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Ernest William Hornung

Ein Einbrecher aus Passion

Kriminalgeschichten

Ernest William Hornung

Ein Einbrecher aus Passion

Kriminalgeschichten

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: F. Mangold
EV: Verlag von J. Engelhorn, Stuttgart, 1903 (158 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-83-3

null-papier.de/589

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Inhaltsverzeichnis

Ers­tes Ka­pi­tel. Die Iden des März

Zwei­tes Ka­pi­tel. Eine Auf­füh­rung in Ko­stüm

Drit­tes Ka­pi­tel. Di­let­tan­ten und Leu­te von Be­ruf

Vier­tes Ka­pi­tel. *Le pre­mier pas.*

Fünf­tes Ka­pi­tel. Mord

Sechs­tes Ka­pi­tel. Ein Ein­bruch auf Be­stel­lung

Sie­ben­tes Ka­pi­tel. Ein ge­fähr­li­cher Be­su­cher

Ach­tes Ka­pi­tel. Das Ge­schenk des Mon­ar­chen

Dan­ke

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Erstes Kapitel. Die Iden des März

Es war eine hal­be Stun­de nach Mit­ter­nacht, als ich in den Al­ba­ny­klub, die letz­te Zuf­luchts­stät­te, die mir mei­ne Verzweif­lung ein­gab, zu­rück­kehr­te. Der Schau­platz mei­nes Ver­der­bens war noch ziem­lich in dem­sel­ben Zu­stand, worin ich ihn ver­las­sen hat­te. Bac­ca­rat­mar­ken la­gen auf dem Tisch ver­streut, und lee­re Glä­ser stan­den ne­ben über­füll­ten Aschen­scha­len. Ein Fens­ter war ge­öff­net wor­den, um den Rauch ab­zie­hen zu las­sen, aber da­für ließ es den Ne­bel her­ein. Raffles selbst hat­te sich nur sei­nes Fracks ent­le­digt und statt des­sen einen sei­ner un­zäh­li­gen Haus­rö­cke an­ge­zo­gen, und doch run­zel­te er die Stirn, als ob ich ihn aus dem Bet­te ge­ris­sen hät­te.

»Et­was ver­ges­sen?« frag­te er, als er mich er­blick­te.

»Nein«, ant­wor­te­te ich, mich ohne Um­stän­de an ihm vor­bei­drän­gend und ihm mit ei­ner Un­ge­niert­heit in sein Zim­mer vor­aus­ge­hend, die mich selbst in Er­stau­nen setz­te.

»Sie sind doch nicht etwa ge­kom­men, um Re­van­che zu for­dern? Denn die wür­de ich Ih­nen beim bes­ten Wil­len al­lein nicht ge­ben kön­nen. Es tat mir selbst leid, dass die an­de­ren …«

Wir stan­den uns an sei­nem Ka­min ge­gen­über, als ich ihm ins Wort fiel.

»Raffles«, sag­te ich, »Ihre Über­ra­schung, dass ich so um die­se Stun­de zu Ih­nen zu­rück­keh­re, be­grei­fe ich. Ich ken­ne Sie ja kaum und habe Ihr Zim­mer bis heu­te Abend noch nie be­tre­ten. Aber ich war Ihr Leib­fuchs in der Schu­le, und Sie sag­ten, Sie er­in­ner­ten sich mei­ner. Das ist na­tür­lich kei­ne Ent­schul­di­gung; aber wol­len Sie mich an­hö­ren – nur zwei Mi­nu­ten?«

»Ge­wiss, mein Lie­ber, so­lan­ge Sie wol­len. Zün­den Sie sich eine Sul­li­van an und neh­men Sie Platz«, ent­geg­ne­te er, in­dem er mir sei­ne sil­ber­ne Zi­ga­ret­ten­do­se an­bot.

»Nein«, er­wi­der­te ich kopf­schüt­telnd und mit fes­ter Stim­me, »ich wer­de we­der rau­chen noch Platz neh­men, und wenn Sie ge­hört ha­ben, was ich Ih­nen zu sa­gen habe, wer­den Sie Ihre Ein­la­dung schwer­lich wie­der­ho­len.«

»Wirk­lich?« ant­wor­te­te er, wäh­rend er sich eine Zi­ga­ret­te an­zün­de­te und sei­ne kla­ren blau­en Au­gen auf mich rich­te­te. »Wie kön­nen Sie das wis­sen?«

»Weil Sie mir na­tür­lich die Tür wei­sen wer­den«, rief ich bit­ter, »und Sie wür­den voll­kom­men recht ha­ben, wenn Sie das tä­ten. Aber was kann es nüt­zen, auf den Busch zu klop­fen? Sie wis­sen, dass ich vor­hin zwei­hun­dert Pfund ver­lo­ren habe.«

Er nick­te.

»Und dass ich nicht so viel Geld bei mir hat­te.«

»Ja, ich ent­sin­ne mich.«

»Aber ich hat­te mein Scheck­buch und schrieb für je­den von euch einen Scheck dort an je­nem Pul­te.«

»Nun?«

»Kei­ner da­von ist das Pa­pier wert, wor­auf er ge­schrie­ben ist, Raffles. Ich habe mein Gut­ha­ben bei der Bank über­schrit­ten.«

»Doch ge­wiss nur für den Au­gen­blick?«

»Nein, es ist al­les fort.«

»Aber ir­gend­je­mand hat mir doch ge­sagt, Sie sei­en in ganz gu­ten Ver­hält­nis­sen und hät­ten ge­erbt.«

»Das habe ich auch – vor drei Jah­ren – das war eben mein Fluch, und nun ist al­les hin – bis auf den letz­ten Hel­ler! Ja, ich bin ein Narr ge­we­sen, wie es kei­nen zwei­ten auf der Welt gibt oder ge­ben wird … Ge­nügt Ih­nen das noch nicht? Wa­rum wer­fen Sie mich denn nicht hin­aus?«

Statt das zu tun, ging er mit sehr lan­gem Ge­sicht auf und ab.

»Kön­nen denn Ihre Ver­wand­ten nichts für Sie tun?« frag­te er end­lich.

»Gott sei Dank!« rief ich, »Ver­wand­te habe ich nicht. Ich war mei­ner El­tern ein­zi­ges Kind und habe al­les ge­erbt. Mein ein­zi­ger Trost ist, dass sie dies nicht mehr er­lebt ha­ben und nie­mals er­fah­ren wer­den.«

Bei die­sen Wor­ten warf ich mich auf einen Stuhl und ver­barg mein Ge­sicht, wäh­rend Raffles fort­fuhr, auf dem rei­chen Tep­pich, der mit der gan­zen Aus­stat­tung sei­nes Zim­mers in Ein­klang stand, auf und ab zu ge­hen, ohne dass sich die Gleich­mä­ßig­keit sei­ner lei­sen Schrit­te ge­än­dert hät­te.

