Ich bin es, Kelly. Connor, lass mich bitte rein.«
Das Eisentor öffnete sich langsam. Kelly hob den Kopf und trat hindurch. Hinter ihr schloss sich das Tor wieder. Sie ging unter dem Bogen hindurch und den Steinpfad entlang, der sich durch den malerischen Hain mit seinen Eichen, Judasbäumen und dem Lorbeer schlängelte. Der Pfad bog schließlich zur Seite ab, und sie blieb wie angewurzelt stehen.
Das riesige Monstrum, der Kolonialbau mit seiner weißen Fassade und der vornehmen Kolonnade, war nicht mehr. An seiner Stelle erhob sich eine zweistöckige Villa im mediterranen Stil, cremefarben getüncht und mit einem dunkelroten Dach. Hatte sie sich in der Adresse geirrt?
»Wo ist das Haus?«, flüsterte sie.
»Ich habe es abgerissen.«
Kelly drehte sich zur Seite. Connor stand direkt neben ihr. Sie erinnerte sich an einen schlanken Jungen mit auffallend hellblauen Augen. Sechzehn Jahre später war er größer als sie. Seine Haare hatten damals einen kastanienbraunen Ton, aber jetzt waren sie dunkelbraun, fast schon schwarz. Das früher so knochige Gesicht hatte sich sehr verändert; sein kantiges Kinn und die harten, männlichen Züge ließen ihn faszinierend gut aussehen. Mit diesem Gesicht hätte er über die Welt herrschen können.
Kelly blickte Connor in die Augen und wünschte sich augenblicklich, sie hätte es nicht getan. Das Leben hatte diese faszinierenden blauen Augen kalt werden lassen. In ihren Tiefen regte sich unvergleichliche Macht. Sie konnte sie spüren. Es war eine wilde, ungezähmte Energie, die direkt unterhalb der Oberfläche brodelte. Sie zuckte hin und her, bäumte sich auf – eine entsetzliche, furchterregende Kraft, die Gewalt und Zerstörung verhieß und nur durch einen eisernen Willen im Zaum gehalten wurde. Ein eisiger Schauer lief Kelly das ganze Rückgrat hinab.
Sie musste etwas sagen. Irgendwas.
»Um Gottes willen, Connor, das Haus war zehn Millionen Dollar wert.«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich habe es als eine Befreiung empfunden. Möchtest du eine Tasse Kaffee?«
»Ja, sehr gern.«
Er führte sie durch den Eingang in die Lobby, eine Holztreppe mit verschnörkeltem Eisengeländer hinauf und schließlich hinaus auf einen überdachten Balkon. Sie folgte ihm leicht verwirrt und nahm ihre Umgebung nur als konturlose Linien wahr, bis sie sich in einen Plüschsessel setzte. Jenseits des Balkongeländers erstreckte sich der Obstgarten. Bäume säumten Teichufer und einen malerischen Bach. Am Horizont zeichnete sich eine bläuliche Hügellandschaft ab wie die Wellen eines fernen Meeres.
Es duftete nach Kaffee. Connor stand mit dem Rücken zu ihr und wartete darauf, dass ihre Tassen von der Kaffeemaschine gefüllt würde.
Finde einen gemeinsamen Nenner. Erinnere ihn daran, wer du bist. »Wo ist die Schaukel?«, fragte sie. Als Kinder hatten sie dort am liebsten ihre Zeit verbracht. Dort hatten sie sich getroffen, als er sie um Rat bitten musste: Er war zwölf und sie die coole ältere Cousine Kelly gewesen, die sich mit ihren zwanzig Jahren in allen Teenager-Belangen bestens ausgekannt hatte.
»Sie ist immer noch da. Die Eichen haben sich breitgemacht. Man kann sie vom Balkon aus nicht mehr sehen.« Connor drehte sich um, stellte die Tasse vor ihr ab und nahm Platz.
»Es gab mal eine Zeit, da hättest du die Tassen schweben lassen«, sagte sie.
»Ich spiele keine Spielchen mehr. Zumindest nicht mehr die Spiele, an die du dich erinnern kannst. Warum bist du hier?«
Die Kaffeetasse verbrannte ihr die Finger. Sie stellte sie ab. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie sie überhaupt in die Hand genommen hatte. »Hast du in letzter Zeit die Nachrichten gesehen?«
»Ja.«
»Dann hast du von der Brandstiftung bei der First National gehört.«
»Ja.«
»Ein Wachmann ist verbrannt. Seine Frau und ihre beiden Kinder haben ihn auf der Arbeit besucht. Sie sind alle drei im Krankenhaus. Der Wachmann war Polizeibeamter außer Dienst. Die Aufnahmen der Videoüberwachung haben zwei Brandstifter identifizieren können: Adam Pierce und Gavin Waller.«
Er wartete.
»Gavin Waller ist mein Sohn«, sagte sie. Ihre Stimme klang hohl, als sie den Namen aussprach. »Mein Sohn ist ein Mörder.«
»Ich weiß.«
»Ich liebe meinen Sohn. Ich liebe Gavin von ganzem Herzen. Wenn ich mich zwischen meinem und seinem Leben entscheiden müsste, würde ich mich sofort für ihn opfern. Gavin ist nicht böse. Er ist nur ein sechzehnjähriges Kind, das versucht hat, sich selbst zu finden. Aber stattdessen hat er Adam Pierce entdeckt. Weißt du, Kinder verklären Pierce. Er ist ihr Antiheld – der Mann, der sich von seiner Familie abgewandt und eine Motorradgang gegründet hat. Der böse Junge, der zum charismatischen Rebellen wird.«
Sie klang verbittert und wütend, konnte es aber nicht verhindern.
