Mikael Engström

Kaspar, Opa
und der
Feuerteufel

Aus dem Schwedischen
von Birgitta Kicherer

Mit Illustrationen von
Peter Schössow

dtv

Über Mikael Engström

Mikael Engström, geboren 1961, begann seine Schriftstellerlaufbahn mit Erzählungen für jüngere Kinder. Mit »Brando« gab er sein in Schweden preisgekröntes Romandebüt. »Ihr kriegt mich nicht« wurde, wie auch »Brando«, für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Nach »Kaspar, Opa und der Monsterhecht« und »Kaspar, Opa und der Schneemensch« folgt nun »Kaspar, Opa und der Feuerteufel«.

 

 

Peter Schössow, geboren 1953 in Hamburg, gehört zu den wichtigsten Bilderbuchkünstlern in Deutschland. Für seine Arbeiten wurde er u.a. mehrfach mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis und dem Troisdorfer Bilderbuchpreis und von der Stiftung Buchkunst ausgezeichnet.

Über das Buch

Wer hat bloß Åhmans Scheune, Witwe Satterlunds Abstellkammer, ein Plumpsklo und fast die Kirche abgefackelt? Geht etwa ein Feuerteufel um? Und wieso gerät ausgerechnet Kaspar in Verdacht, etwas mit den Bränden zu tun zu haben? Lisa steht ihm wie immer bei. Opa ist besorgt, aber auch felsenfest von Kaspars Unschuld überzeugt. Als Åhman dann eine Belohnung von 1.000 Kronen für sachdienliche Hinweise auslobt, ist Atom-Ragnar Feuer und Flamme, Kaspar ans Messer zu liefern. Wie kann Kaspar seine Unschuld beweisen? Am besten dadurch, dass er den Brandstifter erwischt. – Natürlich mithilfe von Lisa.

Impressum

Deutsche Erstausgabe 2017

© 1999 Mikael Engström (Text)

© 2017 Carl Hanser Verlag München (Illustrationen)

Titel der Originalausgabe:

›Kaspar, Atom-Ragnar och Mordbrännaren‹

(Rabén & Sjögren, Stockholm 1999)

Published by arrangement with Rabén & Sjögren Agency

Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe:

© 2017 Carl Hanser Verlag München

Umschlagillustration und -gestaltung: Peter Schössow

 

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

eBook-Herstellung im Verlag (01)

 

eBook ISBN 978-3-423-43121-7 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-64029-9

 

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

ISBN (epub) 9783423431217

Säge und Fuß

Eigenartig, wie heftig der Wind blies. Die Birken rauschten und schwankten wie in einem Herbststurm, obwohl es mitten im Sommer war. Kaspar und Großvater saßen vom Wind geschützt auf der grünen Holzbank, die an der Südwand des Tischlerschuppens stand.

Kaspar war acht und trank Orangenlimo. Großvater war um einiges älter und trank Bier. Von der Holzbank aus konnten sie auf den Siljansee hinunterblicken und noch weiter bis zum Gesunda-Berg.

»Heute machen wir einfach gar nichts«, erklärte Großvater. »Heute schieben wir eine ruhige Kugel. Kein Pferdchenschnitzen und auch sonst nichts, was an Arbeit erinnert.«

Kaspar nickte.

Großvaters Haus hätte rot sein sollen, rot mit weißen Ecken, denn so sahen alle Häuser hier in der Gegend aus. Stattdessen war das Holz ungestrichen und grau. Großvater sagte immer, irgendwann, wenn er Lust dazu bekäme, würde er es anstreichen. Im Beet unterm Küchenfenster blühten große weiße Pfingstrosen, die aussahen wie Schneebälle auf Stängeln. Sie schaukelten im Wind, und immer wieder rissen Blätter ab und segelten davon. Großvater nahm einen Schluck aus der grünen Bierflasche. Kaspar saugte an seinem Trinkhalm.

»Hoffentlich macht der Wind sie nicht kaputt«, sagte Großvater und sah zu den Pfingstrosen hinüber.

