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Laurids Bruun

Der Ring

Kriminalroman

Laurids Bruun

Der Ring

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: n .n.
EV: J. Engelhorns Nachf., Stuttgart, 1929 (286 S.)
1. Auflage, ISBN 978-3-962813-98-7

null-papier.de/594

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Inhaltsverzeichnis

I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

XIV

XV

XVI

XVII

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

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I

Drü­ben auf der Fens­ter­rei­he ver­löscht die Glut. Die Son­ne ist un­ter­ge­gan­gen.

Die Pap­peln längs des Hü­gel­kam­mes, wo die Chaus­see läuft, du­cken sich vor dem kal­ten Luft­zug aus Os­ten. In der dün­nen Luft blitzt ein Stern auf.

Der Spie­gel des Flus­ses ver­blasst, die Ufer wer­den fahl. Der letz­te Ta­ges­schim­mer ver­liert sich auf der Mit­te des Stro­mes.

Der Mann, der auf dem Brücken­kopf steht und ins Was­ser hin­un­ter­starrt, knöpft sei­nen Rock fes­ter, denn von dem Was­ser­spie­gel be­gin­nen jetzt die Ne­bel auf­zu­stei­gen. Die Wir­bel tief un­ten an den Brücken­pfei­lern sind be­reits von Dun­kel­heit er­füllt, doch schei­nen sie lau­ter zu rau­schen, seit man sie nicht mehr se­hen kann.

Der Mann geht längs des Kais auf die Stadt zu.

Die La­ter­nen blit­zen auf, zu­erst die großen, fer­nen im Zen­trum, dann die klei­nen aus den Gas­sen und längs des Ha­fens.

Dort wei­ter hin­ten, wo der Kai in eine Stra­ße über­geht, leuch­tet über ei­ner Tür ein ro­tes Schild. Ein Sei­del, des­sen Kon­tu­ren von ro­ten elek­tri­schen Flam­men ge­bil­det wer­den, wirft sei­nen Schim­mer auf einen ver­gol­de­ten En­gel über der Tür.

Er er­kennt den Ort wie­der. Hier war er ges­tern Abend, hier, wo die Häu­ser­rei­hen auf­hö­ren und Bier­gär­ten, klei­nen Vil­len und Schup­pen Platz ma­chen. Ge­gen elf Uhr war es ge­we­sen. – –

Es war ein merk­wür­di­ger Abend, den er dort hin­ter dem Sei­del und ver­gol­de­ten En­gel ver­brach­te – der ers­te ein­drucks­vol­le seit sei­ner Abrei­se aus Ko­pen­ha­gen.

An dem al­ten ver­stimm­ten Kla­vier hat­te ein blut­jun­ges Mäd­chen ge­ses­sen – frei­mü­tig und auf­recht – mit ei­ner spit­zen ro­ten Müt­ze auf dem Kopf.

Was hat­te das Zi­geu­ner­mäd­chen, wie sie ge­nannt wur­de, ge­spielt? Kei­ne be­kann­te Me­lo­die, kei­ne No­ten – von Früh­jahr – Blät­ter­rau­schen – Vo­gel­ge­zwit­scher zwi­schen auf­bre­chen­den Knos­pen – Ge­klin­gel von Stra­ßen­bah­nen hat­te sie ge­spielt, und mit­ten durch den Lärm ein dün­ner Dis­kant, eine her­vor­bre­chen­de Trä­ne – Erin­ne­run­gen ei­nes Kin­der­ge­mü­tes.

Hier blick­te ei­ner von sei­nem Bier­krug auf, als habe je­mand hin­ter der Tür ihm zu­ge­ru­fen – dort dreh­te ei­ner sich breit um und starr­te mit of­fe­nem Mun­de –

Es war bre­chend voll ge­we­sen. Rauch und Spei­se­dunst hin­gen in Sä­cken un­ter den Kron­leuch­tern.

Im Ne­bel hin­ter dem Schenk­tisch eine di­cke Bü­fett­da­me, Hals und Kra­gen ent­blö­ßt. Sei­del und Fla­schen – Dunst aus der Kü­chen­lu­ke – der fet­te, wei­ße Hals und der Bier­schaum die ein­zi­gen Licht­fle­cke im Ne­bel. Die Glä­ser war­fen den Schein des Kron­leuch­ters zu­rück.

Ein Ober­kell­ner, ma­ger, schmal­schult­rig, mit stram­mem Rücken und schlen­kern­den Glie­dern, lief von Loge zu Loge, mit ei­nem ka­rier­ten Tuch über der Schul­ter. Leb­haf­te Rat­ten­au­gen in ei­nem lan­gen, gelb­li­chen Ge­sicht, ein Nuss­knacker­lä­cheln, dre­ckig lie­bens­wür­dig, ehr­er­bie­tig gri­mas­sie­rend –

»Sehr wohl, Herr! – Herrr – Herrrr

Er sah al­les, hör­te al­les, tät­schel­te im Vor­bei­ei­len das Rot­käpp­chen, das beim An­schla­gen auf ih­rem Ta­bu­rett hüpf­te.

Je­mand rief »Va­len­cia«.

Das Mäd­chen dreh­te den Kopf um – das dich­te, kur­ze Haar flog bei der schnel­len Be­we­gung – und was sah der Frem­de?

Der Atem stock­te ihm vor Ver­wun­de­rung – er sah große er­staun­te Kin­derau­gen, so leuch­tend blau, wie er sie noch nie ge­se­hen hat­te, Wan­gen von wei­cher, un­schul­di­ger Run­dung – einen wei­ßen Hals und ein ro­tes Sei­den­band, das ir­gend et­was Ver­bor­ge­nes un­ter dem Aus­schnitt der sa­lat­grü­nen Blu­se trug. Die Brust noch kaum ge­run­det, auch der Arm un­ter dem Hal­b­är­mel noch ein Kin­der­arm, ohne Ge­schich­te –

Und die­ses Kind nick­te mit un­schuld­sof­fe­nem Blick all den Au­gen zu, die sie be­gehr­lich an­starr­ten, Au­gen, die sich er­fah­ren in die Tie­fe des Kin­der­ge­mü­tes ein­zu­schlei­chen ver­such­ten.

Ein Kriegs­in­va­li­de mit ei­nem grü­nen Au­gen­schirm leg­te den Kopf in den Na­cken, schob den Schirm zu­rück, um ihr Au­gen zu ma­chen, hob sein Sei­del und be­weg­te die plum­pen Lip­pen, feucht und rot, zu ei­ner lüs­ter­nen Bit­te.

Sie lach­te, mach­te ihm auch Au­gen, ohne zu ah­nen, um was er bat, noch was er be­gehr­te.

In der Pau­se lud der Frem­de sie zu ei­nem Gla­se Bier in sei­ner Loge ein.

»Mein On­kel er­laubt es nicht!«

Ernst, mit treu­her­zi­gen Au­gen – ein ar­ti­ges Mäd­chen – Kon­fir­man­din mit ei­ner Zi­geu­ner­müt­ze auf dem dunklen, wei­chen Kin­der­haar.

Ju­bel – Faust­schlä­ge auf den Ti­schen –

»Der On­kel er­laubt es nicht!«

Das Mäd­chen lach­te mit. Sie warf den Kopf in den Na­cken, dass das Haar ihr um die Ohren flog. Ein klin­gen­des La­chen, das dem er­staun­ten Beo­b­ach­ter ans Herz griff.