»Er hat Gavin dazu benutzt, diese Gräueltat zu begehen, und jetzt ist ein Polizist tot. Die Frau des Toten und die beiden Kinder haben schwere Brandverletzungen erlitten. Dafür werden sie Gavin töten, Connor. Selbst wenn mein Sohn mit erhobenen Händen da rauskommt, werden ihn die Cops erschießen. Er ist ein Polizistenmörder.«
Connor trank seinen Kaffee. Seine Miene blieb völlig unbewegt. Aus seinem Gesicht konnte sie nichts ablesen.
»Du schuldest mir nichts. Wir haben zwanzig Jahre nicht miteinander gesprochen, nicht, seitdem mich die Familie enterbt hat.«
Sie schluckte erneut schwer. Sie hatte sich damals ihren Anweisungen widersetzt und sich geweigert, einen Fremden mit den richtigen Genen zu heiraten. Sie hatte ihnen gesagt, sie wollte in ihrem Leben selbst die Entscheidungen treffen. Ihrem Wunsch war entsprochen worden, und man hatte sie wie eine heiße Kartoffel fallen lassen … nein, bloß nicht darüber nachdenken! Denke an Gavin.
»Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe«, sagte sie, »würde ich dich damit nicht belästigen. Aber Tom hat keinerlei Verbindungen. Wir haben weder Macht noch Geld und schon gar nicht große Magie. Niemand interessiert sich dafür, was mit uns geschieht. Alles, was ich noch besitze, sind unsere Kindheitserinnerungen. Ich war immer für dich da, wenn du in Schwierigkeiten geraten bist. Bitte hilf mir.«
»Was soll ich deiner Meinung nach tun? Hoffst du etwa, seine Verhaftung umgehen zu können?«
In seiner Stimme schwang ein Unterton zynischster Missbilligung mit. »Nein. Ich will, dass mein Sohn verhaftet wird. Ich will, dass er vor Gericht kommt. Ich will, dass die Verhandlung im Fernsehen gezeigt wird, denn wenn Gavin erst mal zehn Minuten im Zeugenstand verbracht hat, wird ihn jeder als das erkennen, was er ist: ein verwirrtes, dummes Kind. Sein Bruder und seine Schwester verdienen es zu erfahren, dass er kein Monster ist. Ich kenne meinen Sohn. Ich weiß, dass das, was er getan hat, ihn zerreißt. Ich will nicht, dass er stirbt, dass er wie ein Tier abgeschossen wird, ohne jemals die Chance zu haben, den Familien der Menschen, die er getötet hat, zu sagen, wie sehr es ihm leidtut.«
Tränen liefen ihr die Wangen hinab. Es war ihr egal. »Bitte, Connor. Ich flehe dich um das Leben meines Sohnes an.«
Connor trank seinen Kaffee. »Ich heiße Mad Rogan, der Irre. Sie nennen mich auch den Schlächter und die Geißel, aber Mad ist der bei weitem am häufigsten benutzte Spitzname.«
»Ich weiß, dass du -«
»Nein, das weißt du nicht. Du hast mich vor dem Krieg gekannt, als ich noch ein Kind war. Sag mir, was bin ich jetzt?«
Sein Blick lastete schwer auf ihr.
Ihre Lippen zitterten, und sie sagte das Erste, was ihr in den Kopf kam. »Du bist ein Massenmörder.«
Ein eiskaltes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Keine Freude, keine Wärme, nur ein gnadenloses Raubtier, das seine Fangzähne bleckte. »Seit der Brandstiftung sind achtundvierzig Stunden vergangen, und du bist jetzt erst hier. Du musst wirklich verzweifelt sein. Bist du zuerst zu allen anderen gegangen? Bin ich deine letzte Adresse?«
»Ja«, sagte sie.
Seine hellblauen Augen blitzten kurz auf, wie unter Strom. Sie sah ihm in die Augen, und für den Bruchteil einer Sekunde erkannte sie die wahre Macht, die in ihm verborgen lag. So musste es sich anfühlen, wenn man einer Lawine entgegenstarrte, bevor sie einen begrub. In diesem Augenblick wusste sie, dass alle Geschichten über ihn stimmten. Er war ein Mörder, und er war ein Irrer.
»Mir ist es egal, selbst wenn du der Teufel höchstpersönlich wärst«, flüsterte sie. »Bitte bring mir Gavin zurück.«
»Okay«, sagte er.
Fünf Minuten später taumelte sie die Zufahrt entlang. Tränen strömten ihre Wangen hinab. Sie hatte versucht, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, konnte es aber nicht. Immerhin hatte sie das erreicht, was sie sich zum Ziel gesetzt hatte. Es war eine ungeheure Erleichterung.
»Kelly, Schatz!« Tom fing sie auf.
»Er wird es machen«, flüsterte sie, zutiefst erschüttert. »Er hat mir versprochen, er wird Gavin suchen.«