Ein Gärtner war er nicht. Er sagte immer, er habe einen arbeitsfreien Garten angelegt. Aber die Pfingstrosen in dem eingefassten Beet unterm Küchenfenster pflegte er voller Hingabe. Er behielt die Blumen ständig im Auge, zupfte welke Blätter ab und stützte die Blütenköpfe, wenn sie zu schwer geworden waren. Bei Trockenheit goss er sie regelmäßig.

Sonst machte er nicht allzu viel, weil er der Ansicht war, das meiste schon getan zu haben. Seine Tage verbrachte er damit, Holzpferdchen zu schnitzen, die er an Atom-Ragnar verkaufte, der mitten im Dorf einen Laden hatte und so genannt wurde, weil er nicht an Atome glaubte. Atom-Ragnar verkaufte die Pferdchen zum doppelten Preis an die Bemaler im Nachbarort, wo sie rot bemalt und mit bunten Schnörkeln verziert wurden. Dann hießen sie Dalapferdchen, und die Touristen kauften sie, damit sie sich nach dem Urlaub daran erinnerten, wo sie gewesen waren.

Großvater hielt die Bierflasche blinzelnd in die Sonne.

»Hoffentlich verzieht sich das Mistwetter bis Mittsommer«, sagte er. »Wenn der Wind sich nicht legt, wird es schwierig, den Mittsommerbaum aufzurichten.«

Und das war nicht irgendein beliebiger Mittsommerbaum. Es war der größte der ganzen Gegend, sowohl der Breite als auch der Länge nach, und das ganze Dorf war stolz darauf.

Großvater trank sein Bier aus, stand auf und ging zu den Pfingstrosen, um sie zu stützen, damit sie der Wind nicht zu Boden drückte.

»Komm mal her!«, rief er und nahm eine Pfingstrose in die gewölbte Hand. Er hielt den Stängel zwischen Ring- und Mittelfinger, sodass die Blüte wie in einer Wiege lag und die ganze Hand ausfüllte. Sie sah wirklich wie ein großer Schneeball aus.

»Schau mal!«, sagte er und blätterte behutsam in der Blüte. »Jedes Blütenblatt verbirgt ein neues Blatt, das auch wieder ein neues Blatt verbirgt, alle gleich dünn und zart.«

Zwischen den Blütenblättern irrten kleine Insekten herum. Die wohnten in der Blüte.

»Schön ist die«, sagte Kaspar.

»Ja, das ist sie. Und sie duftet auch noch wunderbar. Sie braucht viel Sonne und gute Erde. Seit dreißig Jahren wachsen die schon hier. Pfingstrosen können sehr alt werden. Man muss nur ihre Wurzeln in Ruhe lassen, sonst gehen sie ratzfatz ein.«

Kaspar fing einen Marienkäfer, der zwischen den Blättern herumkrabbelte. Der Käfer lag in seiner Hand und stellte sich tot. Kaspar zählte die Punkte.

»Er hat sieben schwarze Punkte, also ist er sieben Jahre alt.«

Großvater zählte ebenfalls und sagte dann:

»Die Marienkäfer sind gar nicht rot. Das sieht nur so aus. Eigentlich sind sie schwarz.«

»Was? Das soll ein Witz sein, oder?«

»Nein. Sie sind schwarz, und die rote Farbe ist sozusagen nur aufgepinselt. Die schwarzen Punkte sind in Wirklichkeit ausgespart.«

»Glaub ich nicht«, sagte Kaspar. »Ich seh doch, dass der hier rot ist.«

»Weil er noch lebt. Die rote Farbe blättert erst ab, wenn er tot und vertrocknet ist.«

»Ehrlich?«, fragte Kaspar verblüfft. »Er ist also nicht rot mit schwarzen Punkten?«

»Wenn ich’s dir sage. Er ist von einer dünnen roten Schicht bedeckt, und die Punkte sind Löcher zu der eigentlichen schwarzen Farbe.«

»Und das weißt du ganz genau?«

»Ja«, sagte Großvater. »Ich hab’s selbst gesehen. Wenn die Marienkäfer sterben und vertrocknen, werden sie schwarz.«

»Dann ist es, als hätten sie einen roten Pulli voller Löcher an?«

»So ungefähr.«

Kaspar setzte den Marienkäfer in die Pfingstrose zurück, und Großvater ging los, um die Gießkanne zu holen. Genau da kam eine heftige Windbö. Das Rauschen der Birken wurde zu einem lauten Tosen, und Großvaters Kappe flog davon und rollte über den Hof. Und dann – ein dumpfes Krachen! Kaspar hob den Kopf und sah eine große Birke umstürzen, direkt auf ihn zu.

