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Kontinentaldrift

Was kommt nach dem Brexit?

F.A.Z.-eBook 53

Frankfurter Allgemeine Archiv

Herausgeber: Frankfurter Allgemeine Archiv /
Klaus-Dieter Frankenberger

Redaktion und Gestaltung: Hans Peter Trötscher

Projektleitung: Olivera Kipcic

eBook-Produktion: rombach digitale manufaktur, Freiburg

Alle Rechte vorbehalten. Rechteerwerb und Vermarktung: Content@faz.de
© 2018 Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main

Titel-Grafik: © Adobe Stock / Alexander Sánchez

ISBN: 978-3-89843-466-9

Inhalt

Vorwort

Hintergrund: Die Insel und der Kontinent

Unsere Insel

Ein Lob des Rosinenpickens

Der Schlachtennebel über dem Königreich

Die Hauptrollen

Theresa May: Sphinx ohne Geheimnis

Dominic Raab: Auf steinigem Weg

Michel Barnier wird Brexit-Unterhändler

Boris Johnson: Der unbekannte Bekannte

Nigel Farage: Sprüche und Taten

London

Die Kunst des No-Deals

Kein Brexit ist perfekt

Paukenschläge

Help!

Das große Durcheinander

May strebt den »sanftestmöglichen« Brexit an

Und weiter ruckelt der Brexit-Zug

Let’s talk about money: Der Brexit und das Geld

Nettozahler! Eine zerstörerische Idee

Ich will mein Geld zurück

Wer stopft das Loch?

»Showdown in Großbritannien«

Wirtschaft und Handel

Wie der Chaos-Brexit verhindert werden kann

Der Plan für einen »phantastischen Brexit«

Großunternehmen rüsten sich für einen chaotischen Brexit

Brexit-Eiszeit zwischen Unternehmen und Politik

Chemieunternehmen zittern vor dem Brexit

Wissenschaft

Nichts ist klar, bis alles klar ist

Umerziehung

Ein Meer von Fragen

Nordirland

Die unaufhaltsame stille Revolution

Der Brexit und das liebe Vieh

Der Frieden von Omagh

Die tödlichsten Quadratkilometer Europas

Gesellschaft

Brexit und Schlangenöl, das passt zusammen!

Meinung und Perspektive

Sackgasse

Auch das noch

Mays Plan

Vorwort

Fiasko oder Morgenröte?

Von Klaus-Dieter Frankenberger

Es ist ein Novum in der Geschichte der europäischen Integration, aber eines, welche das Einigungswerks in den Grundfesten erschüttert. Erstmals tritt ein Mitgliedsland aus der Europäischen Union aus, das Vereinigte Königreich. Bislang war die EU ausschließlich auf Zuwachs eingestellt und ausgerichtet, wenn auch mit abnehmender Begeisterung unter den Altmitgliedern. Nun verliert sie ein großes, starkes Land: Am 23. Juni 2016 hatte eine knappe Mehrheit der Wähler im Königreich für den Austritt gestimmt nach einer Kampagne, in der die Befürworter des sogenannten Brexit den Leuten wenn nicht goldene Eier, so doch zumindest goldene Zeiten versprochen hatten. Manche phantastische Behauptung streifte die Grenze zur dreisten Lüge.

Damit endet ein Kapitel britisch-europäischer Geschichte. Man wird nicht behaupten können, dass Nordiren und Briten, vielleicht mit der Ausnahme der Schotten, je ein emotional-umarmendes Verhältnis zur Einigung gehabt haben. Sie waren Nachzügler, für die das Motiv des Friedens und der Versöhnung nicht annähernd so bestimmend war wie für Deutsche und Franzosen. Deren integra­tionistischer Idealismus war ihnen immer fremd, vielen war er auch suspekt. Die bis zur Feindseligkeit reichende Skepsis, welche große Teile der britischen Politik und der Medienwelt jahrelang gegen »Brüssel« an den Tag legten, ist, neben vielen soziologischen Erklärungen, letztlich der Hintergrund für das Ergebnis des Austrittsreferendums. Der vielbeschworene britische Pragmatismus kam nicht zum Zuge.