»Sie ha­ben sich doch frü­her mit Li­te­ra­tur be­fasst«, sag­te er end­lich. »Ha­ben Sie nicht vor Ihrem Ab­gang das Schul­ma­ga­zin her­aus­ge­ge­ben? Je­den­falls ent­sin­ne ich mich, dass Sie mir als Fuchs mei­ne Ver­se ma­chen muss­ten, und die­se Art von Li­te­ra­tur ist ja heu­ti­ges­tags in der Mode. Je­der Dumm­kopf kann sich sein Brot da­mit ver­die­nen.«

»Kein Dumm­kopf könn­te mir mei­ne Schul­den vom Hal­se schrei­ben«, ant­wor­te­te ich kopf­schüt­telnd.

»Sie ha­ben aber doch ir­gend eine Woh­nung?« fuhr er fort.

»Ja, in Mount Street.«

»Wie steht’s denn mit den Mö­beln?«

In mei­nem Elend muss­te ich laut auf­la­chen.

»Nicht ein Fuß­bänk­chen dar­un­ter, wor­an nicht schon seit Mo­na­ten die Pfän­dungs­mar­ke des Ge­richts­voll­zie­hers kleb­te!«

Als er die­se Wor­te hör­te, blieb Raffles mit em­por­ge­zo­ge­nen Au­gen­brau­en und ei­nem stren­gen Blick ste­hen, dem ich jetzt, wo er das Schlimms­te wuss­te, bes­ser be­geg­nen konn­te. Dann nahm er ach­sel­zu­ckend sei­ne Wan­de­rung wie­der auf, und ei­ni­ge Au­gen­bli­cke sprach kei­ner von uns ein Wort, al­lein in sei­nem schö­nen, star­ren Ant­litz las ich mein Schick­sal und mein To­des­ur­teil. Mit je­dem Atem­zu­ge ver­wünsch­te ich mei­ne Tor­heit und dass ich so fei­ge ge­we­sen war, mich über­haupt an ihn zu wen­den. Weil er in der Schu­le als Ka­pi­tän der Cricket­spie­ler freund­lich ge­gen mich und ich sein Leib­fuchs ge­we­sen war, hat­te ich es ge­wagt, auch jetzt noch auf sei­ne Güte zu zäh­len; weil ich zu Grun­de ge­rich­tet und er reich ge­nug war, den gan­zen Som­mer Cricket zu spie­len und wäh­rend des Res­tes des Jah­res nichts zu tun, hat­te ich tö­rich­ter­wei­se auf sei­ne Nach­sicht, sei­ne Teil­nah­me und sei­ne Hil­fe ge­rech­net! Ja, ich hat­te mich im Her­zen trotz mei­ner äu­ßer­li­chen Schüch­tern­heit und De­mut auf ihn ver­las­sen, und nun ge­sch­ah mir ganz recht. In sei­nen auf­ge­bläh­ten Nüs­tern, der star­ren Kinn­la­de, den kal­ten blau­en Au­gen, die nie­mals nach mir hin­sa­hen, kam eben­so­we­nig Mil­de als Teil­nah­me zum Aus­druck. Ich griff nach mei­nem Hute, er­hob mich schwan­kend und wür­de ohne ein wei­te­res Wort ge­gan­gen sein, wenn nicht Raffles zwi­schen mir und der Tür ge­stan­den hät­te.

»Wo wol­len Sie hin?« frag­te er.

»Das ist mei­ne Sa­che«, er­wi­der­te ich. »Wol­len Sie mich vor­bei­las­sen?«

»Nicht eher, als bis Sie mir ge­sagt ha­ben, wo­hin Sie ge­hen und was Sie vor­ha­ben.«

»Kön­nen Sie das nicht er­ra­ten?« rief ich, und dann blie­ben wir lan­ge ein­an­der ge­gen­über ste­hen und sa­hen uns in die Au­gen.

»Ha­ben Sie auch den Mut dazu?« frag­te er end­lich in ei­nem so cy­ni­schen Tone, dass sich der Bann, der mich um­fan­gen hielt, lös­te und der letz­te Trop­fen mei­nes Blu­tes zu ko­chen be­gann.

»Das will ich Ih­nen zei­gen«, ant­wor­te­te ich, in­dem ich einen Schritt zu­rück­trat und den Re­vol­ver aus der Ta­sche riss. »Wol­len Sie mich vor­bei­las­sen, oder soll ich es hier tun?«

Die Mün­dung be­rühr­te mei­ne Schlä­fe und der Zei­ge­fin­ger den Drücker. Wahn­sin­nig vor Auf­re­gung, wie ich war, zu Grun­de ge­rich­tet, ent­ehrt, und jetzt fest ent­schlos­sen, mei­nem elen­den, ver­fehl­ten Da­sein ein Ende zu ma­chen, ist es mir noch heu­te un­be­greif­lich, dass ich die Tat nicht auf dem Fleck voll­brach­te. Der Wunsch, die ver­ächt­li­che Be­frie­di­gung zu ha­ben, einen an­de­ren in mei­nen Un­ter­gang zu ver­wi­ckeln, ver­stärk­te mit sei­ner er­bärm­li­chen Stim­me die mei­ner nied­ri­gen Selbst­sucht, und noch jetzt über­läuft mich ein Schau­der bei dem Ge­dan­ken, dass mir die Erin­ne­rung an einen Blick der Furcht oder des Schre­ckens eine hä­mi­sche Ge­nug­tu­ung ge­we­sen und ich glück­lich ge­stor­ben sein wür­de, wenn sich im An­ge­sicht mei­nes Ge­fähr­ten et­was Der­ar­ti­ges ge­zeigt hät­te. Statt des­sen er­schi­en ein Aus­druck in sei­nen Zü­gen, der mei­ne Hand lähm­te. We­der Furcht noch Schreck lag dar­in, nur Über­ra­schung, Be­wun­de­rung und ein sol­ches Maß be­frie­dig­ter Er­war­tung, dass ich mei­nen Re­vol­ver mit ei­nem Flu­che wie­der in die Ta­sche steck­te.