»Pass auf!«, schrie Großvater.

Aber Kaspar blieb wie angewurzelt stehen und starrte den fallenden Baum an. Er konnte sich nicht rühren, es war, als klebten seine Schuhe am Boden fest. Und die Birke wurde größer und größer. Wie in Zeitlupe neigte sie sich in seine Richtung, und erst im allerletzten Moment kam Großvater an und riss ihn zur Seite. Der Baum krachte mit solcher Wucht auf die Erde, dass alles ringsum erzitterte und Äste, Zweige und Blätter in einem heftigen Wirbel in die Luft flogen.

Die große Birke hatte Großvaters Haus nur um wenige Meter verfehlt. Hätte sie das Dach getroffen, stünde das Haus jetzt ohne da.

»Warum bist du nicht gerannt?«, fragte Großvater.

»Weiß nicht, ich war wie festgeklebt. Starr vor Angst.«

»Verflixt und zugenäht aber auch!«, sagte Großvater. »Das hätte böse enden können. Du wärst platt gewesen wie eine Flunder.«

Wie das ausgesehen hätte, daran wollte Kaspar lieber gar nicht denken.

Der Baum lag quer über Großvaters Hof. Es sah aus, als wäre innerhalb einer Sekunde ein Dschungel aus dem Gras gewachsen, ein Wald aus Birkenästen. Großvater stand lange nur da und schaute den Baum an. Er verzog gequält das Gesicht und sagte:

»Warum ausgerechnet hier?«

Dann sah er, dass die Pfingstrosen völlig von den Ausläufern der Birkenkrone verdeckt waren und keine Sonne mehr bekamen.

»Der Baum muss weg!«

Kaspar kletterte in die Krone und schwang sich von Ast zu Ast, während Großvater in den Schuppen ging, um nach der Motorsäge zu suchen, die er in der Weihnachtslotterie des örtlichen Sportvereins gewonnen hatte. Es brauchte seine Zeit, bis er sie fand, denn im Schuppen herrschte Ordnungsfreiheit, wie er das nannte. Tatsächlich lag die Säge unter einer Reuse, die unter einem Elchfell lag. Großvater schraubte einen kleinen Deckel ab und schnupperte in die Öffnung darunter. Ja, der Tank war voll.

»Komm sofort da runter!«, schrie Großvater, als er aus dem Schuppen kam, und Kaspar gehorchte aufs Wort.

Aber als Großvater am Starterseil zog, ging die Säge nicht. Großvater zog und zerrte, bis er vollkommen aus der Puste war. Dann schimpfte er: »Ich hab noch nie was von den Dingern gehalten!«, schmiss die Motorsäge wieder in den Schuppen und kam mit zwei normalen Sägen zurück.

»Hier«, sagte er zu Kaspar und reichte ihm eine davon. »Wir erledigen das auf die alte ehrliche Art.«

»Aber dafür brauchen wir den ganzen Sommer!«, sagte Kaspar erschrocken.

»Genau darum fangen wir auf der Stelle an«, knurrte Großvater.

Sie sägten viele Stunden lang. Kaspar nahm die dünneren Äste, Großvater die dickeren. Aber der Baum war so groß, dass man von Großvaters und Kaspars Arbeit noch kaum etwas merkte.

»Wie ich das hasse – Arbeit, die einfach so aus den Wolken fällt!«, schimpfte Großvater zum Himmel hinauf.

Und plötzlich stand mitten in der Birkenkrone Lisa. Fast hätte Kaspar ihr in den Kopf gesägt. Lisa war zwei Jahre älter als er und wohnte ein Stück weiter oben im Dorf. Sie war seine beste Freundin.

»Hallo!«, sagte sie.

»Hallo!«, sagte Kaspar.

»Boah, was ist das denn?«, sagte Lisa.

Großvater warf ihr einen sauren Blick zu.

»Na, was wohl?«

»Eine Birke«, sagte Lisa.

»Hol dir eine Säge aus dem Schuppen!«, sagte Großvater.