Ein Kind mit der Hal­tung ei­ner Er­wach­se­nen. Das Le­ben klopf­te stark und mun­ter in ihr – das war das Ge­heim­nis.

Der Mann mit dem Au­gen­schirm kam aus sei­ner Loge, das Sei­del in der Hand. Er woll­te auf sie zu­ge­hen –

Im sel­ben Au­gen­blick aber war der Ober da. Ein Ta­blett in je­der Hand, das ver­zerr­te Ge­sicht in ko­misch keu­sche Fal­ten ge­legt, einen Schelm in sei­nen Rat­ten­au­gen –

»Die aus­ge­stell­ten Wa­ren dür­fen nicht be­rührt wer­den! Kei­ne Fle­cke auf den wei­ßen De­cken, wenn ich bit­ten darf! Woll­ten Sie einen Fox­trott be­stel­len, mein Herr? – Fräu­lein Te­resa, einen Fox­trott für den Herrn mit dem Au­gen­schirm!«

Die Fin­ger hüp­fen über die Tas­ten, das Haar um die Ohren. Ihr Mund lä­chel­te, wäh­rend sie spiel­te, als ob die Luft rein, der Mensch gut und die De­cke vol­ler Ler­chen­ge­zwit­scher sei.

Lan­ge saß der frem­de Herr in sei­ner Loge. Man sah, dass er hier nicht her­ge­hör­te.

Ei­ner blick­te sei­ne Schlips­na­del ver­stoh­len an, ein and­rer ta­xier­te sei­nen Co­ver­coat­man­tel –

Rhein­län­der war er je­den­falls nicht. Ber­li­ner? – Aus­ge­schlos­sen. Zi­vi­list – Po­li­zist in neu­er Ein­klei­dung? Wäh­rend der Be­sat­zung konn­te man sei­ner Sa­che nie si­cher sein. Die Eng­län­der hat­ten ihre ei­ge­nen Lo­ka­le, ihre ei­ge­nen Metho­den – hier durf­ten ihre Sol­da­ten nicht ver­keh­ren – und dort durf­ten die Bür­ger der Stadt nicht ver­keh­ren. Doch kam es vor, dass in Zi­vil – hm, ja, viel­leicht ein Eng­län­der. Was ging’s einen an, man trank und schwatz­te wei­ter.

Auch dem Mäd­chen auf dem Ta­bu­rett war der Frem­de auf­ge­fal­len, neu­gie­rig be­trach­te­te sie ihn von der Sei­te – den fei­nen, wei­chen Hut – die Schlips­na­del –

Als die Uhr an der Wand elf schlug, er­schi­en der dick­nacki­ge, kahl­köp­fi­ge On­kel hin­ter dem Schenk­tisch.

Im Vor­bei­ge­hen strich er dem Zi­geu­ner­mäd­chen mit sei­ner klei­nen fet­ten Hand über die Müt­ze – wur­de des Frem­den an­sich­tig und mach­te dem Co­ver­coat­man­tel und der Schlips­na­del eine Ver­beu­gung, mit zu­sam­men­ge­klapp­ten Ha­cken; be­en­de­te sei­ne Run­de und kehr­te mit Na­cken­fal­ten hin­ter den Schenk­tisch zu­rück, sag­te ein paar Wor­te zur Mam­sell,1 die ehr­er­bie­tig und ver­trau­lich nick­te, und ver­schwand durch eine Sei­ten­tür.

*

Ob­gleich der On­kel es ver­bo­ten hat­te, ge­lang es dem Frem­den den­noch, ei­ni­ge Wor­te mit dem Mäd­chen zu wech­seln.

Die Mu­sik war zu Ende. Sie stand auf, nahm die Müt­ze ab, ord­ne­te das Haar, glät­te­te ihre Schür­ze, zog die Blu­se her­un­ter –

»Schö­nen gu­ten Abend!« sag­te sie und knicks­te.

»Gu­ten Abend!« wur­de aus den Lo­gen geant­wor­tet, aber kei­ne Zu­ru­fe, kei­ne Ver­trau­lich­kei­ten – die ehr­ba­re Run­de des Wir­tes hat­te Ord­nung und An­stand be­wirkt. Es war ein an­stän­di­ges Haus, man kann­te sei­ne Leu­te. Ein Haus mit Jus­tiz –

Als das Kla­vier ge­schlos­sen und der Bock bei­sei­te ge­rückt war, trat das Rot­käpp­chen ans Fens­ter und guck­te durch die Schei­ben­gar­di­nen auf die Stra­ße.

Auf dem Rück­we­ge zö­ger­te sie vor der Loge des Frem­den. Nes­tel­te an ih­rem ro­ten Hals­band, hob die fei­nen Brau­en und spitz­te die Lip­pen, als ob sie eine Fra­ge stel­len woll­te –

Er bot ihr einen Platz an. Sie setz­te sich auf die Kan­te des Stuh­les.

Trin­ken woll­te sie nichts – des On­kels we­gen – nein, dan­ke!

»Was tra­gen Sie an dem schö­nen Band, klei­nes Fräu­lein?« sag­te er aufs Ge­ra­te­wohl.

Die run­den, spitz zu­lau­fen­den Fin­ger zupf­ten an dem Band.

»Mei­nen Per­len­ring!« sag­te sie lä­chelnd, über die An­re­de »klei­nes Fräu­lein« er­freut.

Auch er lä­chel­te.

»Von wem ha­ben Sie ihn be­kom­men?«

»Von mei­ner Mut­ter – mei­ner ers­ten Mut­ter« – sie sah ihn ernst an, ohne Scheu, »er ist von ei­nem Bi­schof ge­seg­net wor­den.«

Was soll­te er noch sa­gen –?

»Darf ich ihn mal se­hen?«

Sie schüt­tel­te den Kopf und guck­te auf das Band her­ab, ob es auch an sei­nem Plat­ze säße.

»Wa­rum nicht?«

»Ich muss gut auf ihn acht­ge­ben – darf ihn nie­man­dem zei­gen.«

»Sie hei­ßen Te­resa?« Der Ober hat­te ja ge­sagt: Fräu­lein Te­resa, einen Fox­trott.

Sie hob die Brau­en und nick­te er­staunt. Strich dar­auf glät­tend über die Blu­se, schob die Brust vor und sag­te stolz: »Ich bin sech­zehn Jah­re alt.«

Er hat­te ge­dacht vier­zehn, und zei­tig ent­wi­ckelt. Statt des­sen war es um­ge­kehrt: sech­zehn, aber Au­gen und Ge­müt ei­nes Kin­des.

Er mus­ter­te sie noch ein­mal. Nur die Hän­de schie­nen er­wach­sen: Kla­vier­hän­de.

»Wer hat Sie so spie­len ge­lehrt? Ohne No­ten – aus frei­er Fan­ta­sie?«

»Ich selbst.« Sie lach­te mit ih­rem klin­gen­den, of­fe­nen La­chen. Da­rauf setz­te sie sich be­que­mer zu­recht, rück­te ihm et­was nä­her.