»Sie Teu­fel!« zisch­te ich. »Ich glau­be, Sie woll­ten mich dazu brin­gen!«

»Da ir­ren Sie sich«, ant­wor­te­te er, leicht zu­sam­men­fah­rend und mit ei­nem Far­ben­wech­sel, der nur et­was zu spät kam. »Um Ih­nen je­doch die Wahr­heit zu sa­gen, so glaub­te ich halb und halb, Sie wür­den wirk­lich Ernst ma­chen, und nie im Le­ben hat mich et­was so sehr an­ge­zo­gen. Dass Sie aus sol­chem Stof­fe ge­macht sei­en, Bun­ny, hät­te ich mir nicht träu­men las­sen! Nein, ich will ge­henkt wer­den, wenn ich Sie jetzt noch ge­hen las­se. Ver­su­chen Sie aber den Scherz nicht noch ein­mal, denn ich wür­de zum zwei­ten Male nicht ru­hig da­bei­ste­hen und zu­se­hen. Wir müs­sen einen Aus­weg aus der Klem­me fin­den, aber ge­ben Sie mir erst ein­mal Ihren Re­vol­ver.«

Bei die­sen Wor­ten leg­te er mir voll Güte eine Hand auf die Schul­ter, wäh­rend die and­re in mei­ne Ta­sche glitt und sich, ohne dass ich mich wi­der­setzt hät­te, mei­ner Waf­fe be­mäch­tig­te. Das ge­sch­ah nicht nur des­halb, weil Raffles, wenn er woll­te, die be­stri­cken­de Gabe hat­te, sich un­wi­der­steh­lich zu ma­chen. Nie im Le­ben bin ich ei­nem Men­schen be­geg­net, der in Hin­sicht auf Macht über and­re den Ver­gleich mit ihm hät­te aus­hal­ten kön­nen, aber mei­ne Füg­sam­keit ent­sprang doch noch an­de­ren Um­stän­den als der blo­ßen Un­ter­wer­fung der schwä­che­ren Na­tur un­ter die stär­ke­re. Die ge­rin­ge Hoff­nung, die mich nach dem Al­ba­ny­klub ge­führt hat­te, war wie durch einen Zau­ber­schlag in ein bei­na­he be­täu­ben­des Ge­fühl der Si­cher­heit ver­wan­delt wor­den. Raffles woll­te mir doch hel­fen! A. J. Raffles woll­te mein Freund sein! Es war, als ob sich plötz­lich die gan­ze Welt auf mei­ne Sei­te ge­stellt habe, und weit ent­fernt, mich sei­nem Tun zu wi­der­set­zen, er­griff ich sei­ne Hand und drück­te sie mit ei­ner In­brunst, de­ren ich eben­so­we­nig Herr war. als des vor­an­ge­gan­ge­nen Wahn­sinns.

»Gott seg­ne Sie!« rief ich aus. »Ver­zei­hen Sie mir al­les, was ich ge­sagt habe. Ich will Ih­nen die Wahr­heit be­ken­nen. Ich glaub­te wirk­lich, Sie wür­den mir in mei­ner Not hel­fen, ob­gleich ich wohl wuss­te, dass ich kei­ne An­sprü­che an Sie hat­te. In­des­sen um der al­ten Schul­zei­ten wil­len dach­te ich, Sie wür­den mir viel­leicht noch eine Chan­ce bie­ten. Wenn nicht, dann woll­te ich mir eine Ku­gel durch das Hirn ja­gen – und das wer­de ich auch jetzt noch tun, falls Sie an­de­ren Sin­nes wer­den.«

Denn trotz sei­nes gü­ti­gen To­nes und des noch gü­ti­ge­ren Ge­brau­ches mei­nes al­ten Schul­spitz­na­mens fürch­te­te ich, dass sich eine sol­che Sin­nes­än­de­rung voll­zie­he, da sein Aus­druck ein and­rer wur­de, wäh­rend ich sprach. Sei­ne nächs­ten Wor­te be­wie­sen mir je­doch, dass ich mich ge­irrt hat­te.

»Vo­rei­lig mit Ihren Schluss­fol­ge­run­gen wie ein Kna­be! Ich habe mei­ne Feh­ler, Bun­ny, aber in mei­nen Ent­schlüs­sen zu schwan­ken, ge­hört nicht dazu. Set­zen Sie sich, mein Lie­ber, und zün­den Sie sich eine Zi­ga­ret­te an; das be­ru­higt die Ner­ven. Ich be­ste­he dar­auf. – Whis­ky? Das Schlimms­te, was Sie trin­ken kön­nen. Hier ist Kaf­fee, den ich ge­ra­de brau­te, als Sie ka­men. Nun hö­ren Sie mich an. Sie spra­chen von ›noch ei­ner Chan­ce‹. Was mei­nen Sie da­mit? Noch eine Chan­ce, Bac­ca­rat zu spie­len? Mit mei­ner Zu­stim­mung ge­wiss nicht. Sie glau­ben, das Glück müs­se sich wen­den. Aber neh­men wir ein­mal an, es wen­de sich nicht! Dann mach­ten wir eine schlim­me Lage nur noch schlim­mer. Nein, lie­ber Freund, Sie ha­ben ge­nug über die Strän­ge ge­schla­gen. Wol­len Sie sich ganz in mei­ne Hand ge­ben, oder nicht? – Gut, dann wird nicht mehr ge­spielt, und ich ver­pflich­te mich, mei­nen Scheck nicht ein­zu­kas­sie­ren. Aber un­glück­li­cher­wei­se ha­ben noch and­re Leu­te wel­che in Hän­den, und das Schlimms­te ist, Bun­ny, dass ich im Au­gen­blick eben­so tief dar­in ste­cke, als Sie.«

Jetzt kam an mich die Rei­he, Raffles an­zu­star­ren. »Sie?« stieß ich her­vor, »Sie ste­cken in der Klem­me? Wie kann ich das glau­ben, wenn ich mich hier um­se­he?«

»Habe ich Ih­nen den Glau­ben ver­wei­gert?« er­wi­der­te er lä­chelnd. »Und neh­men Sie an­ge­sichts Ih­rer ei­ge­nen Er­fah­rung an, dass ein Mensch not­wen­di­ger­wei­se ein Gut­ha­ben bei der Bank ha­ben muss, weil er eine Woh­nung in die­sem Hau­se hat, zu ein paar Klubs ge­hört und ein biss­chen Cricket spielt? Ich ver­si­che­re Ih­nen, mein Lie­ber, dass ich in die­sem Au­gen­blick in eben­so großer Geld­ver­le­gen­heit bin, als Sie es je­mals wa­ren. Ich lebe nur von mei­ner Schlau­heit – von wei­ter nichts. Für mich war es eben­so not­wen­dig, heu­te Abend ein paar Gro­schen zu ge­win­nen, als für Sie. Wir se­geln in dem­sel­ben Boot, Bun­ny; und es wäre rat­sam, wenn wir zu­sam­men ru­der­ten.«

»Zu­sam­men?« rief ich, mit bei­den Hän­den zu­grei­fend. »Ich will al­les für Sie tun, Raffles, was Sie ver­lan­gen kön­nen«, sag­te ich, »wenn es Ihr Ernst war, dass Sie mich nicht im Sti­che las­sen wol­len. Schla­gen Sie mir vor, was Sie wol­len – ich wer­de es tun! Als ich hier­her kam, war ich ein Verzwei­fel­ter, und das bin ich noch jetzt in dem­sel­ben Maße. Was ich tue, ist mir ei­ner­lei, wenn ich mir nur ohne Skan­dal aus die­ser Klem­me hel­fen kann.«

Noch jetzt sehe ich ihn vor mir, wie er sich auf ei­nem der präch­ti­gen Stüh­le zu­rück­lehn­te, wo­mit sein Zim­mer aus­ge­stat­tet war. Ich sehe sei­ne läs­si­ge, ath­le­ti­sche Ge­stalt, sei­ne blei­chen, scharf­ge­schnit­te­nen, glat­tra­sier­ten Züge, sei­ne lo­cki­gen schwar­zen Haa­re, sei­nen kräf­ti­gen, ge­wis­sen­lo­sen Mund, und wie­der füh­le ich, wie der kla­re Strahl sei­ner wun­der­ba­ren Au­gen kalt und leuch­tend gleich ei­nem Ster­ne in mein Hirn dringt – und die ge­heims­ten Ge­heim­nis­se mei­nes Her­zens er­grün­det.