Welche Folgen wird der Austritt haben für das Vereinigte Königreich und die Europäische Union? Die »Rest-EU« hat sich während der Austrittsverhandlungen auffallend geschlossen gezeigt. Sollte es weitere Austrittsinteressenten geben, so haben sich die nicht zu erkennen gegeben. Warum auch? Allein die wirtschaftlichen Vorteile, die mit der Zugehörigkeit zum Binnenmarkt und mit der Mitgliedschaft generell verbunden sind, liegen auf der Hand, unabhängig davon, was von dieser oder jener Brüsseler »Idee« zu halten ist.

Für die künftige Soloexistenz fallen die Prognosen weit weniger günstig aus, als zuvor behauptet worden war. Die britische Wirtschaft ist tief und bereit in die »europäische« Wirtschaft integriert; die Lieferketten sing lang und kurz getaktet. Auf diesem Feld wird ein Austritt zwangsläufig einen Einschnitt mit erheblichen Wachstumseinbußen bedeuten. Die irische Grenze ist ein problematischer Sonderfall für sich.

Die EU verliert einen Partner, der, zumindest in der Vergangenheit, keine Scheu hatte, in der Sicherheitspolitik einen robusten Part zu übernehmen. Was die wirtschaftspolitischen Überzeugungen und den Wettbewerbsgedanken anbelangt, wird sich Deutschland fortan auf einen Gleichgesinnten weniger stützen können. Für das Vereinigte Königreich steht freilich ungleich mehr auf dem Spiel. Jene, die für einen Brexit warben als eine Art Befreiungsakt von »Brüsseler« Fesseln, könnten eines Tages an ihre Verantwortung erinnert werden für eine strategische Torheit, die dem Suez-Fiasko nahekommt. Aber rund 52 Prozent der Wähler haben es so gewollt. Unsicherheit breitet sich aus. Überall.

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Hintergrund: Die Insel und der Kontinent

Unsere Insel

Von der Spanischen Armada über Napoleon bis zu Hitler – aus britischer Sicht war es stets das Königreich gewesen, das Despotie und Aggression auf dem Kontinent erfolgreich bekämpft hat. Der Stolz auf den britischen Nationalstaat und dessen Geschichte ist ungebrochen.

Von Jochen Buchsteiner

Jede Nation bringt ihre literarischen Helden hervor, und müsste man aus der reichen Dichtung der Briten einen herausheben, wäre es wohl Robinson Crusoe. In der Geschichte des Abenteurers, der sich 27 Jahre lang auf einer einsamen Tropeninsel durchschlug, steckt fast alles, was »Englishness« ausmacht. James Joyce, als Ire den Engländern nicht gerade in Zuneigung verbunden, sah in Daniel Defoes Protagonisten den »gesamten angelsächsischen Geist« verkörpert: »die mannhafte Unabhängigkeit, die unbewusste Grausamkeit, die Durchhaltekraft, die langsame, aber effiziente Intelligenz, die sexuelle Apathie, die kalkulierende Verschlossenheit«. Die Erfahrungen des englischen Kaufmannsohns, der über die Einsamkeit zu seinem wahren Ich findet, weisen aber weit über den Charakter des »free-born Englishman« hinaus. Sie beschreiben die Merkmale und Bewegungsmuster einer ganzen Kultur: den Glauben an die Überlegenheit der englischen Zivilisation, die Zuversicht, dass sich Risiken auszahlen, die Überzeugung, dass ein Ziel am besten Schritt für Schritt, über »trial and error«, erreicht wird.

Knappe Sache: Das Votum vom 23.6.2016 lautete mit relativ knapper Mehrheit auf »leave«. So begann der Brexit.. Quelle: Britische Wahlkommission. Grafik: © F.A.Z.-Grafik / Brocker.

Man muss nicht so weit gehen, Robinson Crusoe zu einem Brexiteer im Geiste zu erklären, aber der Kosmos, den Defoe im Jahr 1719 mit seinem Helden erschaffen hat, ist voller Hinweise auf einen Nationalcharakter, der gleichsam zum Aufbruch drängt. Es ist ja eine ungeklärte Frage: Warum gerade die Briten? Warum sind ausgerechnet sie das erste Volk, das die Europäische Union verlässt? Viele ihrer Ausstiegsgründe hallen auf dem Kontinent wider, aber nirgendwo sonst wurde bisher die europäische Gretchenfrage gestellt – und dann noch gegen die EU entschieden.