»Ich bin in Ita­li­en ge­bo­ren«, er­zähl­te sie, »aber ich war im­mer krank, als ich klein war.«

Eine Lek­ti­on, die sie aus­wen­dig ge­lernt hat, dach­te er bei sich.

Sie merk­te ihm die Ver­än­de­rung an, be­trach­te­te ihn fest und füg­te in ei­nem kla­gen­den Ton hin­zu: »Ach, ich war so lan­ge, lan­ge krank –«

Sie ent­fern­te er­klä­rend die Hän­de von­ein­an­der, als ob sie an ei­nem Gum­mi­band zöge.

»Und als ich krank war, ver­lern­te ich das Spre­chen. Erst als ich vier Jah­re alt war, konn­te ich wie­der spre­chen. Da­rum –«

Sie zö­ger­te und sah ihn an, die Au­gen­brau­en auf­merk­sam zu­sam­men­ge­zo­gen –

»Da­rum? – Was dar­um?«

Er ver­such­te ihre er­klä­ren­den Hän­de zu grei­fen, aber sie ent­schlüpf­ten ihm.

Sie beug­te sich ihm zu und sag­te eif­rig, mit ge­dämpf­ter Stim­me: »Ich bin nicht so dumm und klein, wie Sie glau­ben. Wenn ich sieb­zehn Jah­re alt wer­de, und das wer­de ich bald, dann kom­me ich in ein fei­nes Lo­kal –«

Ihr Blick glitt über Lo­gen und Wän­de, zu ei­nem strah­lend er­leuch­te­ten Saal mit vie­len Spie­geln –

»Mit lau­ter klei­nen Ti­schen und ro­ten Lämp­chen dar­auf – Her­ren mit ganz wei­ßen Wes­ten –« ihre Hän­de glit­ten er­klä­rend über Brust und Blu­se – »und Da­men mit nack­ten Ar­men und gar nichts auf dem Hal­se au­ßer Per­len, und Stei­ne im Haar, die von selbst leuch­ten.«

Sie hüpf­te auf ih­rem Stuhl, wäh­rend die großen Au­gen in den strah­len­den Saal blick­ten.

Ihre Wan­gen glüh­ten, die Lip­pen wa­ren ge­öff­net –

»Ich soll auch so aus­se­hen und mit den fei­nen wei­ßen Her­ren es­sen, und dann darf ich auch trin­ken. Denn wenn man sieb­zehn Jah­re alt ist, dann ist man er­wach­sen, und dann darf man trin­ken und sich amü­sie­ren. Das sagt Walt­her.«

»Wer ist Walt­her?«

»Das ist ja un­ser Ober. Und der wird mit Wein und Glä­sern her­um­ge­hen und uns be­die­nen.«

Sie zeig­te, wie er das große Ta­blett auf ge­spreiz­ten Fin­gern ba­lan­cie­ren wür­de.

Da­bei lach­te sie vor sich hin, als ob sie al­lein sei. Strah­lend schweif­te ihr Blick hier­hin und dort­hin –

»Und ich soll bei Walt­her woh­nen, und er will so gut, so gut zu mir sein, ich kann al­les zu es­sen be­kom­men, was ich ha­ben will, und mor­gens so lan­ge schla­fen, wie ich mag –«

Sie hielt inne, in­dem ihr das Blut in die Wan­gen stieg, griff sich an den Mund und sah sich ängst­lich um.

»Him­mel, ich hab’ mich ver­plap­pert. Sie dür­fen es nicht wei­ter­sa­gen«, bat sie er­schro­cken.

Er ver­sprach es. Als er den Ober mit dem ver­zerr­ten Ge­sicht such­te, traf ihn der Blick der fun­keln­den Au­gen.

»Was aber sagt Ihr On­kel dazu?«

Sie rich­te­te sich auf und sag­te mit ei­ner Stim­me, aus der ein and­rer sprach: »Ach, der ist so alt. Es ist Sün­de, ihm et­was da­von zu sa­gen.«

»Und der Per­len­ring, den Sie nie­man­dem zei­gen dür­fen? Wie wol­len Sie den ver­ber­gen, wenn Sie einen ent­blö­ßten Hals ha­ben, wie die fei­nen Da­men?«

Sie zö­ger­te und warf ihm einen prü­fen­den Blick zu.

»Wir wer­den uns wohl nie wie­der­se­hen?«

Er schüt­tel­te den Kopf, er­staunt, zö­gernd –

»Na, dann will ich es Ih­nen sa­gen. Ich wer­de ihn in mei­nem lin­ken Strumpf ver­ste­cken«, flüs­ter­te sie.

Er­staunt, prü­fend beug­te er sich vor und sag­te flüs­ternd wie sie: »Das hat Walt­her Ih­nen wohl ge­ra­ten?«

»Wo­her wis­sen Sie das?« frag­te sie er­staunt.

»Als Sie ihm den Ring ge­zeigt ha­ben – nicht?«

Sie schüt­tel­te ener­gisch den Kopf und flüs­ter­te: »Aber ich habe ver­spro­chen, ihm den Ring zu zei­gen, wenn ich sieb­zehn Jah­re alt ge­wor­den bin, weil er so gut zu mir sein will. Und wenn es im Strumpf nicht geht, dann will er ihn für mich auf­be­wah­ren.«

In ei­ner plötz­li­chen Ein­ge­bung beug­te der Frem­de sich vor, leg­te sei­ne Hand über die ihre und flüs­ter­te: »Zei­gen Sie ihm Ihren Ring nicht – ver­trau­en Sie ihn ihm nicht an, und ge­hen Sie nicht al­lein mit ihm aus!«

Erst hin­ter­her war er sich klar dar­über, was er ge­sagt hat­te. Im sel­ben Au­gen­blick fühl­te er sich be­ob­ach­tet, und als er auf­blick­te, sah er den Ober in der nächs­ten Loge; er wisch­te den Tisch ab, wo die Gäs­te so­eben auf­ge­bro­chen wa­ren.

Der Frem­de rief ihn, er woll­te be­zah­len.

»Sehr wohl, Herr!«

Walt­her er­schi­en, blin­zelnd, lär­mend.

Er be­kam einen grö­ße­ren Schein und ging da­mit zur Kas­se, um ihn zu wech­seln.

Der Frem­de beug­te sich vor und sah dem Mäd­chen fest in die Au­gen, da­mit sei­ne Wor­te auf ihr ein­fäl­ti­ges Ge­müt Ein­druck mach­ten: »Wenn er fragt, wo­von wir ge­spro­chen ha­ben, dann sage: von Mu­sik, von nichts an­derm. Hast du ver­stan­den?«

Das Du war ihm ent­schlüpft – er woll­te es be­rich­ti­gen, un­ter­ließ es aber.

Sie nick­te mit großen Au­gen – tief, blau, ver­ständ­nis­los.

»Do you speak Eng­lish?« frag­te er den Ober, als er mit dem ge­wech­sel­ten Geld kam.

»Yes, Sir, a bit.«

Der Ober wur­de mit­teil­sam, er habe Eng­lisch ge­lernt, als er vor dem Krie­ge in Lon­don Kell­ner ge­we­sen sei.

Dann sprach der Frem­de von dem Mäd­chen, es sei ein Wun­der­kind! Wenn sie et­was lern­te, könn­te sie es weit brin­gen. Er ver­ste­he sich dar­auf. Er sei Mu­si­ker von Fach.