»Auf dem Weg hierher hat’s noch mehr Birken umgepustet«, berichtete Lisa.

»Die sind mir egal«, brummte Großvater. »Die hier macht mir meine Pfingstrosen kaputt, und vor allem schlägt sie mir aufs Gemüt. – Los, hol dir eine Säge!«

»Schau mal, was ich gekriegt hab!«, sagte Lisa und zeigte Kaspar eine Halskette, an der in lauter Großbuchstaben ihr Name hing.

»Nicht schlecht«, sagte Kaspar.

»Echt Silber«, sagte Lisa.

»Hol dir eine Säge!«, sagte Großvater.

Also holte Lisa eine Säge aus dem Schuppen und begann mitzusägen. Aber plötzlich hörte sie wieder auf.

»Du hast doch eine Motorsäge«, sagte sie zu Großvater. »Die von der Weihnachtslotterie.«

»Die funktioniert nicht«, sagte Großvater.

»Aber so brauchen wir den ganzen Sommer«, sagte Lisa.

»Säg weiter!«, sagte Großvater.

Sie sägten noch eine Stunde und wurden allmählich müde.

»Wieso gibt es Halsketten mit ausgerechnet deinem Namen?«, fragte Kaspar. »Alle Mädchen heißen doch nicht Lisa. Ich meine, wenn man zum Beispiel Stina heißt, kauft man sich doch bestimmt keine Kette, auf der Lisa steht.«

»Es ist eine Sonderanfertigung«, erklärte Lisa. »Du könntest dir auch eine bestellen, mit Kaspar.«

»Nie im Leben«, sagte Kaspar.

»Weitersägen!«, knurrte Großvater.

»Mach ich doch«, sagte Kaspar.

Er kletterte ein Stück weiter in die Krone und machte sich an einem besonders zähen Ast zu schaffen. Er stützte sich mit dem Fuß auf dem Baumstamm ab und sägte wie ein Wilder. Es dauerte ewig, aber plötzlich fiel der Ast doch – nur schaffte es Kaspar nicht, rechtzeitig den Fuß zurückzuziehen. Das Sägeblatt ratschte darüber weg und sägte einen langen Riss erst in den Schuh, dann in den Strumpf und zum Schluss in Kaspars großen Zeh.

»Au, Hilfe, ich hab mir auf den Fuß gesägt!«, schrie Kaspar und fiel aus der Birkenkrone.

Großvater kam angerannt und besah sich den Schaden. Aus dem Loch im Schuh kam Blut.

»Das hier wird sich Mia anschauen müssen. Die versteht sich auf die meisten Blessuren. Lebensbedrohlich sieht es nicht aus, aber der Schuh ist im Eimer.«

Mia war Lisas Mutter. Sie konnte fast alles heilen und war bei Krankheiten und Verletzungen eine große Hilfe.

»Du hast dir nicht auf den Fuß gesägt«, sagte Lisa.

»Wie?«, sagte Kaspar. »Klar hab ich das!«

»Du hast dir nicht auf den Fuß gesägt, niemals«, sagte Lisa.

»Und wieso blutet es dann und tut weh wie verrückt?«

»Weil du dir in den Fuß gesägt hast«, sagte Lisa. »Man sägt sich in den Fuß, nicht auf den Fuß!«

»Schluss jetzt!«, sagte Großvater. »Lauft rauf zu Mia, damit sie sich die Wunde anschauen kann!«

Versuchsweise stützte sich Kaspar auf den Fuß. Das ging ganz gut und tat auch nicht besonders weh. Der Zeh war zumindest nicht abgesägt. Lisa meinte sogar, es sei wohl nur eine kleine Schürfwunde. Aber Kaspar wollte eine große Schürfwunde haben und fing an zu hinken.

Großvater sägte allein weiter.

Ihm war aus den Wolken Arbeit zugefallen, jetzt würde er den ganzen Sommer zu tun haben. Seine Laune war genauso im Eimer wie der Schuh.

Atom-Putz

Kaspar und Lisa nahmen den Pfad durch den Birkenwald. Jedes Mal, wenn Lisa hersah, hinkte Kaspar. Es wehte immer noch heftig, der Wind zerrte an den Baumkronen, dass die Äste nur so knarrten und ächzten. Wie Lisa gesagt hatte, waren mehrere Bäume umgestürzt und lagen quer über dem Pfad.

