Neben der Normalität

 

1.Teil

… unglaublich aber wahr!

 

von Heike Altpeter

 

 

Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Verlage, Herausgeber und Autoren unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Impressum:

Text:       Heike Altpeter

Coverdesign:             Fotograf: Jean M. Laffitau

            Model: Merle Schmidt

Korrektur/Lektorat:       Kerstin Jolas

Layout/Überarbeitung:      Karin Pfolz

© Karina Verlag, Wien

ISBN:                        9783966105057

 

 

 

 

 

 

Kapitel I: Die Vorgeschichte

 

Jeder sollte in seinem Leben einen Fehlgriff freihaben. Im Glauben den richtigen Mann gefunden zu haben, wollte ich eine Traumhochzeit. Ihr wisst schon, so wie im Kino.

Aber irgendwie war das Ganze von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Es kam, wie es wohl hatte kommen müssen.

      Wir verliebten uns.

      Wir zogen zusammen.

      Wir heirateten und…

wir wurden nach einem Jahr wieder geschieden.

Damals verstand ich die Welt nicht mehr. Alles hatte so wunderbar angefangen, und dann hatte es so geendet! Mein Bauchgefühl signalisierte mir, dass diese Entscheidung richtig war. Trotzdem überlegte ich:

      Was hatte ich bloß falsch gemacht?

      War es eine göttliche Vorsehung?

      Meine Bestimmung?

Dass es ein für mich vorbestimmtes Schicksal war, das konnte ich damals nicht erahnen, geschweige denn wissen. Alles hatte so kommen müssen, damit aus mir das werden konnte, was ich letztendlich dann geworden bin.

Aber lassen Sie sich überraschen!

 

 

 

 

Kapitel II: Die Neuorientierung

 

Alles auf Anfang!

Eine neue Wohnung musste her und ein anderer Arbeitsplatz. Ich wollte unbedingt aus der Klinik fort, in der ich zu dieser Zeit noch arbeitete, um meinem geschiedenen Mann, den ich dort kennengelernt hatte, nicht mehr über den Weg laufen zu müssen.

Doof? Ja, ich weiß. Aber so war ich nun einmal. Ich wollte alles ändern und das sofort! Vielleicht schämte ich mich aber auch einfach nur für die Blamage meiner Scheidung und wollte jeglichem Hohn meiner Kollegen aus dem Wege gehen. Lange Gespräche mit meiner Freundin Julia bestätigten mich in meinem Vorhaben. Also kündigte ich zum nächsten Quartalsende meine Arbeitsstelle. Die Gedankengänge von Frauen erscheinen desweilen unergründlich!

Eine neue Wohnung war nicht das Problem. Das konnte ich ja direkt in Angriff nehmen. Mit Erfolg! Anfang Mai zog ich um. Klein, aber fein und vor allem bezahlbar. Die Arbeitssuche zu Beginn des Oktobers gestaltete sich jedoch schwierig. Obwohl noch lange hin, waren meine Träume diesbezüglich oder gerade deswegen wohl doch zu rosig. Stundenlange Computerrecherchen nach offenen Stellen. Jetzt sofort – ja, das wäre möglich gewesen. Für Oktober war nichts für mich dabei. Es wurde notwendig, in der Zeitung zu inserieren, das gleiche tat ich auch auf den Seiten der Arbeitsagentur. Dann hieß es abwarten, was nun nicht gerade meine Stärke war. Ich wartete, während ich weiterhin täglich, mit zunehmender Nervosität, in die Klinik fuhr.

Kein passendes Angebot. Kein Lichtblick. Zwischenzeitlich machte sich auch Weltuntergangsstimmung breit: Ob ich mich wohl zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte? Von Natur aus eine Kämpferin war, mein Selbstmitleid aber nur von kurzer Dauer.

Und dann kam das erste A N G E B O T.

Das Telefon klingelte, ich hob ab und meldete mich:

„Neu, hallo!“

„Andrés, guten Tag, ich habe Ihre Anzeige im Wochenspiegel gelesen und hätte da ein Angebot für Sie.“

„Oh, das ist aber schön.“

„Ich suche eine Dame für Telefonsex und dachte mir, dass das vielleicht etwas für Sie wäre?“

„Ähm, Telefonsex? Ich weiß nicht so recht.“

„Warten Sie doch erst mal ab. Der Job bietet Ihnen die Möglichkeit, von zu Hause aus viel Geld zu verdienen. Passen Sie mal auf, das ist gar nicht schlimm und auch nicht so, wie Sie sich das vielleicht vorstellen.“

Er machte eine Sprechpause, und ich horchte in mich hinein. Nichts! Einfach nichts.

„Es dürfen Sie nur Personen aus dem Raum Pirmasens anrufen, und Sie dürfen sich aussuchen, ob Sie lieber von Frauen oder Männern angerufen werden wollen.“

Ich war völlig verdutzt und konnte nur stammeln: „Ah ja!“

„Ja, und das Tolle ist – Sie erhalten eine Geheimnummer und können von zu Hause aus telefonieren. Ist das nicht toll? Aber passen Sie auf, wir spielen das jetzt mal durch.“

Ich, hustend: „Entschuldigung!“

„Ähm, also die Damen oder Herren dürfen Ihnen zehn Fragen stellen, die Sie beantworten müssen. Natürlich so erotisch wie möglich und dann legen Sie einfach auf. Klar soweit?“

„Und was mache ich, wenn die Herren dann davon noch nichts hatten?“

„Das ist nicht schlimm, dann müssen die halt wieder bei Ihnen anrufen, bis sich der gewünschte Erfolg einstellt. Wir wollen ja damit Geld verdienen.“

Ich, schmunzelnd: „Na gut, dann probieren wir das mal.“

Andrés, begeistert: „Na, geht doch! Hallo, ich bin Bert und du?“

Ich hauchte: „Hallo! Susi“.