Schließ­lich gab er ein gu­tes Trink­geld.

»Ge­ben Sie gut auf das Mäd­chen acht!« sag­te er und sah dem Ober fest ins Auge, als er sich er­hob.

»Der On­kel wird schon auf sie acht­ge­ben!« sag­te der Ober, ver­zog sei­ne tie­fen Ba­cken­fal­ten und blin­zel­te mit den Rat­ten­au­gen.

»Good night, Sir!« Eine tie­fe Ver­beu­gung in der Tür.

Ein Er­leb­nis – das ers­te auf sei­ner Wall­fahrt.

»Die Per­le im Schwei­ne­trog«, woll­te er es in sei­nem Ta­ge­buch nen­nen.

Der Frem­de auf dem Kai über­leg­te.

Soll­te er heu­te Abend wie­der hin­ge­hen? Vi­el­leicht mehr er­fah­ren – zum Bei­spiel, warum sie Zi­geu­ner­mäd­chen ge­nannt wur­de?

Im sel­ben Au­gen­blick wur­de die Tür un­ter dem ver­gol­de­ten En­gel von drin­nen ge­öff­net.

Zwei bie­de­re Bür­ger tra­ten auf die men­schen­lee­re Stra­ße. Der Wirt öff­ne­te ih­nen selbst die Tür. Be­vor sie gin­gen, wech­sel­ten sie noch ei­ni­ge has­ti­ge Wor­te mit ihm.

Der On­kel blieb in der Tür ste­hen und blick­te ih­nen nach, bis die kal­te Abend­luft ihn hin­ein­trieb.

Bie­de­re Leu­te mit breit­krem­pi­gen Hü­ten, Schnurr­bär­ten.

Plötz­lich trat der eine in einen Tor­weg, ohne den Hut zu lüf­ten oder sich zu ver­ab­schie­den, wäh­rend der and­re über die men­schen­lee­re Land­stra­ße blick­te, die dem Flus­se folg­te, so weit das Auge reich­te.

Selt­sa­mes Be­neh­men – Vik­tor Hel­ler wur­de auf­merk­sam –

Wäh­rend der eine sich der Brücke nä­her­te, wo er auf dem Kai stand, fass­te der and­re im Tor Pos­ten und be­hielt die Stra­ße, die auf die Stadt zu­führ­te, im Auge.

Der ers­te­re hat­te Vik­tor Hel­ler er­reicht –

»Ent­schul­di­gen Sie, mein Herr«, sag­te er, »sind Sie so­eben über die Brücke ge­gan­gen?«

»Ja.«

»Ist Ih­nen viel­leicht zu­fäl­lig die­ser Herr hier be­geg­net?«

Ohne sei­nen Blick von der Land­stra­ße zu wen­den, zog er eine Fo­to­gra­fie aus der Ta­sche, die einen Herrn im dunklen Uls­ter2 mit ei­ner Sport­müt­ze zeig­te, ei­nem lan­gen, bart­lo­sen Ge­sicht mit tie­fen Fal­ten.

»Hugo Walt­her« stand un­ter der Fo­to­gra­fie, mit vie­len über­flüs­si­gen Schwän­gen.

»Po­li­zei!« füg­te er dis­kret hin­zu und zog mit der an­de­ren Hand ein klei­nes run­des Mes­sing­schild aus sei­ner Fut­ter­ta­sche.

Vik­tor sah gleich, wen das Bild vor­stell­te.

»Das ist der Ober aus dem ›Gol­de­nen En­gel‹ drü­ben. Ich war ges­tern Abend da.«

»Ich weiß«, sag­te der Be­am­te freund­lich, »wir sind ihm auf der Spur – es han­delt sich um eine Falsch­spie­ler­ban­de.«

»Dort im Wirts­haus?« sag­te Vik­tor er­staunt.

Der Po­li­zist schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf.

»Dort nicht, im Wirts­haus ›Zum Kuckuck‹ im Mar­tin-Vier­tel, nach der Po­li­zei­stun­de. Er hät­te schon vor ei­ner Stun­de auf sei­nem Pos­ten sein müs­sen, hat aber wohl Fähr­te ge­ro­chen und sich un­sicht­bar ge­macht. Und das Mäd­chen – hüb­sches Ding, die Nich­te des Wirts, ist auch nir­gends zu fin­den.«

Vik­tor fuhr zu­sam­men. Er woll­te er­zäh­len, was er ges­tern er­fah­ren hat­te –

Der Be­am­te aber be­rühr­te ab­we­send sei­nen Arm: »Ei­nen Au­gen­blick.«

Er war einen Schritt bei­sei­te ge­tre­ten und streck­te den Kopf spä­hend vor, wie ein Jagd­hund, der Fähr­te hat.

Der Frem­de folg­te der Rich­tung sei­nes Blickes und ent­deck­te in der blas­sen Däm­me­rung, weit hin­ten, aber auf dem­sel­ben Fuß­steig, einen Mann und eine Frau, die im eif­ri­gen Ge­spräch auf sie zu­ka­men. Der Mann ges­ti­ku­lier­te er­klä­rend mit dem rech­ten Arm, mit dem lin­ken schi­en er die Frau zu­rück­hal­ten zu wol­len. Ihre hel­len St­rümp­fe guck­ten un­ter dem dunklen Man­tel her­vor, der ihr et­was über die Knie reich­te, und sie trip­pel­te wie ein Kind, das sich sträubt.

Vik­tor konn­te das Paar kaum un­ter­schei­den; an dem Pro­fil des Jä­gers aber sah er, dass es das Wild sei –

Nach der Ta­sche tas­tend, steck­te der Po­li­zist Bild und Schild wie­der zu sich, wäh­rend er auf jede Be­we­gung des Wil­des, des Paa­res dort hin­ten, ach­te­te und es nä­her her­an­kom­men ließ.

Plötz­lich wand­te er sich Vik­tor Hel­ler zu, fass­te ihn am Man­tel­knopf, re­de­te ir­gend et­was, schlug den Kra­gen hoch – die Abend­luft sei kalt – mach­te eine Be­we­gung, als ob er ihn zu ei­nem Abend­spa­zier­gang un­term Arm fas­sen woll­te; aus den Au­gen­win­keln aber be­ob­ach­te­te er das Paar un­aus­ge­setzt –

»Der Kerl hat Wind von mir be­kom­men«, er­klär­te er, beug­te sich her­ab und leg­te sei­ne Hän­de auf Hel­lers Schul­tern, als ob sie im ver­trau­li­chen Ge­spräch stün­den, und flüs­ter­te: »Es kommt dar­auf an, wer die schärfs­ten Au­gen hat. – Se­hen Sie nicht dort­hin!« kom­man­dier­te er plötz­lich, sprung­be­reit –

Ein Angst­schrei – der ei­nes Kin­des –

Hel­ler sah nur noch einen Schim­mer von den hel­len Bei­nen – dann war das Paar hin­ter der Pap­pel­rei­he ver­schwun­den.

Der Pfiff aus ei­ner Po­li­zeipfei­fe, ge­dämpft, aber durch­drin­gend – und in der nächs­ten Se­kun­de, als der Be­am­te be­reits hin­ter ih­nen her war, kam auch der Ka­me­rad aus dem Tor­weg an Hel­ler vor­bei.