»Ich möch­te wis­sen, ob das al­les Ernst ist«, sag­te er end­lich. »In Ih­rer ge­gen­wär­ti­gen Stim­mung ge­wiss, aber wer kann bis zum letz­ten Au­gen­blick für sei­ne Stim­mung ein­ste­hen? Wenn je­doch ein Mensch die­sen Ton an­schlägt, darf man das Bes­te hof­fen. Dar­über fällt mir ein, dass Sie in der Schu­le ein ganz schnei­di­ges Kerl­chen wa­ren und mir ein­mal einen großen Dienst ge­leis­tet ha­ben. Wis­sen Sie noch, Bun­ny? Na, war­ten Sie mal, viel­leicht kann ich Ih­nen einen noch grö­ße­ren er­wei­sen. Las­sen Sie mir nur Zeit, die Sa­che zu über­le­gen.«

Nach die­sen Wor­ten er­hob er sich, zün­de­te sich eine fri­sche Zi­ga­ret­te an und be­gann wie­der im Zim­mer auf und ab zu ge­hen, aber mit lang­sa­me­ren und be­däch­ti­ge­ren Schrit­ten und viel län­ger als vor­her. Zwei­mal blieb er an mei­nem Stuh­le ste­hen, als ob er im Be­grif­fe sei, zu spre­chen, al­lein je­des Mal be­sann er sich an­ders und nahm sei­ne Wan­de­rung schwei­gend wie­der auf. Ein­mal riss er das Fens­ter auf, das er vor ei­ni­ger Zeit ge­schlos­sen hat­te, und blieb, sich in den den Hof des Al­ba­ny­klubs fül­len­den Ne­bel hin­aus­leh­nend, ein paar Au­gen­bli­cke dar­an ste­hen. In­zwi­schen schlug eine auf dem Ka­min­sims ste­hen­de Uhr eins, dann halb Zwei, und noch war kein Wort wie­der zwi­schen uns ge­wech­selt.

Trotz­dem blieb ich ge­dul­dig auf mei­nem Stuh­le sit­zen, ja ich er­lang­te so­gar einen gar nicht zu den Um­stän­den pas­sen­den Gleich­mut. Un­be­wusst hat­te ich mei­ne Bür­de auf die brei­ten Schul­tern die­ses herr­li­chen Freun­des ge­la­den, und mei­ne Ge­dan­ken folg­ten mei­nen wan­dern­den Au­gen, wäh­rend die Zeit da­hin­ging. Das ge­räu­mi­ge Zim­mer bil­de­te ein Vier­eck und trug mit sei­nen Flü­gel­tü­ren und dem mar­mor­nen Ka­min­sims den Stem­pel der dem Al­ba­ny­klub ei­gen­tüm­li­chen, et­was düs­te­ren, alt­mo­di­schen Vor­nehm­heit. Es war al­ler­liebst aus­ge­stat­tet und ein­ge­rich­tet, mit dem rich­ti­gen Maß von künst­li­cher Un­re­gel­mä­ßig­keit und gu­tem Ge­schmack. Was mir je­doch am meis­ten auf­fiel, das war das Feh­len der ge­wöhn­li­chen Merk­ma­le, die meist die Woh­nung ei­nes Cricket­spie­lers kenn­zeich­nen. Statt des üb­li­chen Ge­stells mit stark ge­brauch­ten Schlag­höl­zern nahm ein wohl­ge­füll­ter Bü­cher­schrank von ge­schnitz­tem Ei­chen­holz den grö­ße­ren Teil ei­ner Wand ein, und wo ich Grup­pen­bil­der von Cricket­spie­lern zu fin­den er­war­te­te, sah ich Dar­stel­lun­gen von »Lie­be und Tod« und der­glei­chen in stau­bi­gen Rah­men. Der Be­woh­ner hät­te ein Dich­ter­ling statt ei­nes Ath­le­ten vom reins­ten Was­ser sein kön­nen. Al­lein in Raffles’ kom­pli­zier­ter Na­tur hat­te der Sinn für Äs­the­tik stets eine her­vor­ra­gen­de Rol­le ge­spielt; ei­ni­ge von die­sen Bil­dern hat­te ich selbst in sei­nem Ar­beits­zim­mer in der Schu­le ab­ge­stäubt, und sie er­in­ner­ten mich an eine and­re Sei­te sei­nes viel­sei­ti­gen We­sens – und an den klei­nen Vor­fall, den er eben an­ge­deu­tet hat­te.

Je­der­mann weiß, wie sehr der Ton ei­ner Schu­le von dem der Elf – der Cricket­spie­ler – und ganz be­son­ders vom Cha­rak­ter des Cricket­ka­pi­täns be­stimmt wird, und ich habe es nie­mals be­strei­ten hö­ren, dass un­ser Ton zu A. J. Raffles’ Zeit gut, oder dass der Ein­fluss, den aus­zuü­ben er sich die Mühe gab, ein güns­ti­ger ge­we­sen sei. Trotz­dem flüs­ter­te man sich in der Schu­le zu, er durch­strei­fe die Stadt bei Nacht in ei­nem grell­ka­rier­ten An­zug und mit ei­nem falschen Bar­te. Man flüs­ter­te sich das zu, aber man glaub­te es nicht. Mir al­lein war es als Tat­sa­che be­kannt, denn Nacht für Nacht hat­te ich das Seil hin­ter ihm in die Höhe ge­zo­gen, wenn der Rest des Schlaf­saals in tie­fem Schlum­mer lag, und war stun­den­lang wach ge­blie­ben, um es ihm auf ein ge­ge­be­nes Zei­chen wie­der hin­un­ter­zu­las­sen. Ei­nes Abends war er toll­kühn ge­we­sen, so­dass er um ein Haar in der Blü­te­zeit sei­nes Ruh­mes schmäh­lich aus der Schu­le ge­jagt wor­den wäre. Sei­ne un­glaub­li­che Kühn­heit und au­ßer­or­dent­li­che Kalt­blü­tig­keit, de­nen zwei­fel­los mei­ne Geis­tes­ge­gen­wart zu Hil­fe kam, wand­ten in­des die­se un­an­ge­neh­men Fol­gen ab, und der we­nig eh­ren­vol­le Zwi­schen­fall konn­te mit dem Man­tel des Schwei­gens be­deckt wer­den. Aber ich kann nicht be­haup­ten, dass ich ihn ver­ges­sen hät­te, als ich mich in mei­ner Verzweif­lung an das Mit­leid die­ses Man­nes klam­mer­te, und ich frag­te mich ge­ra­de, in­wie­weit ich sei­ne Nach­sicht dem Um­stand zu ver­dan­ken hät­te, dass auch er sich sei­ner er­in­ner­te, als er ste­hen blieb und sich wie­der über mei­nen Stuhl neig­te.