Andrés: „Wie groß bist du, und beschreib mir deine Haare.“

Ich dachte mir, dass ein wenig Übertreibung nicht schaden könne: „Ich bin einsachtzig und habe lange lockige rote Haare.“

Andrés, staunend: „Oh! Wie sind deine Brüste?“

Ich, den Schalk im Nacken: „Ich würde sagen, so drei Kahok.“

Andrés, irritiert: „Was ist das denn?“

Ich, amüsiert: „Drei kanadische Holzfällerkrallen“ Den Ausdruck hatte ich mal bei einer Unterhaltung zwischen zwei Männern gehört und fand ihn lustig.

Andrés: „Ähm…weiter, welche Stellung bevorzugst du?“

Ich grinste süffisant: „Die zweiundneunzig.“

Andrés: „Ach, die kenne ich ja noch gar nicht, wie geht denn die?“

„Das ist die, mit einem Bein im Putzeimer“, dabei musste ich lauthals lachen.

Andrés, resigniert: „Das hat mit Ihnen leider keinen Zweck. Sorry, Sie sind nicht ernst genug. Aber vielen Dank für das nette Gespräch.“ Und zack, hatte er aufgelegt.

Wenn ich das jemandem erzählte, musste ich immer noch unwillkürlich lachen. So etwas war mir dann aber nicht mehr passiert.

In dieser Zeit hatte Paul eine Vision:

Wie jeden Tag war Paul zeitig in seine Praxis gefahren. Er genoss es, vor seinen Mitarbeitern da zu sein. Gemütlich machte er sich einen Kaffee und las dabei die Zeitung von Donnerstag. An einer Stellenanzeige blieb sein Blick wie magisch hängen. Eine anscheinend junge Frau, Dana Neu, hatte mit Anschrift und E-Mail-Adresse inseriert, dass sie einen neuen Chef und ein neues Aufgabengebiet suchte. Paul hatte von Jugend an diese übersinnliche Gabe, die er während seiner Studienzeit verfeinern und ausbilden konnte. Diese Gabe zeigte sich in genau dem Moment, als er die Anzeige las. Vor seinem geistigen Auge sah er eine junge, kleine, strubbelige, rothaarige Frau mit lustigem Gesicht und dunkelbraunen Augen. Es fiel ihm ein, dass er während seiner Studienzeit schon einmal einen vergleichbaren Traum gehabt hatte. Die Vision war damals nicht so deutlich gewesen wie heute, aber er hatte bereits damals schon gewusst, dass es nur diese eine für ihn gab und auf die wollte er und hatte er sein ganzes bisheriges Leben lang gewartet. Heute schätzte er diese Frau auf ungefähr zweiundzwanzig Jahre. Irgendetwas faszinierte ihn an seiner Vision. Er träumte vor sich hin, und ihm wurde schlagartig bewusst:

D A S W A R S I E!

Sein Herzschlag erhöhte sich, und er kam wieder zur Besinnung. Er verspürte den Drang, auf diese Anzeige zu antworten. Auf seine Sekretärin wollte er nicht warten, das dauerte zu lange, und so schrieb er, nach einem prüfenden Blick in seinen Terminkalender, gleich selbst den Antworttext. Der Gedanke an diese Frau ließ ihn nicht mehr los. Den ganzen Tag über, bis weit in die Nacht hinein, wiederholte sich immer wieder dieselbe Vision in seinem Kopf. Eine unglaubliche Energie durchströmte seinen Körper. Unruhig schlief er ein und erwachte ebenso unruhig am nächsten Morgen. Er wollte Gewissheit – nein, die brauchte er sogar!

Freitag: Die Praxis war voll. Bis zum Nachmittag hatte er keine Zeit. Nachdem der letzte Patient gegangen war, verabschiedete er sich in sein wohlverdientes Wochenende. Endlich Freizeit!

Seine Kräfte blühten regelrecht auf. Erst einmal musste er etwas essen und noch Papierkram erledigen. Später lag Paul gemütlich auf dem Sofa. Die Vision kam wieder. In Gedanken formte er das Bild dieser Frau: Dana. So lange, bis es ihm gelang, Fetzen aus ihren Gedanken aufzuschnappen. Auf diesem Weg kam er an die Informationen heran, die er benötigte, um zu wissen, wo er sie unbeschwert und unverfänglich vor dem von ihm selbst vergebenen Vorstellungstermin kennenlernen konnte.

– Ich wartete derweilen zu Hause immer noch auf ein passendes Stellenangebot.

Täglich prüfte ich meine Post und dann, schneller als erwartet …

Donnerstag: Ein Dr. Paul Liebknecht hatte mir gemailt, dass ihm meine Anzeige gefallen habe, und wenn ich wollte, könne ich mich bei ihm am kommenden Dienstag vorstellen.

Ich antwortete ihm sofort. „Juhu!“ Vor Aufregung hüpfte ich um den Tisch. Endlich mal etwas Positives. Mir war instinktiv klar, dass dies die Chance war, auf die ich gewartet hatte. Das Angebot meines Lebens. – Mein Traumjob. – Mein… Die Euphorie übermannte mich! Bis Dienstag waren es nur noch fünf Tage.

Während ich ins Schlafzimmer ging, überlegte ich mir, was ich anziehen könnte, um einen guten Eindruck zu machen. So waren wir Frauen nun mal!

Mein Kleiderschrank, aus hellem Holz, war doch relativ klein für eine Frau. Aufgrund von Geldmangel konnte ich mir keinen größeren leisten, und er musste mir genügen. Man könnte aber auch sagen: Ich war zu geizig, um mir einen größeren Schrank zu leisten. Meine beste Freundin Julia Sorg, klein, schlank, blonde schulterlange Engelhaare und einfach süß, war da ganz anders gestrickt. Von Haus aus war sie besser gestellt als ich und hatte deshalb einen Schrank voller hübscher Kleider, Schuhe, Taschen und…

Ich fand das etwas übertrieben – aber was sollte es.