Un­will­kür­lich be­gann auch Hel­ler sich in Be­we­gung zu set­zen. Dann aber fass­te er sich. Was ging’s ihn an?

Der Be­am­te lief den Ab­hang bis zum Flus­sufer hin­ab, ganz bis ans Was­ser –

Hat­te er nicht das Paar un­ten am Flus­sufer ge­se­hen, dort, wo ein lee­rer Sand­prahm lag –?

Vik­tor sah den Po­li­zis­ten nach – der Mann aus dem Tor­weg setz­te mit ei­nem flot­ten Sprung über eine Bar­rie­re, der and­re kroch un­ten durch. Sie lie­fen wie Wett­läu­fer, blie­ben einen Au­gen­blick spä­hend ste­hen und lie­fen wie­der wei­ter.

Das Paar war nicht mehr zu se­hen. Auch die bei­den Be­am­ten wa­ren plötz­lich wie von der Erde ver­schwun­den.

Ein Tun­nel scheint un­ter der Land­stra­ße durch­zu­füh­ren, dach­te Hel­ler, denn der Ab­hang zog sich ohne Bie­gung hin, so weit das Auge reich­te.

Er ver­harr­te noch eine Wei­le und be­trach­te­te die Leu­te, die, durch Po­li­zei­flö­te und Lauf­schrit­te her­bei­ge­ru­fen, aus klei­nen Häu­sern und Schup­pen ka­men.

Sie reck­ten die Häl­se, lie­ßen ei­ni­ge gro­be Wor­te fal­len und gin­gen wie­der hin­ein.

»Arme klei­ne Zi­geu­ne­rin!« seufz­te er, wäh­rend er zu der Brücke zu­rück­kehr­te, wo der Po­li­zist ihn an­ge­re­det hat­te, »wie wird es der ein­fäl­ti­gen See­le mit ih­rem Per­len­ring er­ge­hen?«

Er at­me­te schwer und ball­te die Hän­de in der Ta­sche.

Wie konn­te er den Schur­ken fas­sen? Nicht durch die Po­li­zei: Ver­hör und Ur­teil – bit­te, so und so vie­le Tage Ge­fäng­nis, und wenn sie über­stan­den wa­ren, fing die Ge­schich­te von vorn an. Was küm­mer­te die Po­li­zei die Zu­kunft ei­nes ar­men klei­nen ein­fäl­ti­gen Mäd­chens, wenn nur die Pa­ra­gra­fen nicht über­tre­ten wur­den. Sieb­zehn Jah­re, bit­te, Herr Ver­füh­rer, frei­er Zu­tritt für je­den – geht uns nichts an.

Nein, den Kerl per­sön­lich beim Kra­gen fas­sen und das Tier un­schäd­lich ma­chen!

Er beug­te den Kopf in dem Ge­fühl sei­ner Ohn­macht und stieß den Stock hart zur Erde –

Da sind die Straf­ge­set­ze, die Vor­schrif­ten – das üb­ri­ge geht nie­man­den et­was an.

Sein Blick wur­de von et­was Blit­zen­dem auf der Erde an­ge­zo­gen –

Das Po­li­zei­schild – das klei­ne, run­de Mes­sing­schild mit dem Stem­pel lag auf der Erde und blitz­te.

Er bück­te sich und nahm es auf.

Wahr­schein­lich war es da­ne­ben ge­glit­ten, als der Be­am­te es in die Ta­sche ste­cken woll­te, wäh­rend er auf das Wild acht­gab.

Hel­ler wen­de­te und dreh­te es in der Hand und blick­te dann die Land­stra­ße hin­ab. Von den Be­am­ten war kei­ne Spur zu se­hen noch zu hö­ren – und dun­kel war es in­zwi­schen auch ge­wor­den.

Er muss­te sich also mit sei­nem Fund zur nächs­ten Po­li­zei­wa­che be­ge­ben. Und wäh­rend er das Schild in die Ta­sche steck­te, mach­te er sich auf den Weg zur Stadt.

Er war noch nicht weit ge­gan­gen, als er plötz­lich ste­hen blieb. Eine Ein­ge­bung war ihm ge­kom­men, die sein Herz schnel­ler schla­gen mach­te. Das Mes­sing­schild brann­te ihm un­ter der Hand, die er dar­auf ge­presst hielt. Wahr­haf­tig, die Ver­su­chung war groß –

Wel­che –?

Nun, er woll­te ver­su­chen, ein klei­nes ein­fäl­ti­ges und hilflo­ses Mäd­chen mit ih­rem Per­len­ring, der von ei­nem Bi­schof ge­seg­net war, zu ret­ten.

War es nicht nur eine Fra­ge von Zeit und Geld, Spür­sinn und – ja eben, von ei­nem Po­li­zei­schild?

Er war bis heu­ti­gen Ta­ges ein Stu­ben­ge­lehr­ter, ein Bü­cher­wurm, ein Aka­de­mi­ker ge­we­sen, der sich einen Pro­fes­sor­ti­tel er­wer­ben woll­te auf dem Ge­biet der Wech­sel­wir­kung zwi­schen den ethi­schen Ka­te­go­ri­en und der his­to­risch ent­wi­ckel­ten, mo­der­nen Kul­tur. Er war in die Welt hin­aus­ge­reist, um das Le­ben aus nächs­ter Nähe ken­nen­zu­ler­nen.

War ihm hier nun nicht ein ty­pi­scher Fall in den Weg ge­kom­men, ein Spiel zwi­schen Staats­ge­walt und Ver­bre­cher­tum, bei dem die bür­ger­li­che Ge­set­zes­über­tre­tung in kei­nem Ver­hält­nis zu der Nicht­ach­tung ethi­scher Wer­te stand?

Wie oft hat­te er in Macht­lo­sig­keit den Kopf ge­beugt, weil er nicht die Mög­lich­keit be­saß, mit dem Stoff in per­sön­li­che Berüh­rung zu kom­men, weil für ihn die Tür des La­bo­ra­to­ri­ums ver­schlos­sen war – und plötz­lich lag der Schlüs­sel zu sei­nen Fü­ßen und blitz­te zu ihm auf!

»Dies Schild habe ich bis auf wei­te­res nö­tig«, sag­te er sich selbst, fest ent­schlos­sen, und knöpf­te sei­nen Man­tel fes­ter.

Seit sei­nem zehn­ten Jah­re hat­te er bei­na­he täg­lich Deutsch ge­spro­chen, die Spra­che wür­de ihm kei­ne Schwie­rig­kei­ten ma­chen. Die schwie­rigs­te Auf­ga­be lag dar­in, den Hand­ha­bern des Ge­set­zes aus dem Wege zu ge­hen.

»Denn ich be­ge­he hier­mit ein Ver­bre­chen, eine bür­ger­li­che Ge­set­zes­über­tre­tung, de­ren Fol­gen ich im Au­gen­blick nicht zu über­se­hen ver­mag.«

Auf ei­ge­ne Ge­fahr, dach­te er schließ­lich, und er­leich­tert, froh über sei­nen Ent­schluss, kehr­te er zur Stadt zu­rück.


  1. Be­rufs­be­zeich­nung; meist Haus­ge­hil­fin  <<<

  2. eine Form von Män­teln  <<<

II

Vik­tor Hel­ler hat­te das Licht der Welt in Ko­pen­ha­gen er­blickt.