»Ich dach­te eben an die Nacht, wo wir bei­de um ein Haar ab­ge­fasst wor­den wä­ren«, be­gann er. »Wa­rum fah­ren Sie zu­sam­men?«

»Weil ich in die­sem Au­gen­blick auch dar­an dach­te.«

»Sie wa­ren da­mals ein klei­ner Ra­cker von der rech­ten Sor­te, Bun­ny«, fuhr er lä­chelnd fort, als ob er mei­ne Ge­dan­ken ge­le­sen hät­te. »Sie hiel­ten rei­nen Mund und wa­ren kein Feig­ling; Sie stell­ten kei­ne Fra­gen und schwatz­ten nicht aus der Schu­le. Ich möch­te wohl wis­sen, ob Sie jetzt noch eben­so sind.«

»Das weiß ich nicht«, ent­geg­ne­te ich, durch sei­nen Ton et­was ver­blüfft. »Ich habe mei­ne ei­ge­nen An­ge­le­gen­hei­ten so gründ­lich ver­pfuscht, dass ich mir eben­so­we­nig traue, als and­re Leu­te mir trau­en wer­den. Aber trotz­dem habe ich nie im Le­ben einen Freund im Sti­che ge­las­sen, das kann ich wohl sa­gen, sonst wäre ich heu­te Abend viel­leicht nicht in ei­ner so ver­fluch­ten Klem­me.«

»Sehr rich­tig«, sag­te Raffles, vor sich hin­ni­ckend, als ob er einen ge­hei­men Ge­dan­ken­gang be­stä­tigt fin­de, »sehr rich­tig. So ste­hen Sie mir auch in der Erin­ne­rung, und ich wet­te mei­nen Kopf, dass das heu­te noch eben­so wahr ist, als vor zehn Jah­ren. Wir än­dern uns nicht, Bun­ny, wir ent­wi­ckeln uns nur. We­der Sie noch ich sind wirk­lich an­ders ge­wor­den als da­mals, wo Sie mir das Seil her­un­ter­lie­ßen und ich hin­auf­klet­ter­te. Für einen Ka­me­ra­den wür­den Sie vor nichts zu­rück­schre­cken – nicht wahr?«

»Vor nichts in der Welt!« rief ich be­geis­tert aus.

»Selbst nicht vor ei­nem Ver­bre­chen?« frag­te Raffles lä­chelnd.

Nach­denk­lich zö­ger­te ich; sein Ton war an­ders ge­wor­den, aber ich war si­cher, dass er mich nur ne­cken woll­te. Und doch schi­en in sei­nen Au­gen so viel Ernst zu lie­gen, als im­mer, und ich war nicht in der Stim­mung, Vor­be­hal­te zu ma­chen.

»Nein, selbst nicht da­vor«, er­klär­te ich. »Sa­gen Sie mir, um wel­ches Ver­bre­chen es sich han­delt, und ich bin der Ihre.«

Ei­nen Au­gen­blick sah er mich er­staunt, dann zwei­felnd an und schüt­tel­te mit dem lei­sen cy­ni­schen La­chen, das ihm so ei­gen­tüm­lich war, den Kopf, als ob er die Sa­che von sich wei­sen wol­le.

»Sie sind ein net­ter Kerl, Bun­ny! Ein rich­ti­ger ver­zwei­fel­ter Cha­rak­ter – he! Im einen Au­gen­blick Selbst­mord, im nächs­ten je­des be­lie­bi­ge Ver­bre­chen, das ich vor­schla­ge. Was Ih­nen fehlt, mein Jun­ge, ist ein Hemm­schuh, und Sie ha­ben wohl dar­an ge­tan, sich an einen an­stän­di­gen, die Ge­set­ze ach­ten­den Bür­ger zu wen­den, der einen gu­ten Ruf zu ver­lie­ren hat. Aber trotz­dem müs­sen wir das Geld die­se Nacht ha­ben – es mag bie­gen oder bre­chen.«

»Die­se Nacht, Raffles?«

»Je frü­her, de­sto bes­ser. Jede Stun­de nach zehn Uhr mor­gens ist ge­fähr­lich. Wenn ei­ner von Ihren Schecks bis zu Ih­rer Bank ge­langt, wird die Zah­lung ver­wei­gert, und Sie sind ent­ehrt. Nein, wir müs­sen uns das Geld die­se Nacht ver­schaf­fen und mor­gen Vor­mit­tag, so bald als mög­lich, ein neu­es Kon­to für Sie er­öff­nen las­sen. Und ich glau­be zu wis­sen, wo wir das Zeug be­kom­men kön­nen.«

»Um zwei Uhr nachts.«

»Ja.«

»Aber wie – wo – zu die­ser Stun­de?«

»Bei ei­nem mei­ner Freun­de hier in Bond Street.«

»Das muss ein sehr in­ti­mer Freund sein.«

»In­tim ist nicht das rech­te Wort, aber ich kann bei ihm ein und aus ge­hen und habe einen ei­ge­nen Schlüs­sel zu sei­ner Woh­nung.«

»Und Sie wol­len ihn mit­ten in der Nacht her­austrom­meln?«

»Wenn er zu Bett liegt, ja.«

»Ist es nö­tig, dass ich Sie be­glei­te?«

»Un­be­dingt.«

»Dann kann’s nichts hel­fen, aber ich muss ge­ste­hen, dass mir der Ge­dan­ke sehr we­nig ge­fällt, Raffles.«

»Zie­hen Sie die and­re Al­ter­na­ti­ve vor?« frag­te mein Ge­nos­se mit ei­nem höh­ni­schen Grin­sen. »Nein, zum Hen­ker, das war un­recht«, rief er reu­ig in dem­sel­ben Atem­zu­ge. »Ich be­grei­fe Sie sehr wohl, denn ich weiß, dass es eine furcht­ba­re Pro­be ist; al­lein dass Sie drau­ßen ste­hen blei­ben, ist ganz un­mög­lich. – Ich will Ih­nen et­was sa­gen, Sie sol­len eine klei­ne Auf­mun­te­rung ha­ben – aber nur eine. Hier ist der Whis­ky und da ein Si­phon. Ich will einen Man­tel um­neh­men, wäh­rend Sie sich ein Glas zu­recht­ma­chen.«

Das tat ich denn auch, und zwar war ich nicht all­zu be­schei­den da­bei, denn die­ser Plan war mir dar­um nicht we­ni­ger wi­der­wär­tig, dass ihm, wie es schi­en, nicht aus dem Wege zu ge­hen war. In­des­sen muss ich ein­räu­men, dass er, noch ehe mein Glas leer war, viel von sei­nem Schre­cken ver­lo­ren hat­te. In­zwi­schen trat Raffles wie­der ein. Ein Man­tel ver­hüll­te sei­ne bun­te Fla­nell­ja­cke und ein wei­cher Filz­hut war nach­läs­sig auf sei­nen Lo­cken­kopf ge­stülpt, den er lä­chelnd schüt­tel­te, als ich ihm die Fla­sche reich­te.