Natürlich waren besondere Umstände im Spiel, Zufälle, wie immer in großen historischen Momenten. Ohne die innenpolitische Lage zu Beginn des Jahrzehnts und ohne David Camerons Waghalsigkeit wäre das Referendum nicht zustande gekommen – und ohne das Chaos, in das Angela Merkel das Festland just im selben Moment mit ihrer undurchdachten Grenzöffnung gestürzt hatte, wäre es womöglich anders ausgegangen. Sollten die Briten ihre Entscheidung in näherer Zukunft revidieren, könnte sich das EU-Referendum als Versehen in den Geschichtsbüchern wiederfinden. Aber so wird es wohl nicht kommen.

Eine knappe, aber klare Mehrheit hat im Juni 2016 freiwillig »farewell« gesagt, und in dieser Entscheidung liegt auch etwas spezifisch Britisches, etwas, das im »Anderssein« dieser Nation wurzelt. Geographie und Geschichte haben den Insulanern eine Prägung gegeben, die sich von der der Festlandnationen unterscheidet. Die Briten fragen sich seit Jahrhunderten, ob sie zu Europa gehören oder nicht.

Lord Bolingbroke, der 1714 den Frieden von Utrecht für Großbritannien verhandelte, vertrat dazu eine klare Auffassung: »Seien wir allzeit eingedenk, dass wir Nachbarn des Festlandes sind, nicht aber ein Teil von ihm; dass wir Europa zugeordnet sind, nicht aber ihm angehören.« Mehr als zweihundert Jahre später, zwischen den Weltkriegen, definierte Winston Churchill die britische Sonderposition auf subtilere Weise: »Wir stehen zu Europa, gehören aber nicht dazu; wir sind verbunden, aber nicht umfasst; wir sind interessiert und assoziiert, aber nicht absorbiert; wir gehören zu keinem einzigen Kontinent, sondern zu allen.« Die Spannung, die in der Zugehörigkeitsfrage steckt, verdichtete sich in einem Dialog zwischen Winston Churchill und dem deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer, der 1951 in der Downing Street empfangen wurde. »Sie können be­ruhigt sein, Herr Bundeskanzler, Großbritannien wird immer an der Seite Europas stehen«, sagte der britische Regierungschef, worauf sein Gast entgegnete: »Herr Premierminister, da bin ich ein wenig enttäuscht, England ist ein Teil Europas.«

Schon lange bevor die Briten ihr Weltreich begründeten und weithin als zivilisatorisches Maß galten, standen sie im Ruf der Überheblichkeit. Um die Wende zum 16. Jahrhundert gab der venezianische Botschafter Andrea Trevisano Eindrücke eines inselkundigen Landsmannes wieder: »Sehr arrogant, selbstsicher und misstrauisch gegenüber Ausländern, denen sie mit großer Antipathie begegnen in der Annahme, dass sie nur auf die Insel kommen, um sie zu beherrschen. Es gibt keine Menschen, die es ihnen gleichtun können, und keine Welt außer England.«

Auch wenn das Königreich noch lange nicht auf dem Höhepunkt seiner Macht angelangt war, hatte es zu diesem Zeitpunkt schon einiges erreicht. Anders als in den Herrschaftsgebieten jenseits des Kanals war die Autorität des Monarchen eingeschränkt, das Recht fortgeschritten und das Parlament ein Faktor im Staat.

Vieles davon leitete sich aus der Magna Charta ab, die drei Jahrhunderte zuvor, im Jahr 1215, unterzeichnet worden war. Ob sie wirklich so einzigartig war, wie das vor allem in der britischen Literatur beschrieben wird, ist noch immer Gegenstand von Historiker-Kontroversen. Auch der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches war in jener Zeit durch »Wahlkapitulationen« gezwungen, Rücksichten zu nehmen, und andernorts hatten ebenfalls vordemokratische Lockerungsübungen stattgefunden.