Ar­nold, ein jun­ger Dich­ter ohne Pub­li­kum, und Nan­na, sei­ne Ge­lieb­te, nicht aber sei­ne an­ge­trau­te Frau, tru­gen die Verant­wor­tung für sei­nen Ein­tritt in die Welt.

Ein freu­di­ges Er­eig­nis war es just nicht ge­we­sen, ob­gleich er in Lie­be ge­zeugt wor­den war, Lie­be aber ge­nügt nicht im­mer, je­den­falls ge­nüg­te sie nicht der Fa­mi­lie der jun­gen Leu­te. Und da sie kein Paar wer­den konn­ten, je­den­falls nicht recht­zei­tig, be­trach­te­te man das Er­eig­nis als einen Skan­dal und das Kind als ein Zei­chen des Är­ger­nis­ses.

Es war noch in al­ten Zei­ten, lan­ge vor dem Krie­ge, und zu ver­wun­dern wäre es nicht ge­we­sen, wenn der Jun­ge nicht ge­dei­hen woll­te oder auf and­re Wei­se von sei­ner Her­kunft ge­drückt wor­den wäre. Aber im Ge­gen­teil, das Kind wog acht und ein hal­b­es Pfund bei sei­ner Ge­burt, ge­dieh vor­treff­lich, hat­te schö­ne blaue Au­gen und war über­haupt so selbst­herr­lich wie nur ir­gend ein le­gi­ti­mer Spröß­ling; ein Tri­umph der Lie­be durch und durch.

Ehr­ba­re Leu­te konn­ten gar nicht an­ders, sie muss­ten ihm ver­zei­hen; und die Ent­rüs­tung wäre höchst­wahr­schein­lich in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten, wenn die El­tern sich nicht ganz un­er­hört be­nom­men hät­ten. Sie woll­ten nichts da­von wis­sen, dass sei­ne Exis­tenz mit Dis­kre­ti­on be­han­delt wur­de. Im Ge­gen­teil, sie zeig­ten ihn bei hel­li­gem Tage auf Stra­ßen und Gas­sen, prahl­ten mit ihm – sie er­trotz­ten ihm ge­ra­de­zu einen Platz in der Son­ne.

Le­ben aber muss­ten sie alle drei; und da die Ein­nah­men für Ar­nolds Ver­se und Pro­sa sehr spär­lich flos­sen, sa­hen sie sich ge­zwun­gen, bei der Fa­mi­lie Hil­fe zu su­chen.

Es wur­de ein har­ter, bit­te­rer, de­mü­ti­gen­der Kampf, der da­mit en­de­te, dass Ar­nold, als er das Ho­no­rar für sei­nen ers­ten großen Ro­man aus­be­zahlt be­kam, sich kopf­über zu ei­ner Luft- und Land­ver­än­de­rung ent­schloss.

Mit so we­nig Vor­be­rei­tun­gen wie mög­lich ver­lie­ßen sie die hei­mat­li­chen Ge­fil­de und ruh­ten nicht, be­vor sie das Zim­mer in der Ri­pet­ta von Rom in Be­sitz ge­nom­men hat­ten, das ein Freund und Bru­der in Apoll ih­nen aus­ge­sucht hat­te.

Da­mals war Vik­tor zwei und ein hal­b­es Jahr alt. Sei­ner Mut­ter er­in­ner­te er sich nur dun­kel.

Was be­wahrt ein Kind von der­je­ni­gen, die ihn ge­tra­gen hat, wenn es schon in sei­nem sechs­ten Le­bens­jahr ih­ren Ar­men ent­ris­sen wird?

So lan­ge, nicht län­ger – für sie viel­leicht lan­ge ge­nug – hat­te die Lie­be zu Ar­nold in ih­rem Her­zen Raum ge­habt.

Der Dich­ter hat­te es ver­säumt, ihre Lie­be zu näh­ren – Kin­der sei­nes Ge­hirns, un­ter sei­nem Her­zen aus­ge­tra­gen, ohne Hän­de, die grei­fen konn­ten, doch stark ge­nug, um die Le­ben­den zu ver­drän­gen, hat­ten ih­ren Platz ein­ge­nom­men.

Ei­fer­sucht, Streit und Jam­mer, Ver­söh­nung und Trotz.

Vik­tor hat­te nie recht be­grif­fen, was ei­gent­lich ge­sche­hen war. Er er­in­ner­te sich nur, dass sei­ne Mut­ter ei­nes Ta­ges nicht zu Hau­se war. Sein Va­ter hat­te ihm, mit Trä­nen im Auge, eine un­deut­li­che Er­klä­rung ge­ge­ben, von ei­ner lan­gen Rei­se oder der­glei­chen, ge­nug, er be­griff, dass nicht mehr von ihr ge­spro­chen wer­den soll­te. Sie war und blieb fort – und, nach­dem der ers­te tie­fe Schmerz sich ge­ge­ben hat­te, war sie auch aus sei­nem Le­ben ver­schwun­den.

In den hin­ter­las­se­nen Ta­ge­buch­blät­tern sei­nes Va­ters, die sein Pfle­ge­va­ter ihm an sei­nem acht­zehn­ten Ge­burts­tag über­ge­ben hat­te, stand un­ter dem Da­tum 2. Fe­bru­ar: Heu­te hat Nan­na mich und den Jun­gen ver­las­sen, um zu … zu ge­hen. Ich tra­ge die Schuld.

Hans Mar­quard – so hieß sein Pfle­ge­va­ter – war ein Ma­ler aus dem Rhein­land, glei­chen Al­ters wie sein Va­ter und zur sel­ben Zeit nach Rom ge­kom­men. Sie lern­ten sich in der deut­schen Künst­ler­ko­lo­nie ken­nen und wa­ren vom ers­ten Tage an, bis der Tod sie trenn­te, Freun­de.

Ar­nold füll­te sei­nen Freund mit Dich­ter­fan­tasi­en, als wäre er ein Heft mit un­be­schrie­be­nen Sei­ten, mach­te ihn trun­ken von der Be­geis­te­rung, die in ihm selbst glüh­te, bis die ehr­li­chen Au­gen des Ma­lers sich in dem rot­bä­cki­gen, kern­ge­sun­den Ge­sicht wei­te­ten und ku­gel­rund wur­den und er ges­ti­ku­lie­rend, mit lin­ki­schen Be­we­gun­gen, die Träu­me des Freun­des, die noch in ihm leb­ten, wenn Ar­nold sie schon längst, and­rer Him­mels­flü­ge we­gen, ver­ges­sen hat­te – stüm­pernd in die Wirk­lich­keit um­set­zen woll­te.

Ar­nold pfleg­te ihn dann spöt­tisch von den Hö­hen, zu de­nen er ihn selbst hin­auf­ge­trie­ben hat­te, her­un­ter­zu­ho­len, bis der Ma­ler, des Wor­tes un­ge­wandt, mit ge­schwol­le­nem Kamm wie ein Pu­ter sich kör­per­lich zur Wehr setz­te, groß und stark, wie er war.