»Wenn wir wie­der hier sind«, sag­te er. »Erst die Ar­beit und dann das Ver­gnü­gen. Se­hen Sie wohl, wel­ches Da­tum wir ha­ben?« füg­te er hin­zu, in­dem er ein Blatt von sei­nem Wand­ka­len­der ab­riss, wäh­rend ich mein Glas leer­te. »Der 15. März. ›Des Mär­zen Iden, des Mär­zen Iden!‹ Ver­ges­sen Sie das nicht. He, Bun­ny, mein Jun­ge, die wer­den Sie nicht ver­ges­sen, wie?«

La­chend warf er eine Schau­fel Koh­len aufs Feu­er, be­vor er wie ein sorg­li­cher Haus­va­ter das Gas klein dreh­te, und so ver­lie­ßen wir das Zim­mer, als die Uhr auf dem Ka­min­sims Zwei schlug.

*

Pic­ca­dil­ly lag wie ein mit kal­tem weißem Ne­bel ge­füll­ter, vom ver­schwom­me­nen Schein der La­ter­nen ein­ge­fas­s­ter und mit ei­ner dün­nen Schicht kleb­ri­gen Schmut­zes be­deck­ter Gra­ben vor uns. Wir be­geg­ne­ten kei­ner Men­schen­see­le auf dem ver­las­se­nen Bür­ger­steig und wur­den von dem Schutz­mann, der den Dienst im Stadt­vier­tel hat­te, mit ei­nem sehr schar­fen Blick beehrt, aber auch durch eine Berüh­rung des Hel­mes be­grüßt, als er mei­nen Beglei­ter er­kann­te.

»Die Po­li­zei kennt mich, wie Sie se­hen«, be­merk­te Raffles la­chend, als wir wei­ter­gin­gen. »Arme Teu­fel! In ei­ner Nacht wie die­se heißt’s auf­pas­sen! Für Sie und mich mag ein Ne­bel eine Unan­nehm­lich­keit sein, Bun­ny, aber er ist eine wah­re Got­tes­ga­be für die Ver­bre­cher, be­son­ders so spät im Jah­re. Aber hier sind wir an Ort und Stel­le – und ich will mich hän­gen las­sen, wenn der Mensch nicht doch im Bett liegt und schläft!«

Wir wa­ren in Bond Street ein­ge­bo­gen und stan­den jetzt auf der rech­ten Sei­te ein paar Schrit­te von der Ecke am Rand­stein des Bür­ger­steigs. Raffles schau­te nach ei­ni­gen Fens­tern auf der an­de­ren Sei­te der Stra­ße em­por, Fens­ter, die durch den Ne­bel kaum zu er­ken­nen wa­ren, denn nicht der ge­rings­te Licht­schim­mer hob sie aus ih­rer Um­ge­bung her­vor. Sie la­gen über ei­nem Ju­we­lier­la­den, wie ich an dem Guck­loch in der Tür und dem da­hin­ter bren­nen­den hel­len Licht sah, aber der gan­ze obe­re Teil nebst der ne­ben dem La­den ge­le­ge­nen Haus­tür war so schwarz als der Him­mel selbst.

»Wol­len wir’s nicht für die­se Nacht auf­ge­ben?« dräng­te ich. »Mor­gen früh ha­ben wir noch Zeit ge­nug.«

»Kei­nes­wegs«, ent­geg­ne­te Raffles. »Ich habe sei­nen Schlüs­sel, und wir wol­len ihn über­ra­schen. Vor­wärts!«

Bei die­sen Wor­ten er­griff er mich am rech­ten Arm, zog mich ei­lig über die Stra­ße und öff­ne­te die Tür mit sei­nem Drücker, um sie im nächs­ten Au­gen­blick rasch, aber ge­räusch­los hin­ter uns zu schlie­ßen. Nun stan­den wir zu­sam­men im Dun­keln. Drau­ßen nä­her­ten sich ge­mes­se­ne Schrit­te, die wir schon beim Über­schrei­ten der Stra­ße durch den Ne­bel ge­hört hat­ten. Jetzt, wo sie deut­li­cher wur­den, um­klam­mer­ten Raffles’ Fin­ger mei­nen Arm fes­ter.

»Vi­el­leicht ist er es selbst«, flüs­ter­te er. »Er ist ein Sa­tan von ei­nem Nacht­vo­gel. Kei­nen Laut, Bun­ny! Wir wol­len ihn zu Tode er­schre­cken. – Ah!«

Die takt­mä­ßi­gen Schrit­te wa­ren vor­über­ge­gan­gen, ohne an­zu­hal­ten. Raffles hol­te tief Atem, und sei­ne Fin­ger, die mei­nen Arm so selt­sam um­spannt hat­ten, lös­ten sich.

»Aber trotz­dem kei­nen Laut!« fuhr er in dem­sel­ben Flüs­ter­to­ne fort. »Wir wol­len ihn re­gel­recht über­ra­schen, wo er auch sein mag. Zie­hen Sie Ihre Schu­he aus und fol­gen Sie mir.«

Der Le­ser wird sich wun­dern, dass ich tat, wie mir ge­hei­ßen wur­de, aber er kennt eben A. J. Raffles nicht. Die Hälf­te sei­ner Macht lag in der ver­bind­li­chen Art, in der er den Ge­bie­ter hin­ter dem Füh­rer zu­rück­tre­ten ließ, und es war ge­ra­de­zu un­mög­lich, ei­nem Man­ne nicht zu fol­gen, der mit sol­chem Feu­er führ­te. Als ich hör­te, wie er sei­ne Schu­he ab­streif­te, tat ich das­sel­be und stieg hin­ter ihm die Trep­pe em­por, noch ehe ich mir klar ge­macht hat­te, welch ein un­ge­wöhn­li­ches Vor­ge­hen es sei, mit­ten in der Nacht je­mand zu be­su­chen, von dem man Geld er­bit­ten woll­te. Au­gen­schein­lich aber stand Raffles auf au­ßer­or­dent­lich ver­trau­tem Fuße mit ihm, und ich konn­te gar nicht an­ders als an­neh­men, dass sol­che Scha­ber­nacke zwi­schen ih­nen gang und gäbe sei­en.