Die Briten selber hatten das Dokument lange Zeit vergessen. Als William Shakespeare König Johann, dem Unterzeichner der Magna Charta, 400 Jahre später ein Drama widmete, befand er die Urkunde keiner Würdigung wert. Erst im Laufe des 17. Jahrhunderts wurde sie gewissermaßen ausgegraben und fand dann rasch zu Ruhm – nicht zuletzt bei den Gründern der Vereinigten Staaten, die sich auf dieses frühe Dokument der europäischen Verfassungsgeschichte beriefen, das der Willkür des Herrschers Grenzen setzte. Die Magna Charta war vielleicht die erste Demonstration englischen Eigensinns, die anderen als Inspiration diente.

Der Cambridge-Historiker Robert Tombs sieht in der Unterzeichnung des Dokuments eine Weichenstellung, die Briten und Europäer in verschiedene Richtungen hat gleiten lassen. Er leitet von der Magna Charta nicht weniger als das unterschiedliche Staats- und Geschichtsverständnis ab, das sich dies- und jenseits des Ärmelkanals entwickelt hat. Auf dem Festland, argumentiert Tombs, sehe man stets eine »Avantgarde« von Politikern oder Intellektuellen als Träger der Geschichte – und die Bürger gleichsam in deren Schlepptau; als Beispiele nennt er die Französische Revolution und den Risorgimento, also die italienische Einigung. Dieser Geringschätzung des Volkes habe Britannien mit seinem »Magna-Charta-Mythos« ein anderes Geschichtskonzept entgegengestellt: »Es sind die Leute, die führen, und die Politiker haben sich zu fügen.«

Die Magna Carta fiel den Briten nicht zu. Sie erkämpften sie sich. Gleich nachdem der politisch geschwächte Johann das Dokument – unter dem Drängen des Adels – unterzeichnet hatte, rief er den Papst auf, es zu annullieren. Der tat das mit Nachdruck, schon weil es die Freiheit der englischen Kirche proklamierte und damit die Allmacht des Papsttums in Frage stellte. Innozenz III. nannte das Dokument »nicht nur schandhaft, sondern illegal und ungerecht«. Zugleich drohte er allen, die sich an die Magna Charta hielten, mit der Exkommunikation, was die Insel in einem Bürgerkrieg versinken ließ, der erst endete, als sich Johanns Sohn, der spätere Heinrich III., bereitfand, das Dokument zu respektieren. Die Briten hatten ihren Willen durchgesetzt – und sich, wenn man so will, zum ersten Mal einem europäischen Konsens widersetzt.

Dies war nichts im Vergleich zu der Kampfansage, die gute 300 Jahre später auf der Insel formuliert wurde: die Abspaltung des Königreichs vom Papsttum und die Übernahme der englischen Kirche durch Heinrich VIII. Hinter der Entscheidung des Monarchen, sich vom Papst nicht in seine Heiratspläne hineinreden zu lassen, verbarg sich vor allem ein Souveränitätskonflikt. Englands Bruch mit Rom wird deshalb nicht zu Unrecht als »erster Brexit« (David Starkey) apostrophiert. Schon damals ging es um den Konflikt zwischen nationaler und supranationaler Souveränität, und schon damals stellten die handelnden Akteure die Idee der Selbstbestimmung über das Risiko, das mit dem Schritt verbunden war. Im Vergleich zu heute vollzog das Königreich im Jahr 1534 einen Brexit XXL. Die von Heinrich verfügte Auflösung und Zerstörung der katholischen Klöster provozierte nicht nur gewaltsame Revolten im Königreich, sondern Kriegsdrohungen der papsttreuen Mächte auf dem Kontinent.

Gut hundert Jahre nach dem »ersten Brexit« ließen die Briten die Kontinentaleuropäer ein weiteres Mal staunen. Elf Jahre lang, von 1649 bis 1660, wurde England von keinem König regiert, sondern als »Republik« geführt. Während die Nachbarn jenseits des Ärmelkanals dem Höhepunkt des Absolutismus entgegenstrebten, machten die englischen Abgeordneten König Karl I. in der Westminster Hall den Prozess und ließen ihm mit Billigung eines neu eingerichteten High Courts den Kopf abschlagen. Das Parlament, dessen Anhänger der königlichen Armee die Stirn geboten hatten, war siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen, einstweilen jedenfalls. Oliver Cromwell und seine »New Model Army« schafften die Monarchie ab und gründeten das Commonwealth of England.