Denn es war ihm nicht ge­ge­ben, zwei ge­reim­te Zei­len ne­ben­ein­an­der zu set­zen, ge­schwei­ge Him­mel und Erde mit­ein­an­der zu ver­mäh­len. Sei­ne Be­ga­bung be­stand dar­in, treu wie­der­zu­ge­ben, was das Auge sah. Sei­ne Bil­der von dem Mak­ka­ro­nies­ser und sei­ner Fa­mi­lie aus dem länd­li­chen Trat­to­rie, von den Bok­ka­spie­lern im Schut­ze ehr­wür­di­ger Rui­nen – da­mals gab es noch Bok­ka­spie­ler und noch un­be­rühr­te Rui­nen in der ewi­gen Stadt – wa­ren Klein­kunst von ei­ner Glaub­wür­dig­keit, die kei­ner ihm strei­tig mach­te.

*

On­kel Han­si war stolz auf sei­ne Pfle­ge­va­ter­wür­de und nahm die Auf­ga­be sehr ernst. Man­chen Nach­mit­tag sa­ßen sie, bis ge­schlos­sen wur­de, an ei­nem küh­len Ort auf dem Pin­cio und be­rie­ten über ir­gend ein schwie­ri­ges Auf­satz­the­ma.

Vik – wie On­kel Han­si ihn nann­te, »bis du ein gan­zer Vik­tor1 ge­wor­den bist« – sprach drei Spra­chen: sei­ne Va­ter- und Mut­ter­spra­che Dä­nisch, in der Schu­le und au­ßer dem Hau­se sprach er wie ein Ein­ge­bo­re­ner Ita­lie­nisch und mit sei­nem Pfle­ge­va­ter Deutsch, al­ler­dings kein rich­ti­ges Hoch­deutsch, denn On­kel Han­si hing noch im­mer et­was »Platt« aus sei­ner al­ten, ge­müt­li­chen Va­ter­stadt an, ob­gleich er im Um­gang mit deut­schen und skan­di­na­vi­schen Freun­den sein Bes­tes ge­tan hat­te, es ab­zu­strei­fen.

Wenn er zu Hau­se mit sich selbst sprach oder in Er­re­gung ge­riet, ent­schlüpf­ten ihm un­ver­se­hens die pos­sier­lichs­ten Wor­te, über die der Jun­ge sich tot­lach­te und die er sich so­fort an­eig­ne­te.

Dann kam es wohl vor, dass On­kel Han­si, ge­ehrt und mit ei­nem Lä­cheln in den Au­gen­win­keln ihn frag­te, was das für ein Kau­der­welsch sei? – Er bäte um das rich­ti­ge, herr­li­che Hoch­deutsch, mit dem man weit kom­men könn­te, wenn man auch in ei­ner an­de­ren Spra­che ge­bo­ren sei.

Ge­wis­sen­haft, wie On­kel Han­si war, sorg­te er da­für, dass Vik sei­ne Mut­ter­spra­che nicht ver­gaß. Denn es durf­te nicht ge­sche­hen, dass der Jun­ge die Bü­cher sei­nes ar­men Va­ters nicht le­sen konn­te! In ih­nen kön­ne man mehr Gold fin­den, be­haup­te­te er, als in den meis­ten Bü­chern, die in den Bü­cher­schrän­ken der gu­ten Bür­ger stän­den, und oft nicht mehr Gold ent­hiel­ten, als auf dem Schnitt zu fin­den war.

Die dä­ni­sche Zei­tung, auf die Ar­nold abon­niert ge­we­sen war, ließ er wei­ter kom­men, hielt den Kna­ben zum Le­sen an und ver­schaff­te ihm dä­ni­sche Klas­si­ker aus dem skan­di­na­vi­schen Ve­rein. Hin und wie­der ver­such­te er sich auch selbst durch ein Buch hin­durch­zu­ar­bei­ten, weil es dem Kna­ben Spaß mach­te, da­bei sein Leh­rer zu sein.

Ma­ri­et­ta, die Toch­ter des Ge­mü­se­händ­lers, bei dem sie schon zu Leb­zei­ten sei­ner El­tern ge­kauft hat­ten, war jetzt er­wach­sen.

Ei­nes Ta­ges, als er aus der Schu­le kam, stand sie in der Kü­che und lä­chel­te: »Buon gior­no, si­gno­ri­no!«

Die alte Die­ne­rin, »Dol­cis­si­ma – die sehr Sanf­te«, in de­ren ein­ge­schrumpf­ten Brust die Stim­me ei­nes Man­nes wohn­te, war plötz­lich er­krankt und ei­ni­ge Tage dar­auf nach ei­ner Ope­ra­ti­on im Kran­ken­haus San Gia­co­mo ge­stor­ben.

Meh­re­re Tage hat­te On­kel Han­si selbst die Ein­käu­fe ge­macht, hat­te beim Ge­mü­se­händ­ler Ma­ri­et­ta ge­se­hen und sich ge­wun­dert, wie groß und er­wach­sen sie ge­wor­den war; und im Handum­dre­hen hat­te er sie ge­mie­tet, da­mit sie »die Sanf­te« ver­tre­ten soll­te.

Ma­ri­et­ta war ein hüb­sches Mäd­chen. Die dunklen Au­gen la­gen tief in dem schma­len Ge­sicht mit dem rei­nen, scharf­ge­schnit­te­nen Pro­fil. Der Blick war schel­misch und gleich­zei­tig scheu, sie hat­te run­de Schul­tern und eine zar­te Brust. Sanft war sie, treu und flei­ßig.

Als Vik­tor ein­mal aus der Schu­le kam, saß sie in der Hu­cke, den Rücken ge­gen die Wand ge­lehnt, ein blau­es Ma­don­nen­tuch über dem schwar­zen Haar, das Weiß des Ge­sich­tes leuch­te­te und die Hän­de la­gen flach im Schoß.

On­kel Han­si mal­te sie. »Ma­don­na«, sag­te er und wink­te Vik­tor, dass er nicht stö­ren soll­te.

Als Ma­ri­et­tas Au­gen Vik­tors Blick be­geg­ne­ten, er­rö­te­te sie.

Die­se klei­ne le­bens­vol­le Skiz­ze hing noch über Mar­quards Bett, als er starb. Da Vik­tor sich auf die Rei­se be­gab, hat­te er sie mit­ge­nom­men, zu­sam­men mit dem Me­dail­lon, das sei­ner Mut­ter Bild ent­hielt und das er von sei­nem Va­ter ge­erbt hat­te.

Seit Ma­ri­et­ta ins Haus ge­kom­men, war eine Ver­än­de­rung mit On­kel Han­si vor­ge­gan­gen. Der un­ver­bes­ser­li­che Jung­ge­sel­le ra­sier­te sich je­den Mor­gen, wusch sich die Hän­de zu al­len Ta­ges­zei­ten und in­ter­es­sier­te sich für Schlip­se.

Schließ­lich be­stimm­te er, dass Ma­ri­et­ta nicht al­lein in der Kü­che es­sen soll­te. Ei­nes Ta­ges sah Vik­tor zu sei­ner Ver­wun­de­rung, dass sie sich nicht wie ge­wöhn­lich ent­fern­te, nach­dem sie das Es­sen auf­ge­tra­gen hat­te, son­dern fein an­ge­zo­gen an dem run­den Tisch Platz nahm, wo für sie ge­deckt war.