»Hast du gewusst, dass die Marienkäfer gar nicht rot mit schwarzen Punkten sind?«, fragte Kaspar.

»Wie? Was? Natürlich sind sie rot«, sagte Lisa.

»Nein, sie sind schwarz und mit roter Farbe angemalt, außer da, wo die Punkte sind. Die Punkte sind nichts als Löcher im Rot.«

»Das glaub ich nicht. Marienkäfer sind rot mit schwarzen Punkten, das sieht man doch!«

»Das Rot kann abblättern, dann werden sie schwarz.«

»Na gut, dann probieren wir nachher aus, ob das Rot abblättert«, sagte Lisa.

»Vorher müssen sie tot und trocken sein«, sagte Kaspar.

Lisa blieb stehen und sah ihm in die Augen. Eine Sekunde, zwei Sekunden. Sie sah ihm tief in die Augen. Drei Sekunden, vier Sekunden. Erst als Kaspar weiche Knie und heiße Backen hatte, sah Lisa weg und sagte:

»Dann müssen wir eben einen töten.«

»Nein«, sagte Kaspar.

»Wie sollen wir denn sonst rauskriegen, ob es stimmt?«, fragte Lisa. »Man darf doch nicht einfach was Doofes behaupten, wenn man es nicht beweisen kann.«

»Was ist denn daran doof?«, fragte Kaspar.

Lisa schüttelte den Kopf und äffte Kaspars Stimme nach: »Marienkäfer sind nicht rot mit schwarzen Punkten, das sieht bloß so aus. – ? Wenn das nicht doof ist, was dann?«

»Es stimmt aber trotzdem«, sagte Kaspar. »Marienkäfer sind schwarz mit roter Farbe drauf und …«

»Wir machen einen Test«, unterbrach ihn Lisa. »Wir fangen einen Marienkäfer und lassen ihn sterben und vertrocknen.«

Kaspar antwortete nicht, sondern wurde ganz still, weil der Pfad jetzt über Isabells Hof führte. Isabell war eine bucklige Alte, die nur von Luft zu leben schien. Sie wohnte in einem alten, verfallenen Häuschen mit schiefen Fenstern. Die Bretter, aus denen es bestand, waren morsch und angefault.

Kaspar fing an zu rennen. Ihm war dieser Ort unheimlich. Aus dem Häuschen drangen wie immer Seufzer und schluchzendes Gewimmer. Es klang wie ein Klagegesang aus dem Innern der Erde. Isabell leide, hieß es. Sie leide und bejammere all den Blödsinn, den die Menschen seit Tausenden von Jahren angestellt hätten und bis zum Jüngsten Tag, wenn dereinst die Welt unterging, noch anstellen würden.

»Hast du Angst?«, fragte Lisa grinsend.

»Nein, kein bisschen«, versicherte Kaspar.

Plötzlich flog die Tür auf, und Isabell kam heraus. Sie war klein und ziemlich rund mit krummen Beinen. Aus ihrem runzligen Gesicht, das an eine Morchel erinnerte, schauten hellblaue, wässrige Augen.

»Hört ihr die Wagenräder?«, schrie sie. »Hört ihr, wie sie knirschen und knarzen?«

Kaspar erstarrte vor Entsetzen.

»Nein«, sagte Lisa. »Ich hör nur den Wind in den Birken, aber keine Wagenräder.«

Kaspar lauschte. Er hörte auch den Wind in den Birken, aber dazu noch Äste, die sich ächzend aneinanderrieben.

»Wo er gefahren kommt, da fallen die Bäume«, sagte Isabell und starrte die Kinder mit wirrem Blick an.

Kaspar und Lisa verstanden kein Wort. Wer kam mit was gefahren?

»Habt ihr den elenden Gaul und den morschen Karren nicht gesehen?«, fragte Isabell und hielt ihre zitternden Hände in die Höhe. »Es ist der Fuhrmann, der gefahren kommt!«

Kaspar hatte keinen Karren gesehen. Lisa auch nicht.