Aber ehrlich, ohne sie wäre ich so manches Mal aufgeschmissen gewesen. Immerhin durfte ich mir zu besonderen Anlässen ein Paar Schuhe und die passende Handtasche von ihr ausleihen. Sie war eben meine beste Freundin.

So in meinen Gedanken vertieft, öffnete ich den Schrank, und nach Sichtung des Inhaltes probierte ich verschiedene Stücke in Kombination zueinander aus. Nach mehreren Anproben und Begutachtung im Spiegel, entschied ich mich für eine relativ neue Jeans, ein weißes T-Shirt und dazu eine schwarze Nadelstreifenjacke. Schwarze Pumps.

P e r f e k t!

Jetzt blieb mir noch genügend Zeit, um mir einen Krimi im Fernsehen anzusehen, und dann ging ich erleichtert ins Bett.

Mit Kribbeln im Bauch erwachte ich am nächsten Morgen. Traumfetzen kamen mir ins Bewusstsein:

Ein gut aussehender Chef, um die Dreißig. Einen hellen Arbeitsplatz am Fenster, von dem aus man auf die Saar blickte. Genug Geld, um mir Wünsche zu erfüllen. Kurz schmunzelnd dachte ich: „Nur ein Traum?“

Freitag: sieben Uhr, die Sonne schien.

Ich stand auf, ging ins Bad, machte Morgentoilette, cremte mein Gesicht mit purer Kamille, schminkte mir die Augen mit blauer Mascara und kämmte mich – was eigentlich völlig überflüssig war bei meinen Haaren. Ein letzter Blick in den Spiegel … Zufrieden!

Wieder zurück im Schlafzimmer schnappte ich mir Unterwäsche, eine kurze beige Hose, eine passende Bluse, zog alles an und spazierte in die Küche. Klein aber fein erfüllte sie ihren Zweck. Ein paar kleine Details mochte ich besonders: Die weiße Arbeitsplatte verziert mit rosafarbenen Herzen, auf die gerade jetzt die Sonne schien. Meinen alten gedrechselten Küchenschrank aus Kirschbaumholz und meinen runden Holztisch mit vier Stühlen, auf denen rosafarbene Stuhlkissen lagen. Meine kleine rosa Welt!

Nach dem Frühstück räumte ich ab, ging noch einmal kurz zur Toilette und dann in die Klinik. Der Tag war ruhig. Horst, mein Exmann, war mir, Gott sei Dank, auch nicht über die Füße gelaufen. Um fünf Uhr hatte ich Feierabend. Ich packte meine Sachen, ging einkaufen und dann nach Hause.

Wie immer freitags nach dem Abendessen, rief ich Julia an. Wir redeten etwa eine Stunde über dies und das, bis mir plötzlich einfiel, dass sie ja noch nichts von meinem Glück wusste:

„Übrigens, das muss ich dir noch erzählen. Am Dienstag habe ich ein Vorstellungsgespräch. Was sagst du jetzt?“

„Das ging aber jetzt flott. Ist ja super. Bei wem? Wo musst du denn hin?“

„Berliner Promenade, Praxis Dr. Paul Liebknecht, Neurologe/Psychiater.“

„Yippie! Mensch, super! Das ist ja gar nicht weit von deiner Wohnung. Freut mich sehr. Na, dann drücke ich mal alle Daumen.“

„Sag mal, gehst du mit mir am Samstag ins Eishaus? Ich hätte mal wieder richtig Lust abzutanzen.“

„Och, nööö! Disco! Bei dem Wetter? Mal sehen, vielleicht treffe ich mich mit Chrissi im Biergarten. Kannst ja auch mitkommen?“

„Danke, nett von dir, aber mir ist doch eher nach tanzen. Schade!“

Wir redeten noch ein paar Minuten und verabschiedeten uns; Dienstagabend würden wir uns wiedersehen. Zum Fernsehen war es mir jetzt doch zu spät geworden, und ich beschloss, zeitig zu Bett zu gehen. Die weiße Decke mit rosa Streifen bis unter die Arme gezogen, nahm ich mir mein Buch und begann, noch ein paar Zeilen zu lesen, um auf andere Gedanken zu kommen. Die Geschichte handelte von einem Mädchen, das bei Adoptiveltern aufgewachsen war und in einer dunklen Nacht, in einer engen Gasse, überfallen wurde. Der Angreifer entpuppte sich im Laufe der Geschichte als Vampir. Sie wurde von einem Supermann gerettet und verliebte sich in ihn. Wie sich herausstellte, war auch er ein Vampir, aber einer von der guten Sorte. Ich las das Kapitel zu Ende, machte das Licht aus und schlief ein. Ich träumte wilde Sachen. Von Vampiren und Neurologen. Einem besseren Leben. Einem großen Haus mit Personal und Garten. Vielen Abenteuern und meiner großen Liebe.

Krrrring, Krrrring. Der Wecker riss mich aus der Traumwelt. „So ein Mist! Sieben Uhr“, sagte ich laut. Es war Samstag, und ich hatte mir versehentlich den Wecker gestellt. Jetzt war ich aber nun mal wach und stand auf. Wie immer musste ich sofort zur Toilette.

Es war W o c h e n e n d e.