Was ihn aber mehr als die Ver­än­de­rung wun­der­te, war die Tat­sa­che, dass sie ganz ohne vor­he­ri­ge Rück­spra­che mit ihm vor­ge­nom­men war, denn On­kel Han­si pfleg­te nichts zu un­ter­neh­men, ohne es vor­her lang und breit mit sei­nem Pfle­ge­sohn zu be­spre­chen.

Ma­ri­et­ta war nicht mehr so hei­ter wie sonst. Vik­tor neck­te sie und frag­te sie nach ih­rem Bräu­ti­gam. Er wuss­te, dass der Ge­mü­se­händ­ler mit ei­nem wohl­ha­ben­den Krug­wirt drau­ßen in der Kam­pa­gna, in der Nähe von Tor­re Spac­ca­ta, be­freun­det war und von ihm sei­ne Wa­ren be­zog. Er sei wahr­schein­lich von ihm ab­hän­gig, mein­te Mar­quard, der sich mehr für das Le­ben ih­rer Um­ge­bung in­ter­es­sier­te als Vik­tor.

Ma­ri­et­tas El­tern und der Krug­wirt hat­ten, als sie noch klein war, ver­ab­re­det, dass das hüb­sche Mäd­chen und ein Nef­fe des Krug­wir­tes sich hei­ra­ten soll­ten. Der Bru­der des Wir­tes war nach Kor­si­ka aus­ge­wan­dert, wie so vie­le and­re Luc­che­ser, die von Li­vor­no dort­hin zo­gen, um die von den Kor­si­ka­nern ver­ach­te­te Land­ar­beit zu ver­rich­ten, und war auf der In­sel ge­blie­ben. Ei­ner von sei­nen Jun­gen war dem kin­der­lo­sen On­kel in der Kam­pa­gna zur Pfle­ge über­las­sen und mit den Jah­ren ein wil­der, sit­ten­lo­ser Bur­sche ge­wor­den. Mar­quard hat­te sich mehr­mals beim Es­sen, so­gar in Ma­ri­et­tas Ge­gen­wart, ab­fäl­lig über ihn ge­äu­ßert.

Nun mein­te Vik­tor, dass der Bräu­ti­gam ihr Sor­ge mach­te, und er hat­te sie in sei­ner Ge­dan­ken­lo­sig­keit gen­eckt, be­reu­te es aber gleich, als er merk­te, wie nah es ihr ging.

Den nächs­ten Tag beim Mit­ta­ges­sen sah er zu­fäl­lig, dass On­kel Han­sis Hand wie trös­tend über ih­ren Arm strich. Er sah sie un­ter der Berüh­rung er­be­ben, und eine Ah­nung stieg in ihm auf. Er schob sie von sich, woll­te nichts da­von wis­sen. Doch kehr­ten Ge­dan­ken wie: weißt du noch da­mals? Und was ge­sch­ah doch an je­nem Abend? häu­fi­ger und häu­fi­ger wie­der. Vik­tor aber woll­te nichts se­hen, nichts wis­sen. Wenn On­kel Han­si nichts sag­te, soll­te er wohl nichts er­fah­ren.

Ei­nes Mor­gens war Ma­ri­et­ta nicht da. Vik­tor muss­te um neun Uhr im Ly­ze­um sein, war abends vor­her bei ei­nem Ka­me­ra­den ge­we­sen, spät nach Hau­se ge­kom­men und er­wach­te erst im letz­ten Au­gen­blick. Sei­ne Stie­fel wa­ren nicht ge­putzt, die Kü­che leer. Er klei­de­te sich schnell an, mach­te Kaf­fee, und nach­dem er ihn ei­lig ge­trun­ken hat­te, klopf­te er bei On­kel Han­si an, um ihm zu sa­gen, dass Ma­ri­et­ta nicht ge­kom­men sei, dass aber der fer­ti­ge Kaf­fee auf dem Ofen­loch für ihn be­reit ste­he.

Mar­quard lag wach im Bet­te. Er ant­wor­te­te nicht, sah Vik­tor nur von der Sei­te an; in sei­nem Blick aber hat­te Vik­tor im Da­vo­nei­len ge­le­sen, dass Ma­ri­et­tas Aus­blei­ben ihm nicht über­ra­schend ge­kom­men sei und dass er dar­auf vor­be­rei­tet war, dass sie nicht wie­der­kom­men wür­de.

Und Ma­ri­et­ta kam nicht.

Ei­ni­ge Mo­na­te ver­stri­chen. Der Som­mer ver­ging, schwer, tro­cken, bis er schließ­lich sei­nen bren­nen­den Griff lo­cker­te.

Die Fe­ri­en wa­ren zu Ende, wie­der muss­te an die Zu­kunft ge­dacht wer­den; dies­mal han­del­te es sich dar­um, wo er stu­die­ren soll­te.

Sie über­leg­ten es zu­sam­men. Schnell wur­de der Ent­schluss ge­fasst, und Vik­tor war be­reits bei der Uni­ver­si­tät in Rom im­ma­tri­ku­liert, als On­kel Han­si ei­ni­ge Tage spä­ter zu ihm ins Zim­mer trat und kurz und bün­dig er­klär­te, dass Vik­tor als Däne in Dä­ne­mark und nicht in Rom stu­die­ren soll­te. Er sei über­zeugt, wenn sein Va­ter ge­lebt hät­te, wäre dies auch sei­ne Auf­fas­sung ge­we­sen.

Vik­tor sah er­staunt auf, und wäh­rend er noch grü­bel­te, was er dar­auf ant­wor­ten soll­te, sank Mar­quard müde auf den Ses­sel, der Ar­nold ge­hört hat­te.

»Au­ßer­dem«, fuhr Mar­quard fort, ohne ihn an­zu­se­hen, »bin ich Roms müde – und –«

»Du bist doch nicht krank?« Vik­tors Hand strich weich über sei­nen Är­mel.

Mar­quard wand­te sich ihm zu, leg­te sei­ne große Hand auf Vik­tors, schwieg einen Au­gen­blick, bis er sei­ner Be­we­gung Herr ge­wor­den war, und sag­te dann auf sei­nem hei­mat­li­chen Platt: »Nein, nein, Vik, krank bin ich nicht. Aber du weißt, dass ich mich im­mer nach der Stadt ge­sehnt habe, wo­her dein Va­ter stamm­te. Es soll solch schö­ne Stadt sein, und es ist auch dei­ne Va­ter­stadt. Hast du nicht auch Lust, sie zu se­hen?«

Vik­tor nick­te nach­denk­lich. Er be­griff, dass Ko­pen­ha­gen nur ein Vor­wand sei – aber –

Mar­quard strei­chel­te sei­ne Hand, wäh­rend er fort­fuhr: »Siehst du«, er senk­te Kopf und Stim­me – »ich muss fort von hier, ich muss mal in eine ganz and­re Um­ge­bung, sonst ver­lie­re ich mich selbst. So steht es um mich, Vik. Fra­ge nicht, ich habe mei­ne Grün­de.«

*

Zwei Jah­re spä­ter wur­de Vik­tor als Stu­dent an der Uni­ver­si­tät in Ko­pen­ha­gen im­ma­tri­ku­liert.

Mar­quard ge­fie­len Stadt und Be­völ­ke­rung sehr gut, und er lern­te bald, sich in ei­ner drol­li­gen Mi­­­­­­­­­­­­­­­­­­­