Isabell musterte die Kinder mit gerunzelter Stirn und zischte leise, als wäre jemand in der Nähe, der es nicht hören sollte:

»Sein schwarzes Pferd ist mager, die Mähne und der Schwanz sind grau vom Alter. Es hat auch nur ein Vorderbein und ist auf einem Auge blind. Der Karren, den das Pferd zieht, ist von Würmern zerfressen. Die Räder sind lose und wacklig und seit Tausenden von Jahren ungeschmiert. Auf diesem Karren kann nur der Tod selbst durch die Lande kutschieren.«

Isabell hielt kurz inne, dann fuhr sie mit verdrehten Augen fort:

»Auf dem eingesunkenen Kutschbock sitzt der Fuhrmann, gebeugt von ewiger Müdigkeit. Seine Lippen sind schwarz, seine Wangen grau und bleich, die Augen leer und gebrochen. Er trägt eine lange schwarze Kutte mit einer großen Kapuze über dem Kopf. In der Hand hält er eine rostige Sense. Habt ihr ihn wirklich nicht gesehen? Er ist doch hier vorbeigefahren!«

Isabell schaute wild um sich und kam auf die Kinder zu. Kaspar zitterte vor Angst.

»Es ist der Karren des Todes, er ist hier! Und der mit Sense kommt niemals vergebens!«

»Stimmt doch alles gar nicht!«, sagte Lisa und befingerte nervös ihre Halskette. »Das ist doch bloß der Wind!«

Kaspar musste plötzlich so dringend pinkeln, dass es wehtat. In seinem Kopf rauschte es, als hätte er Wasser in den Ohren.

»Nein, das ist nicht nur der Wind!«, krächzte Isabell und drehte sich zur Haustür um. »Hört doch, wie es knirscht und knarzt!«

Da rannte Lisa los, und Kaspar blieb ihr auf den Fersen, bis sie aus dem Birkenwald heraus waren.

»Hast du irgendwelche Wagenräder gehört?«, fragte Kaspar keuchend.

»Nein, das ist doch nichts als oller Aberglaube. Alles Quatsch mit Soße!«

»Aber du hast auch Angst gehabt«, sagte Kaspar. »Gib’s zu!«

»Nein.«

»Ich muss pinkeln«, sagte Kaspar und ging in die Büsche.

 

Lisas Mutter Mia stand schon am Herd und kochte. Mia war eine mollige, muntere Frau. Sie erinnerte Kaspar an ein fröhliches Boot, das emsig durch die Küche tuckerte, backend, nähend und alle umsorgend.

»Ich hab mir auf den Fuß gesägt«, erzählte Kaspar.

»In den Fuß«, sagte Lisa.

»Lass mal sehen!«, sagte Mia.

Kaspar setzte sich auf einen Stuhl, und Mia schnürte den Schuh auf, zog ihn – und den Strumpf – vom Fuß und untersuchte die Wunde.

Sven, Lisas Vater, lag auf der Küchenbank. Er war krankgeschrieben, aber Lisa sagte immer, eigentlich sei er bloß sauergeschrieben.

Sven nickte Kaspar zu. Er sah mager und blass aus. Kaspar nickte zurück.

»Unsereins«, sagte Sven mit einem schweren Seufzer, »unsereins wär froh gewesen, wenn er sich bloß in den Fuß gesägt hätte.«

Er seufzte noch mal, und es klang, als hätte er einen Platten, aus dem die Luft herauszischte.

»Hör mit dem Geseufze auf!«, sagte Mia ärgerlich. »Du liegst den ganzen Tag herum und lässt es dir gut gehen, also was gibt’s da zu seufzen?«

»Was es da zu seufzen gibt? Wer jeden Moment mit dem Tod rechnen muss, hat ja wohl noch das Recht zu seufzen.«

»Unsinn! Du bist bald wieder auf den Beinen«, sagte Mia.

»Oh nein, mit mir ist es aus«, sagte Sven mit einem abgrundtiefen Seufzer.

Er schien sich mit seiner Krankheit ausgesprochen wohlzufühlen.

Sehr seltsam, dachte Kaspar.

»Das mit deinem Zeh ist nicht weiter schlimm«, sagte Mia zu ihm, dann säuberte sie die Wunde mit Wundalkohol und klebte ein Pflaster darüber. »Aber dein Schuh ist kaputt.«