So lang­sam tas­te­ten wir uns die Trep­pe hin­an, dass ich Zeit hat­te, man­cher­lei zu be­ob­ach­ten, be­vor wir oben an­lang­ten. Auf der Trep­pe lag kein Läu­fer, die aus­ge­spreiz­ten Fin­ger mei­ner rech­ten Hand fühl­ten nichts auf der feuch­ten Wand, wäh­rend die mei­ner lin­ken mir ver­rie­ten, dass di­cker Staub auf der Hand­leis­te des Ge­län­ders lag. Eine un­heim­li­che Emp­fin­dung hat­te sich mei­ner be­mäch­tigt, seit wir in dem Hau­se wa­ren, und die­se ver­stärk­te sich mit je­der Stu­fe, die wir er­stie­gen. Was für ein Ein­sied­ler war das, den wir in sei­ner Zel­le er­schre­cken woll­ten?

Jetzt ka­men wir an einen Ab­satz. Das Ge­län­der wand­te sich nach links und aber­mals nach links. Noch vier Stu­fen, dann stan­den wir wie­der auf ei­nem neu­en, län­ge­ren Ab­satz, und plötz­lich flamm­te ein Streich­holz in der schwar­zen Fins­ter­nis auf. Von sei­nem An­rei­ben hat­te ich nicht das Ge­rings­te ge­hört. Der Schein war blen­dend; als sich mei­ne Au­gen je­doch dar­an ge­wöhnt hat­ten, sah ich Raffles, das Streich­holz mit ei­ner Hand hoch hal­tend und mit der an­de­ren be­schat­tend, zwi­schen kah­len Bret­ter­wän­den und den of­fe­nen Tü­ren lee­rer Zim­mer ste­hen.

»Wo­hin ha­ben Sie mich ge­führt?« rief ich. »Das Haus ist ja nicht be­wohnt.«

»Bst! War­ten Sie!« flüs­ter­te er, in­dem er mir in eins der lee­ren Zim­mer vor­aus­ging. Sein Streich­holz er­losch, als wir die Schwel­le über­schrit­ten, und er strich ohne das ge­rings­te Geräusch ein andres an. Nun kehr­te er mir den Rücken und mach­te sich mit et­was zu schaf­fen, das ich nicht se­hen konn­te; al­lein als er das zwei­te Streich­holz weg­warf, leuch­te­te statt des­sen ein andres Licht und ein schwa­cher Öl­ge­ruch mach­te sich be­merk­bar. Ich trat vor, um einen Blick über sei­ne Schul­ter zu wer­fen; aber ehe ich das tun konn­te, dreh­te er sich um und ließ den Schein ei­ner win­zi­gen La­ter­ne auf mein Ge­sicht fal­len.

»Was ist das?« stam­mel­te ich mit sto­cken­dem Atem. »Was für einen fau­len Streich füh­ren Sie im Schil­de?«

»Er ist schon ge­spielt«, ant­wor­te­te er mit ei­nem ru­hi­gen La­chen.

»Ge­gen mich?«

»Ich fürch­te, ja, Bun­ny!«

»Es ist also nie­mand im Hau­se?«

»Nie­mand au­ßer uns bei­den.«

»Was Sie von ei­nem Freund in Bond Street sag­ten, der uns das Geld ge­ben wür­de, war also wei­ter nichts als Schwin­del?«

»Doch nicht ganz. Es ist voll­kom­men wahr, dass Dan­by mein Freund ist.«

»Dan­by?«

»Der Ju­we­lier un­ten.«

»Was mei­nen Sie?« flüs­ter­te ich zit­ternd wie Es­pen­laub, als die Er­kennt­nis sei­ner wah­ren Ab­sicht in mir em­por­däm­mer­te. »Wer­den wir das Geld von dem Ju­we­lier er­hal­ten.«

»Nun, das nicht ge­ra­de.«

»Was denn?«

»Gel­des­wert – aus sei­nem La­den.«

Wei­te­re Fra­gen wa­ren über­flüs­sig, denn mir war al­les klar, aus­ge­nom­men mei­ne ei­ge­ne Blind­heit. Ein Dut­zend An­spie­lun­gen hat­te er ge­macht, und ich hat­te kei­ne durch­schaut. Und nun stand ich in dem lee­ren Zim­mer vor ihm und starr­te ihn an, und er stand mit sei­ner Blend­la­ter­ne mir ge­gen­über und lach­te mich aus.

»Ein Ein­bre­cher!« keuch­te ich. »Sie – Sie?«

»Ich sag­te Ih­nen ja, dass ich von mei­ner Schlau­heit lebe.«

»Wa­rum ha­ben Sie mir Ihre Ab­sicht nicht mit­ge­teilt? Wes­halb ha­ben Sie mir nicht ge­traut? Wa­rum war es nö­tig, mich zu be­lü­gen?« frag­te ich, denn trotz mei­nes Ab­scheus fühl­te ich mich emp­find­lich ver­letzt.

»Ich woll­te es Ih­nen ei­gent­lich sa­gen«, ant­wor­te­te er, »und war mehr als ein­mal drauf und dran, es zu tun. Sie ent­sin­nen sich doch, wie ich we­gen ei­nes Ver­bre­chens bei Ih­nen auf den Busch klopf­te, ob­gleich Sie wahr­schein­lich ver­ges­sen ha­ben, was Sie dar­auf ant­wor­te­ten. Ich glaub­te auch nicht, dass es Ihr Ernst war, al­lein ich ge­dach­te Sie auf die Pro­be zu stel­len. Jetzt sehe ich, dass ich recht hat­te, aber ich ver­den­ke Ih­nen das nicht. Mich al­lein trifft die Schuld. Ma­chen Sie sich aus dem Staub, mein lie­ber Jun­ge, so rasch Sie kön­nen, und über­las­sen Sie die Sa­che mir. Ver­ra­ten wer­den Sie mich doch wohl nicht, was Sie auch sonst tun mö­gen!«

O, sei­ne Schlau­heit, sei­ne sa­ta­ni­sche Schlau­heit! Hät­te er Dro­hun­gen, Zwang und Hohn an­ge­wandt, wäre viel­leicht al­les an­ders ge­kom­men, aber er stell­te es mir an­heim, ihn im Sti­che zu las­sen. Selbst zur Ver­schwie­gen­heit such­te er mich nicht zu ver­pflich­ten; er trau­te mir ein­fach. Mei­ne schwa­chen, wie mei­ne star­ken Sei­ten kann­te er ganz ge­nau und mit Meis­ter­hand wuss­te er sich ih­rer zu be­die­nen.

»Nicht so hit­zig«, sag­te ich. »Habe ich Sie auf die­sen Ge­dan­ken ge­bracht, oder wür­den Sie es auf je­den Fall ge­tan ha­ben?«

»Nicht auf je­den Fall«, ant­wor­te­te Raffles. »Den Schlüs­sel habe ich al­ler­dings seit ei­ni­gen Ta­gen, al­lein als ich heu­te Abend ge­wann, ge­dach­te ich die Sa­che auf­zu­ge­ben, denn, um die Wahr­heit zu sa­gen, es ist ein Un­ter­neh­men, zu des­sen Aus­füh­rung mehr als ei­ner ge­hört.«

»Das ent­schei­det die Fra­ge – ich bin der Ihre.«

»Im Ernst?«

»Ja – für die­se Nacht.«

»Gu­ter al­ter Bun­ny!« mur­mel­te er, mir die La­ter­ne einen Au­gen­blick vors Ge­sicht hal­tend. Da­rauf setz­te er mir sei­nen Plan aus­ein­an­der, und ich nick­te, als ob wir un­ser gan­zes Le­ben lang Ein­brü­che mit­ein­an­der be­gan­gen hät­ten.

