Friedrich Ani
Die böse Farbe
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (1. Auflage 2013)
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Lektorat: Andrea Kunstmann
Umschlaggestaltung: ars vivendi verlag
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-322-5
Inhalt
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
1
Manchmal freute sich Kriminalhauptkommissar Max Gronsdorf die ganze Woche auf eine Semmel. Nicht auf irgendeine Semmel von irgendeinem Bäcker oder aus einem dieser Backshops, die heute überall aus dem Boden quollen wie Hefeteig im Ofen – er freute sich auf eine frische, saftige Leberkässemmel vom Metzger Prielmeyer am Weißenburger Platz im Münchner Stadtteil Haidhausen. Kommissar Gronsdorf wohnte in der Metzstraße, drei Minuten vom Weißenburger Platz entfernt.
Fast jeden Samstag verließ er gegen elf Uhr seine Wohnung im ersten Stock, begrüßte auf der Straße ein paar Leute, denn er lebte seit fast zwanzig Jahren im selben Viertel, und machte sich auf den Weg zu dem bepflanzten und von Lindenbäumen gesäumten Platz mit den Sitzbänken und dem turmartigen Steinbrunnen in der Mitte. Im Winter wehte aus den Holzbuden des Weihnachtsmarktes der Duft von Glühwein und Bratwürsten über das Rondell, aus den Lautsprechern erklang Musik, und an den Stehtischen drängten sich die Besucher.
Heute aber, am 22. Oktober, roch es nur nach nasser Erde und feuchtem Laub. Die Bänke waren leer bis auf eine, auf der ein einsamer alter Mann saß, eingehüllt in einen grauen Mantel, mit grauen, zerzausten Haaren und einem grauen, müden Gesicht. Das war der Bartl. Mit richtigem Namen hieß er Bartolomäus Weber, was kaum jemand wusste. Angeblich war er früher ein fast berühmter Geiger gewesen. Irgendwann – so erzählten die älteren Haidhauser – hatte ihn das Glück verlassen und er landete auf der Straße. Sein letzter Freund war ein ebenfalls alter, magerer Rauhaardackel mit grauem Fell, der am liebsten auf Bartls Schoß schlief und auf den Namen Mozart hörte. An diesem Samstagvormittag hatten Bartl und Mozart mehr Glück als je zuvor in ihrem Leben.
In dem Moment, als Kommissar Gronsdorf mit seiner in eine Papierserviette eingewickelten Leberkässemmel die Metzgerei Prielmeyer verließ, krachte der erste Schuss. Ein Schaufenster zersplitterte in tausend Teile. Passanten schrien auf. Eine junge Mutter warf sich mit ihrem Kind auf den Boden, hielt es schützend vor ihren Körper und robbte, so schnell sie konnte, hinter einen Müllcontainer. Kurz darauf fielen zwei weitere Schüsse. Niemand begriff, was passierte.
Kommissar Gronsdorf hatte seine Semmel nicht etwa fallen lassen, sondern sie mit einer schnellen Bewegung in die Tasche seiner Wildlederjacke gesteckt und sich hinter ein parkendes Auto gekauert. Als er vorsichtig den Kopf hob und einen Blick über den Platz warf, traute er seinen Augen nicht: Im Gegensatz zu allen anderen Menschen, die in dieser Minute unterwegs waren, saß der alte Bartl anscheinend ungerührt auf seiner Bank. Der Kommissar sah ihn nur von hinten, aber der Alte wirkte wie jemand, der entspannt seine Mittagspause genoss, das Chaos und der Krach ringsum brachten ihn offenbar nicht im Geringsten aus der Ruhe.
»Bartl«, rief der Kommissar. Er kannte den ehemaligen Geiger flüchtig und wechselte gelegentlich ein Wort mit ihm. »Duck dich, Bartl. Hörst du mich nicht?«
Sekundenlang herrschte totale Stille.
Dann – und der Kommissar kniff die Augen zusammen, weil er nicht glauben konnte, was er sah – hob Bartl den rechten Arm, bewegte die Hand einmal nach rechts und einmal nach links und ließ den Arm wieder sinken, ohne seine sonstige Körperhaltung auch nur einen Zentimeter verändert zu haben. »Du sollst mir nicht winken, du sollst dich hinlegen«, schrie der Kommissar. Gleichzeitig wusste er, dass der Alte seine Aufforderung aus welchen Gründen auch immer ignorieren würde.
Ich muss endlich die Kollegen informieren, dachte der Kommissar und fingerte nach seinem Handy. Dabei rutschte ihm die eingewickelte Leberkässemmel aus der Tasche und landete im Rinnstein. Weil er zu beschäftigt war, vergaß er sie dort. Zuerst rief er seinen Kollegen Hanno Moosfeld im Morddezernat an, dann den Leiter des Spezialeinsatzkommandos. Als Moosfeld eine Frage zum genauen Tathergang stellte, fiel erneut ein Schuss.
Von seinem Platz hinter dem Auto sah Kommissar Gronsdorf eine rote Ledertasche durch die Luft fliegen und hörte den kurzen Aufschrei einer Frau. Sie war aus der zur Rosenheimer Straße führenden Fußgängerzone gekommen. Die Kugel hatte sie am Kopf getroffen. Die Frau riss die Arme in die Höhe, wirbelte zweimal um die eigene Achse – eine Sekunde lang sah es aus, als würde sie tanzen – und brach tot zusammen.
Wieso hat sie nichts mitgekriegt, dachte der Kommissar, wieso hat niemand sie aufgehalten?