Zeit zum Entspannen und Lesen. In Jogginganzug und T-Shirt schlurfte ich gemütlich in die Küche, machte Frühstück, nahm mir eine Zeitung vom Küchenschrank und setzte mich an den Tisch. Lesen, Kaffee trinken – so vertrödelte ich die Zeit. Es war mittlerweile elf Uhr. Die Sonne schien durchs Küchenfenster, das sich über der Spüle befand und mir einen gigantischen Blick auf unseren etwa zehn Quadratmeter großen Garten bescherte. Es war zwar ein Gemeinschaftsgarten, aber ich nutzte von ihm nur den Anblick. Etwas Wiese, ein paar Blümchen und zwei kleinere Bäume, ich glaube, es waren Erlen, boten einen ordentlichen Anblick. Man hörte Vögel zwitschern. Meisen, Spatzen und einen Dompfaff. Glaubte ich wenigstens. Mein Frühstück war beendet. Wie jeden Morgen räumte ich den Tisch ab und verzog mich danach ins Wohnzimmer, das ebenfalls zur Gartenseite lag und ein größeres Fenster mit Balkontür hatte, von wo man auf einen winzigen, etwa vier Quadratmeter großen Balkon gehen konnte. Meine Möbel waren im typischen Ikea-Stil, aber den richtigen Schick erhielt das Zimmer durch einen altrosa Teppich und passende Scheibengardinen sowie eine moderne Stehlampe mit extra Leselicht. Mein Sofa war äußerst bequem. Ich wollte in meinem Buch weiterlesen. Mist, das lag ja noch im Schlafzimmer. Also musste ich wieder aufstehen, Buch holen und erneut hinsetzen. „So, Frühsport auch erledigt“, dachte ich und begann zu lesen. Ein paar Seiten und Kapitel weiter waren das Mädchen und der Vampir-Supermann Gefährten und hatten materialisierte Geister als Hauspersonal, waren mehrere Male angegriffen worden und hatten sich erfolgreich verteidigt. Waren nach New York geflogen und hatten einen Blutrubin gefunden, der sie vor dem Tageslicht schützte. Sie waren so heftig verliebt, dass sie ohne einander nicht mehr leben konnten und küssten sich dauernd. Das Buch auf meinen Bauch, schloss ich die Augen. Ach! Wie wäre das so schön, auch einmal so geliebt zu werden und ein so spannendes Leben zu führen. Durch den Knall, den ein Düsenjet beim Durchbruch der Schallmauer produzierte, schreckte ich auf, schaute auf die Uhr über dem Fernseher: Oh je, schon kurz vor vier Uhr. Ich musste wohl eingeschlafen sein. Beim Aufsetzen rieb ich mir die Augen, streckte mich genüsslich nach allen Seiten und atmete einmal tief durch. Zeit zum Essen! Ein Blick in den Kühlschrank zeigte mir, dass das Abendessen wohl sehr dürftig ausfallen würde: Ein Heidelbeerjoghurt, etwas Wurst und Käse, Butter, Senf und Marmelade. Ende der Fahnenstange. Mit dem Joghurt und einem Löffel in der Hand wanderte ich wieder ins Wohnzimmer zurück. Im Fernsehen liefen eine Komödie und im Anschluss daran ein Abenteuerfilm. Faulenzen war echt super, wenn man nicht dabei gestört wurde. Die Filme waren recht gut, und ich konnte ab und zu herzhaft lachen. Gegen halb sieben rief ich noch einmal bei Julia an:

„Hey Liebes, wie geht es dir?“

„Ich bin total hinüber. Danke der Nachfrage, ging mir schon besser.“

„So plötzlich? Was ist denn los?“

„Bin im Stress! Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat, mit diesem Depp etwas anzufangen. Früher war Jörn immer zuverlässig und nett, aber allmählich entwickelt er sich zu einer Katastrophe. Ständig kommt er zu spät oder gleich gar nicht zu unseren Verabredungen, hat fadenscheinige Erklärungen parat, die ich ihm nicht wirklich abkaufe und dann dieses ständige Nörgeln. „Koch nicht so fett, mir geht es nicht gut, musst du schon wieder mit Dana telefonieren?“.– Also, der Spruch nervt mich am meisten.– Und überhaupt denke ich manchmal, dass er einfach nur wegen der Bequemlichkeit zu mir kommt. Rasiert wird sich auch nur noch an Feiertagen. Es reicht mir jetzt einfach. Das muss ich mir doch nun wirklich nicht antun. Ich habe ihm gesagt, er könne hingehen, wo der Pfeffer wächst.“

So kannte ich meine Freundin. Aufbrausend und in einem Schwung die ganze Rage herauslassen. Jetzt hatte sie ihr Pulver verschossen und zog hörbar die Luft ein.

„Na, da hat sich aber allerhand seit gestern bei dir aufgestaut.“

Mitfühlend versuchte ich sie zu beruhigen und gab ihr ganz fachmännische Ratschläge. Schließlich war ich in Sachen Beziehung ein kleiner Profi. Scherz beiseite.

„Du hast Glück gehabt, dass du letztes Jahr nicht auch geheiratet hast. Es wäre dir so ähnlich wie mir ergangen, und du könntest jetzt auch geschieden sein. Also Augen zu und durch. Wir schaffen das.“

„Danke, jetzt geht es mir schon wieder besser. Wie immer, ist doch logo.“

„Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du es dir anders überlegt hast und mit mir tanzen gehst. Würde dir jetzt bestimmt guttun.“

„Lieb von dir. Ich bleibe heute aber lieber zu Hause. Habe gerade die Schnauze voll und brauche meine Ruhe. Geh du nur, wir machen das ein anderes Mal. Ja?“