»Ich ken­ne den La­den, denn ich habe ein paar Sa­chen dort ge­kauft«, flüs­ter­te er, »und ich ken­ne auch den obe­ren Teil des Hau­ses. Er ist seit ei­nem Mo­nat zu ver­mie­ten, und ich habe mir eine An­wei­sung zur Be­sich­ti­gung der Woh­nung ver­schafft und einen Ab­druck des Schlüs­sels ge­nom­men, ehe ich da­von Ge­brauch mach­te. Das ein­zi­ge, was ich noch nicht weiß, ist, wie man von oben in den La­den ge­langt; ge­gen­wär­tig be­steht kei­ne Ver­bin­dung. Vi­el­leicht könn­ten wir sie von hier aus her­stel­len, aber ich wür­de dem Keller­ge­schoss den Vor­zug ge­ben. Wenn Sie einen Au­gen­blick war­ten wol­len, kann ich mich be­stimmt aus­spre­chen.«

Bei die­sen Wor­ten stell­te er die La­ter­ne auf den Fuß­bo­den und schlich an eins der Hin­ter­fens­ter, das er fast ge­räusch­los öff­ne­te, aber nur um kopf­schüt­telnd zu­rück­zu­keh­ren, nach­dem er es mit der­sel­ben Vor­sicht ge­schlos­sen hat­te.

»Das war uns­re ein­zi­ge Mög­lich­keit«, sag­te er. »Hin­ter­fens­ter über Hin­ter­fens­ter, aber es ist so dun­kel, dass man nichts se­hen kann, und drau­ßen Licht zu zei­gen, dür­fen wir nicht wa­gen. Fol­gen Sie mir nach dem Keller­ge­schoss und ver­ges­sen Sie nicht, dass wir so we­nig Geräusch als mög­lich ma­chen dür­fen, ob­gleich kei­ne Men­schen­see­le im Hau­se ist. Da – da – hö­ren Sie wohl?«

Es war der­sel­be takt­mä­ßi­ge Schritt, den wir vor­hin auf den Plat­ten des Bür­ger­steigs ver­nom­men hat­ten. Raffles ver­dun­kel­te sei­ne La­ter­ne, und wie­der blie­ben wir re­gungs­los ste­hen, bis der Schritt vor­bei war.

»Ent­we­der ein Schutz­mann«, mur­mel­te er, »oder ein Pri­vat­wäch­ter, den sich die­se Ju­we­lie­re zu­sam­men hal­ten. Der Wäch­ter ist der Mann, den wir be­ob­ach­ten müs­sen, denn er wird da­für be­zahlt, sol­che Un­ter­neh­mun­gen zu ver­hin­dern.«

Lei­se schli­chen wir die Trep­pe hin­ab, die trotz al­ler Vor­sicht et­was knarr­te. Nach­dem wir im Flur uns­re Schu­he auf­ge­nom­men hat­ten, stie­gen wir ei­ni­ge schma­le Stu­fen hin­un­ter, an de­ren Fuß Raffles sei­ne La­ter­ne öff­ne­te, sei­ne Schu­he wie­der an­zog und mich auf­for­der­te, das­sel­be zu tun, wo­bei er lau­ter sprach, als er es sich oben ge­stat­tet hat­te. Wir wa­ren jetzt ziem­lich tief un­ter dem Ni­veau der Stra­ße in ei­nem klei­nen Rau­me, der eben­so vie­le Tü­ren als Wän­de hat­te. Drei von die­sen klaff­ten, und wir sa­hen durch sie in lee­re Kel­ler, al­lein die vier­te war ver­schlos­sen und ver­rie­gelt. Durch die­se ge­lang­ten wir sehr bald auf den Bo­den ei­nes tie­fen vier­e­cki­gen mit Ne­bel ge­füll­ten Schach­tes.

Eine ähn­li­che Tür lag in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Wand des klei­nen Höf­chens vor uns. Raffles hielt die La­ter­ne, sie mit sei­nem Kör­per be­schat­tend, dicht dar­an, und dann brach­te ein kur­z­es plötz­li­ches Kra­chen mei­nen Herz­schlag zum Sto­cken. Im nächs­ten Au­gen­blick stand die Tür weit of­fen, und Raffles wink­te mir mit ei­nem Brech­ei­sen.

»Tür Num­mer eins«, flüs­ter­te er. »Der Teu­fel weiß, wie vie­le es noch sein mö­gen, aber min­des­tens zwei sind mir be­kannt. Viel Lärm wird’s da­bei auch nicht ge­ben, und hier un­ten hat das we­ni­ger zu be­deu­ten.«

Jetzt stan­den wir am Fuße ei­ner schma­len Stein­trep­pe, dem ge­nau­en Ge­gen­stück der­je­ni­gen, wel­che wir eben her­ab­ge­kom­men wa­ren. Das Höf­chen oder der Schacht bil­de­te das Bin­de­glied zwi­schen den Wohn- und den Ge­schäfts­räu­men; al­lein die­se Trep­pe führ­te nicht in einen of­fe­nen Gang, son­dern wir sa­hen uns auf der obers­ten Stu­fe ei­ner sehr star­ken Ma­ha­go­ni­tür ge­gen­über.

»Das dach­te ich mir«, mur­mel­te Raffles, mir die La­ter­ne rei­chend und einen Ring mit Diet­ri­chen in die Ta­sche ste­ckend, nach­dem er sie eine Wei­le am Schlos­se ver­sucht hat­te. »Hier durch­zu­kom­men, wird uns eine Stun­de Ar­beit kos­ten.«

Es kos­te­te uns aber nur sie­ben­und­vier­zig Mi­nu­ten nach mei­ner Uhr, oder viel­mehr, es kos­te­te Raffles so viel, und nie im Le­ben habe ich et­was mit mehr Über­le­gung tun se­hen. Mei­ne Teil­nah­me be­schränk­te sich dar­auf, mit der Blend­la­ter­ne in der einen und ei­nem klei­nen Fläsch­chen mit Pe­tro­le­um in der an­de­ren Hand da­bei­zu­ste­hen. Raffles hat­te ein ge­stick­tes Etui her­vor­ge­zo­gen, das dem An­schein nach für sei­ne Ra­sier­mes­ser be­stimmt, in Wahr­heit aber mit den Werk­zeu­gen sei­nes ge­hei­men Hand­werks, wozu auch Pe­tro­le­um ge­hör­te, ge­füllt war. Die­sem Etui ent­nahm er einen Zen­trum­boh­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­