Die Republik, die unter dem »Lord Protector« Cromwell einer Diktatur ziemlich nahekam, überlebte bekanntlich nicht – geboren wurde, wenn auch erst nach weiteren drei Jahrzehnten politischer Wirren, die konstitutionelle Monarchie. Der Niederländer Wilhelm von Oranien, den sich das Parlament in London ausgesucht und auf den Thron gesetzt hatte, war der erste europäische Monarch, der sich klar definierten verfassungsrechtlichen Einschränkungen, der »Bill of Rights«, beugen musste. Mit dieser Revolution, schrieb Peter Mandler in »The English National Character«, hätten sich die Engländer »in mancher Hinsicht ein weiteres Mal abgelöst vom Rest Europas – trotz des Umstands, dass ihre Herrscher nun niederländischen oder deutschen Ursprungs waren«.

Erst hundert Jahre später wurde Englands »glorreiche Revolution« von den demokratischen Umwälzungen in Amerika und Frankreich in den Schatten gestellt. Im Königreich, das inzwischen durch die Union mit Schottland zum »Königreich von Großbritannien« geworden war, ließ man sich davon aber nicht beeindrucken. Die Französische Revolution habe »die Monarchie untergraben, ohne die Demokratie zu gewinnen«, stellte Edmund Burke damals trocken fest. In Britannien setzte man lieber auf die evolutionäre Weiterentwicklung der staatlichen Verfassung, auf Reformen aus dem System heraus. Die Briten verlegten die Revolution gewissermaßen von innen nach außen – und von der Politik in die Wirtschaft. Der Kolonialismus rückte ins Zentrum der Staatsgeschäfte, und der moderne Kapitalismus entfesselte sich. Wieder preschten die Briten voran und fanden eigene Wege.

Es war das 19. Jahrhundert, in dem ihr Eigensinn endgültig in ein Gefühl der Überlegenheit umschlug. Großbritannien machte die Dinge nicht mehr nur anders, sondern erfolgreicher. Es trieb die Industrialisierung voran und beherrschte die Meere. Zwischen 1760 und 1860, protokollierte Paul Kennedy in seinem »Aufstieg und Fall der großen Mächte«, verzehnfachte sich der britische Anteil an der weltweiten Industrieproduktion von zwei auf zwanzig Prozent. Der Kontinent wurde abgehängt: Er produzierte ein Drittel des gesamteuropäischen Industriewachstums – die beiden anderen Drittel wurden im Königreich erwirtschaftet. Mehr als die Hälfte der weltweiten Stahl- und Kohleproduktion war in Großbritannien beheimatet. Im Rückblick eines Polemikers wie Boris Johnson klingt das so: »Von den 193 gegenwärtigen UN-Mitgliedern haben wir 171 erobert oder zumindest überfallen – das sind neunzig Prozent. Die einzigen Länder, die scheinbar davongekommen sind, sind Orte wie der Vatikan und Andorra. In der Periode zwischen 1750 und 1865 waren wir bei weitem das politisch und wirtschaftlich mächtigste Land auf der Erde.«

John Seeleys berühmte Sentenz, dass Britannien sein Weltreich »in einem Anfall von Geistesabwesenheit« erwarb, zeigt, wie die britischen Eliten im 19. Jahrhundert ihr eindrucksvolles Werk zur Schau stellten: mit »understatement« und »self-deprecation«. So war das Leitbild des modernen Briten: weltgewandt, dabei (scheinbar) bescheiden und auf lässige Weise effizient. Im Mittelpunkt des Auftritts stand die Gabe zu reden. Und Reden im Königreich, das hieß: lustvoll streiten, die Antithese bis zum Äußersten durch­exerzieren und dabei immer die Fasson behalten. Nirgendwo fand das antike Ideal der »ars bene dicendi« – der Kunst des guten (und dialogischen) Redens – so würdige Nachfolger wie in Großbritannien. »Der allerunbedeutendste Redner hat mehr Form, Haltung und Rednertalent als ein ganzes Kollegium deutscher Stadträte zusammengenommen«, befand Theodor Fontane, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein paar Jahre lang als Korrespondent in London lebte.