„O.K. Wenn du dich so wohler fühlst.“

Um auf ein anderes Thema zu kommen, erzählte ich ihr von meinem spannenden Roman, den ich zurzeit las. Interessiert hörte sie zu, fragte nach dem Autor und Titel. Notierte sich beides und erzählte mir von ihrer derzeitigen Lektüre. Nach einer gefühlten Ewigkeit verabschiedeten wir uns und legten auf. Mein Ohr glühte! Ich war irgendwie aufgedreht. Gegen halb zehn hielt mich nichts mehr zu Hause. Mir war nach Ausgehen. Es war wie immer, samstagabends, sehr voll und laut im Eishaus. Die Musik weckte meine Lebensgeister. Ich vergaß alles um mich herum, tanzte, war nur noch Rhythmus. Dazu brauchte ich keinen Mann. Schließlich war ich ja alt genug und musste nicht darauf warten, bis sich einer der Herren herabließ zu fragen: „Darf ich bitten!“ Nein, aus dem Alter war ich zum Glück heraus. Irgendwann lächelte mir ein cooler Typ zu, etwa Anfang dreißig, dunkler Leinenanzug, gut gebaut, kurze schwarze Haare, und auf die Entfernung hätte ich gesagt, grüne Augen. Alle waren am Tanzen und Reden, und keiner schaute so direkt in seine Richtung. Der musste wohl mich meinen, sonderbar? Ich wagte noch einmal einen Blick in seine Richtung. W e g!

Wohin war der denn jetzt so schnell verschwunden? Jemand klopfte mir auf die Schulter. Ich drehte mich um und sah vor mir einen dunklen Anzugtypen, der unwahrscheinlich gut roch. „Ups! Ist der groß“, dachte ich und schob meinen Blick am Anzug entlang in die Höhe. Zwei grüne Augen und ein strahlendes Lächeln belohnten mich für diese Mühe.

„Hey, ich bin Paul. Hättest du Lust, mit mir da hinten in die Bar zu gehen?“ Mit seinem Kopf machte er eine Bewegung in Richtung der im hinteren Teil, direkt am Rande der Tanzfläche angeschlossenen Bar. „Ich gebe dir einen aus.“

„Du meinst wirklich mich? Ja? Super. Mein Hals ist schon ganz trocken. Die Luft hier ist wirklich nicht die Beste.“

Wie selbstverständlich drehten wir uns um und verließen die Tanzfläche in Richtung Bar. Die Bar war etwas außerhalb der Tanzfläche gelegen und bot ein gemütliches Ambiente mit roten, gepolsterten, kleinen Sofas, zwischen denen je ein kleiner, eckiger, dunkler Holztisch stand. Paul steuerte zielstrebig auf einen Tisch im hinteren Bereich zu und bot mir ganz gentlemanlike einen Platz an.

„Setz dich! Was darf ich bestellen?“

Verlegen nahm ich die auf dem Tisch platzierte Getränkekarte und studierte sie eifrig.

„Na, hast du schon etwas gefunden?“

„Ja! Ich würde einen blonden Engel trinken. Ähm, wenn es dir recht ist?“

„Hmmm! Eine gute Wahl. Ich nehme aber lieber ein alkoholfreies Weizenbier. Einer von uns zwei muss ja nüchtern bleiben.“

Verlegen sah ich die Kellnerin an, als Paul die Bestellung aufgab.

War ich vielleicht doch etwas schnell mit meiner Auswahl? War es klug, schon gleich beim ersten Date etwas mit Alkohol zu bestellen? War das überhaupt ein Date? Ich entschied mich, nach einem Blick in sein Gesicht für Coolness. Wir unterhielten uns vorsichtig.

Er fragte, was ich denn so machte und ob ich öfter hier sei, wo ich wohnte und ob ich mit dem Auto hier sei.

Ich erfuhr, dass er selbständig war und eine gut gehende Firma hatte und heute nur mal so aus Neugierde hier war. Wir tranken, redeten, und er bezahlte.

„Hast du noch Lust zu tanzen?“

„Na klar, deswegen bin ich doch hier.“ Vom Alkohol selig lächelnd erhob ich mich.

„Na, dann mal los. Kannst du Rumba?“ Galant warf er seine Jacke über das Geländer, zeigte zur Tanzfläche und machte eine angedeutete Verbeugung.

Ich warf meinen Kopf in den Nacken: „Ich bin Rumba.“

Die Zeit verging wie im Flug, und auf einmal war es zwei Uhr morgens. Paul brachte mich noch zu meinem Auto, gab mir einen eleganten Handkuss, zwinkerte mir zu und verschwand. Während ich mein Auto aufsperrte, drehte ich mich noch einmal um.

Weg war er. „Schade“, dachte ich.

In dieser Nacht drehte sich alles um Paul mit seinen grünen Augen. Keine Spur von Vampiren oder Geistern. Ich wollte nie mehr aufwachen.

Krrrring, Krrrring!

Schon wieder dieser doofe Wecker. Diesmal schaltete ich ihn ab und drehte mich noch einmal genüsslich auf die andere Seite.

Am späten Nachmittag erwachte mein Selbst zum zweiten Mal. „Mir platzt gleich die Blase.“

Ein Blick in den Badezimmerspiegel bewies, dass es eine lange Nacht gewesen war. Kaltes Wasser und Zähneputzen, jetzt fühlte ich mich frischer und hatte einen Riesenhunger. Den Tag verbrachte ich auf einer Liege mit einem Buch auf dem Balkon. Es war tolles Wetter. Ab und zu stand ich auf, um mir etwas zu Essen oder Trinken zu holen. Irgendwann rief Julia an: „Bist du zu Hause?“

„Was für eine blöde Frage. Wir telefonieren doch gerade?“

„Ich komme gleich zu dir. Ist das in Ordnung?“

„Ja, komm nur. Habe nichts weiter vor.“ Ich freute mich auf sie. Mädels-Treff, unübertrefflich!

Meine Eroberung im Eishaus war Thema Nummer eins. Dabei geriet ich so richtig ins Schwärmen. Julia folgte gespannt meinen Ausführungen, stellte Fragen und fand, dass das nach Wiederholung schrie.