Die rhetorische Leichtfüßigkeit der Engländer hatte auch damit zu tun, dass sie mit weniger, jedenfalls leichterem philosophischem Gepäck beladen waren. Der vergrübelte, schwerblütige Idealismus der deutschen Philosophen war ihnen fremd. Sie hatten den Empirismus hervorgebracht, der sich nicht an abstrakten Erkenntnisproblemen abarbeitete, sondern an konkreten Sinneserfahrungen schulte. Wo Kant und Hegel um das »Ding an sich« kreisten, machten sich John Locke Gedanken über das Verhältnis von Bürger und Staat und John Stuart Mill über die freie Entwicklung der Persönlichkeit. Zu Alexis de Tocqueville sagte Mill einmal: »Unsere Gewohnheit oder die Natur unseres Temperaments ziehen uns auf keine Weise in Richtung genereller Ideen.«

Diese Tradition erklärt auch, warum sich die Briten so schwertun mit der Idee eines europäischen Staates, genauer der »Finalité«. Das konkrete Problem, das der jeweils nächste Integrationsschritt mit sich brachte, erschien den Briten stets bedeutender als die Ausrichtung auf ein schwer definierbares Fernziel. Was in den Ohren der Kontinentaleuropäer oft schrill und antagonistisch, ja respektlos klingt, ist oft nichts anderes als die Lust am robusten Debattieren. »Die Engländer«, hielt Lord Dahrendorf einmal fest, »lieben alles, was Anstoß erregt und verschroben ist, und sie empfinden großes Vergnügen daran, politisch unkorrekt zu sein. Dabei sind sie sich oft nicht darüber im Klaren, dass man sie im Ausland ernster nimmt, als sie die Welt jenseits des Kanals namens Europa nehmen.« Es lässt sich nicht bestreiten, dass einzelne Zeitungen, selbst an Dahrendorfs Maßstab gemessen, gelegentlich über das Ziel hinausschießen, aber das Niveau der politischen Debatte – nicht zuletzt über Europa – ist insgesamt höher als in den meisten anderen Ländern. Im Königreich werden mehr kühne Gedanken diskutiert, mehr berechtigte Fragen gestellt, mehr Fehlentwicklungen durchdekliniert, mehr Alternativen ersonnen. Die Reformvorschläge für die EU, die David Cameron 2013 in seiner Rede in der Bloomberg-Zentrale London ausbreitete, waren so überzeugend, dass sie sogar bei EU-treuen Kommentatoren in Berlin und Paris auf ein positives Echo stießen. Kurz darauf verhallte es dann.

Das Viktorianische Zeitalter wird von Historikern manchmal das »englische Jahrhundert« genannt. Geradezu als Idealzustand erscheint manchen Briten die Phase der »Splendid Isolation« gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Auf dem Kontinent mischten sie sich kaum noch ein und verzichteten auf Bündnisse, während sie jenseits Europas, in der Welt, die britische Vormachtstellung ausbauten. Es war eine Zeit des Wohlstands und des relativen Friedens – aber sie hatte ihren Preis. »Es ist recht schön da«, schrieb Bismarck nach einem London-Besuch an seine Frau, »aber über Preußen wissen die englischen Minister weniger wie über Japan und die Mongolei.«

Als die britische Regierung nach Viktorias Tod die freigewählte Isolation beendete und wieder Allianzen schmiedete, hatten sich die Kräfteverhältnisse auf dem Kontinent auf verhängnisvolle Weise verschoben. Europa steuerte auf den Ersten Weltkrieg zu. Der Kontinent, könnte man sagen, geriet immer dann in Turbulenzen, wenn Britannien sich heraushielt. So war es am langen Vorabend zum Ersten Weltkrieg, und so war es wieder in den dreißiger Jahren, als London die Nazi-Regierung in Berlin gewähren ließ und auf »Appeasement« setzte.


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