Wir tranken Rotwein und aßen Salzstangen. Der Rotwein schmeckte so wie Cola rot. Julia nahm die Flasche in die Hand und las das Etikett. Ist ein guter Tropfen“, bemerkte sie. Es war einfach nur super. So ein Mädels-Abend tat uns Frauen von Zeit zu Zeit gut. Niemand von uns wollte den Abend frühzeitig beenden. Wir kamen vom Hundertsten ins Tausende, erzählten einander so manches, darunter auch ein Witz, den Julia vor Tagen gehört hatte:

„Kennst du schon den?“ – Sie war ganz in ihrem Element. –

„Ein Elch geht durch den Wald und brüstet sich mit seinem stolzen Geweih. „Ich bin der Größte und Stärkste hier im Wald„. Immer wieder röhrt er und stolziert wie ein Stier in der Arena umher. Bei einem kleinen Teich angekommen, bekommt er großen Durst und leert den Teich mit einem Zug, putzt die Schnauze am Bein ab und wirft sich wieder in die Brust. „Ich bin der Größte und Stärkste hier im Wald“. Da kommt von hinten ein riesiger Bär und klopft ihm auf die Schulter. „Was haschde gesaat, mein Freund?“ Der Elch duckt sich erschrocken: „Ach, was ma halt so saat, wenn ma was gesoffe hat.“

Julia bog sich vor Lachen. Das war ansteckend. Wir lachten wie die Irren, dank des Weines. Es war an der Zeit für Julia zu gehen. Auch der schönste Abend endete einmal, vor allem, wenn morgens wieder die Arbeit rief.

„Danke für den netten Abend. Das sollten wir eigentlich viel öfter machen. Du und ich. Ich bin der Stärkste im Wald“, sagte sie und fing schon wieder an, kindisch zu lachen.

„Saukomisch. Jetzt lass es mal gut sein. Muss morgen früh raus. Du nicht?“ Schmunzelnd schob ich sie zur Tür. Sie machte sich auf den Heimweg, und ich ging ins Bad.

Ich schlief relativ schnell ein, und was ich in dieser Nacht träumte, sollte mein Geheimnis bleiben!

 

Kapitel III

 

Es geschah vor fünf Jahren im Haus von Paul.

Damals fand Emma, Pauls Ersatzmutter und gleichzeitig die Haushälterin, es durch Zufall beim Staubwischen, gut versteckt im großen Bücherregal zwischen Fachbüchern und Reiseberichten.

Das T A G E B U C H von Paul. So stand es jedenfalls auf dem Buchrücken geschrieben.

Von Natur aus neugierig, konnte sie nicht widerstehen. Also zog sie es heraus und staubte es ab. Sie hätte es eigentlich direkt wieder wegstellen sollen – aber ihre Neugier ließ ihr keine Wahl. Sie ließ sich in einen großen Sessel fallen, drehte das Büchlein noch ein paar Mal mit schlechtem Gewissen in den Händen. „Was soll´s. Sieht mich ja keiner“, war wohl so ein Teufelsgedanke. Das hätte sie vielleicht doch besser nicht tun sollen. Kleine Sünden bestrafte der Herr sofort! Manche Passagen entlockten ihr einen Schauer, der ihr kalt über den Rücken lief. Verschiedene Textstellen musste sie mehrmals lesen, um den Inhalt zu verstehen. Teilweise war ihr unheimlich:

– Heute habe ich Samuel aus Schweden kennengelernt. Ein toller Kerl, Hat ebenso wie ich Neurologie/Psychiatrie studiert, allerdings in kürzester Zeit. Erstaunlich! Wie hoch mag sein Intelligenzquotient sein? Bei einem Schamanen hat er auch noch dazugelernt. Faszinierend. Ob wir Freunde werden können?

– „Der „Old man“ ist mir irgendwie unheimlich, und suspekt. Ein Heiler und Magier. Scheint, trotz seiner germanischen Abstammung, ein Anführer dieser Afrikaner zu sein. Ich weiß nicht so recht und halte mich so gut es geht von ihm fern. Samuel dagegen glaubt, dass er von Gregor viel lernen könne. Hoffentlich geht das gut?“

– „Heute war Samuel ganz außer sich. Die Riten und Sprüche kosten ihn viel Kraft. Trotzdem will er sie erlernen und sie mir später beibringen. Das macht uns besser und stärker, davon ist er überzeugt. Einiges davon verstehe ich noch nicht, aber ich merke, dass mein Geist freier wird.“

– „Wir haben heute ungefähr fünf Stunden geübt. Die Trance fällt mir immer leichter. Samuel ist wirklich ein Meister. Er hat Emaralt gefunden. Ein freier Geist, uralt. Unglaublich!“

Es standen noch mehrere solche Zeilen geschrieben. Emma schwirrte der Kopf. „Dass es so etwas gibt?“ Laut redete sie vor sich hin und schüttelte den Kopf.

Sie hätte nicht in dem Buch lesen sollen. Ein Drink sollte ihr dies erleichtern, also stand sie auf, vergewisserte sich, dass sie immer noch alleine war, genehmigte sich einen Cognac und griff wieder nach dem Tagebuch.

Wie gebannt las sie weiter:

– „Samuel musste sich heute einem Reinigungsritual unterziehen, saß dazu tagelang in einem Zelt mit einer Feuerstelle aus Steinen und Lehm. Der Qualm des Feuers vernebelte ihm die Sinne. Musste Hühnerblut trinken, fand es eklig. Musste sich seinen Körper mit Farbe und Symbolen bemalen. Wir haben gemeinsam den Ausstieg geplant. Es wird uns langsam zu heiß hier. Gregor will mich mit seiner Tochter verkuppeln. Mit der stimmt was nicht. Habe ein ungutes Gefühl.“

Es schüttelte sie bei diesem Text. Armer Samuel, armer Paul. Sie trank erneut einen Schluck Cognac:

– „Letzte Nacht hat Samuel fürchterlich geschrien. Ich war so erschrocken. Er konnte sich an den Gestank von geronnenem Blut erinnern und an diese elende Hitze um ihn herum. Den Geruch von verbranntem Holz und den Geschmack von Erde und mittendrin Gregor, nackt, und mit Ockerfarbe und Blut bemalt. Die dumpfen Klänge von Trommeln, die in seinen Ohren dröhnten. Das monotone Stampfen von Füßen, und die schrillen Schreie der Tanzenden hallten in seinem Kopf.“

Das Szenario im Kopf sich bildlich vorzustellen erschauerte Emma:

– „Morgen werden wir verschwinden. Samuel konnte sich durchsetzen. Gregor kann ihn nicht mehr aufhalten. Mich auch nicht. Will nur noch nach Hause. Samuel bleibt in Kapstadt. Wir haben einander ewige Freundschaft geschworen und bleiben in Kontakt. Hoffe, alles wird gut.“

Emma blieb an einem der letzten Sätze hängen:

– „Ich darf mich niemals nach zehn Uhr abends im Freien aufhalten, sonst ereilt mich der Fluch.“ Das hatte Paul mit Textmarker markiert.

Welcher Fluch? Jetzt bereute Emma, dass sie das Buch genommen hatte. Was hatte es damit auf sich? Paul hatte das nie erwähnt, mit keiner Silbe.

Sie konnte es nicht begreifen. Als Heilerin hatte auch sie manchmal Visionen, aber so etwas war ihr suspekt. Es musste ein Geheimnis bleiben – so viel war sicher. Niemand durfte je erfahren, dass sie es gelesen hatte. Vor allem nicht Paul. Der würde ihr das nie verzeihen. Sie stellte das Tagebuch wieder an seinen ursprünglichen Platz, in der Hoffnung, dass es nicht weiter auffallen würde. Ihre Gedanken kreisten jedoch noch tagelang um dieses Buch und seinen Inhalt. Mit der Zeit vergaß sie den Inhalt des Tagesbuches wieder.

 

Kapitel IV

 

Mein Wecker rief mich aus einer traumlosen Nacht zurück in den neuen Tag. Sieben Uhr. Zeit zum Aufstehen und ab ins Bad. Nach meiner morgendlichen Prozedur, die routinemäßig ablief, warf ich einen letzten Blick in den Spiegel. Mein glückliches Gesicht, die strahlenden Augen und das kleine Lächeln auf den Lippen verhießen mir einen guten Tag. Als Naturschönheit musste ich nicht so viel Aufwand betreiben, um mein Äußeres zu renovieren. Zum Frühstücken blieb mir noch genügend Zeit. Danach ab zur Arbeit. „Heute werde ich mir für den kommenden Tag überstundenfrei nehmen. Dienstag ist mein großer Tag. Mein Vorstellungsgespräch“, redete ich laut vor mich hin, während ich das Haus verließ. Meinen Tag verbrachte ich mit Telefonieren und Ablage. Ab und zu kamen Besucher für die Intensivstation. Diese mussten durch mein Büro, da es meine Aufgabe war, sie einzuweisen und dafür zu sorgen, dass sie die Schutzkleidung anlegten, bevor sie die Station betraten. Nach der Mittagspause und drei weiteren Stunden Arbeit hatte ich endlich Feierabend. Auf dem Flur begegnete mir noch unser neuer Oberarzt, Dr. Kalkofen: „Hallo Frau Neu. Könnten Sie mir noch die Unterlagen von Herrn Müller geben? Er sitzt oben bei mir im Büro und hätte gerne seinen Befund.“

Ich atmete leise tief ein und antwortete wie sich das gehörte: „Natürlich, kommen Sie gleich mit. Es dauert nur zwei Minuten.“

Wie versprochen hatte der Oberarzt nach kurzer Zeit seinen Befund und ich meine Ruhe.

Jetzt aber nichts wie los, bevor noch jemand etwas von mir will.“ Ich wollte doch noch zum Friseur, um meine Haare bändigen zu lassen. Zweiunddreißig Euro war ein teurer Spaß für so ein bisschen Schneiden und Föhnen. Aber was tat man nicht alles, um gut auszusehen? Wieder zu Hause machte ich mir etwas Schnelles zum Essen. Das Salatdressing spritzte mir auf meine Hose. Umziehen war angesagt. Warum dann nicht auch gleich duschen, ich war sowieso verschwitzt. „Hoffentlich halten meine Haare!“ So, jetzt konnte nichts mehr passieren! Ich nahm meine Schüssel mit Salat und verzog mich aufs Sofa. Draußen begann es schon zu dämmern. Der Himmel zog sich zu. Vielleicht gab es heute mal Regen? Die Erde hatte es dringend notwendig. Vorsichtshalber ließ ich schon mal die Fensterläden herunter, außerdem war ich doch etwas ängstlich veranlagt, und Einbrecher lauerten schließlich überall, man musste nur oft genug die Tagesnachrichten hören. Endlich essen. Jetzt wurde es aber auch Zeit! Nach drei bis vier Gabeln Salat und einem Blick in die Fernsehzeitung schnappte ich mir die Fernbedienung: Es kam ein Krimi. Dann mal ab zur geistigen Mördersuche. Schaurig schön! So mit vollem Bauch wurde ich doch allmählich müde. Es reichte gerade noch, um die Stehlampe auszuknipsen, dann schlief ich auf dem Sofa ein. Ich hatte einen seltsamen Traum:

Paul holte mich mit seinem Auto an der Haustür ab und fuhr mit mir an den Bostalsee. Wir wanderten und setzten uns irgendwo auf die Wiese. Picknick und tiefe Blicke. Dann … Paul im Wasser und ein Ring.

Ich wunderte mich im Traum. Alles schwarz – Nur diese Leere – Dann lange nichts. Der Traum hatte irgendwie aufgehört. Ich schlief. Oder etwa nicht?

Ich zu hören, wie meine Wohnungstür geöffnet wurde. Leises Flüstern. Ich verstand kein Wort – so sehr ich mich auch darauf konzentrierte. Unheimlich! Die Schritte kamen immer näher. „Jetzt totstellen, dann passiert dir nichts“, war mein erster Gedanke. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Ich konnte kaum noch Luft holen. Wo war ein Loch? Wohin konnte ich verschwinden?

Panik ergriff mich, und dann sah ich, wie eine Person den Kopf durch die Zimmertür streckte. Jedenfalls glaubte ich, es zu sehen? Ich wollte schreien, aber der Schrei blieb mir im Hals stecken und noch mal schreien, ganz laut. . . Uuuuhaaahhh!

Bums! Wach!

Der Fernseher lief noch immer. Ansonsten war es dunkel im Raum. Kurz holte ich tief Luft und suchte den Lichtschalter, drückte ihn, und es wurde hell. Zu hell für den Moment. Alles nur ein böser Traum, wie kam man auf so einen Mist? Ich war zu aufgeregt, um ins Bett zu gehen und beschloss, zur Beruhigung einen Schnaps zu trinken. Mit meinen Hausschuhen an den Füßen schüttelte ich mich noch einmal, bewaffnete mich mit einem Rindsknüppel, der immer neben meinem Sofa lag und machte mich mutig auf den Weg zum Wohnzimmerschrank. Meine Auswahl an Schnaps war enorm. Eierlikör oder Anisschnaps? Ein großes Schnapsglas voll Anisschnaps sollte wohl reichen. Wie Öl lief er durch meine Kehle und brannte dann wie Feuer. Aber ich war ja kein Schwächling und zum besseren Schlafen gleich noch einen. Wie erwartet, stellte sich nach kurzer Zeit die Wirkung ein. Mutig und leicht schwindlig trat ich den Rückzug in mein Bett an. Licht aus und weg war ich.

Dienstag. Endlich war es so weit.

Was mich erwarten würde, wusste ich ja noch nicht und so schritt ich frohgelaunt zur Tat. Duschen, cremen, schminken, anziehen. Jeans, das weiße T-Shirt, dazu die schwarze Nadelstreifenjacke. Schwarze Pumps. Genau wie vor fünf Tagen beschlossen. Perfekt!

Meine Haare waren auch noch ganz passabel trotz der unruhigen Nacht. Heute stärkte ich mich ganz besonders beim Frühstück. Zwei Scheiben Brot, selbstgemachte Erdbeermarmelade, Nussnougatcreme und saure Gurken. Nein! Ich war ja nicht schwanger! Eine Tasse Kaffee. – Die Aufregung schlug mir auf den Magen. …. Kurz darauf hatte sich mein Magen wieder beruhigt. Ich suchte meine ausgedruckte Einladung – Ah ja, hier: Berliner Promenade. Das war gleich hinter dem UT-Kino. Schon acht Uhr vorbei – also noch genügend Zeit. „Das schaffe ich locker.“

Rechtzeitig stand ich vor dem Haus. Wie hätte es auch anders sein können. Ich war von Natur aus ein sehr pünktlicher Mensch. Ein Blick in das Schaufenster vor mir zeigte, dass noch alles in Ordnung war. Ich holte noch einmal tief Luft, befeuchtete meine Zeigefinger mit Spucke und fuhr mir sicherheitshalber über meine Augenbrauen, zupfte noch einmal an meiner Jacke und betrat den Aufzug. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn.

„Praxis Neurologe Dr. med. Liebknecht – 3.Stock“, stand auf dem kleinen Schild neben den Etagen-Knöpfen. Ich drückte und wünschte mir Glück.

„Bitte ohne zu Klingeln eintreten“, zierte die moderne gläserne Eingangstür. Ich drückte dagegen – Die Tür öffnete sich lautlos. Eine supermoderne Rezeption, in gelb und grün gehalten, fiel mir direkt ins Auge. Ich sah mich kurz um und ging zielstrebig auf die Dame hinter der Empfangstheke zu:

„Hallo, ich bin Dana Neu. Ich habe einen Termin mit Herrn Dr. Liebknecht.“

Die etwas ältere Dame musterte mich von oben bis unten: „Kommen Sie bitte mit. Der Doktor erwartet Sie schon.“

Schwungvoll kam sie hinter der Empfangstheke hervor, um mit festen Schritten eine im hinteren Bereich der Praxis gelegene Tür anzusteuern. Sie klopfte zweimal kurz und öffnete, ohne eine Antwort abzuwarten, die Tür: „Herr Doktor, Frau Neu ist jetzt da.“

Ein wenig kurz angebunden, meine Liebe“, dachte ich mir.

„Schicken Sie sie herein und bitte in der nächsten halben Stunde nicht mehr stören. Danke, das ist dann alles“, erklang eine irgendwie vertraute Stimme. Sie trat zur Seite und gab mir den Weg frei: „Bitte schön.“ Dann verschwand sie.

In einem hellen Zimmer, spartanisch mit Kiefernholzmöbeln und einem grünen Teppich ausgestattet, der beruhigend auf mich wirkte, blieb ich vor dem Schreibtisch stehen. Nach kurzer Orientierung blieben meine Augen an dem Rücken eines groß gewachsenen Mannes hängen.

„Bitte nehmen Sie Platz. Ich habe gleich Zeit für Sie.“

„Danke.“ Aufgeregt nahm ich in einen Clubsessel mit Blütenmuster Platz. Erneut bildeten sich kleine Schweißperlen auf meiner Stirn. Mir war beängstigend warm geworden. Kurz darauf drehte sich der Mann um. Vor Schreck wurde mir ganz schwindlig. Ich wusste gar nicht, wo ich zuerst hinsehen sollte.

– In die grünen Augen – oder – auf den zum Lachen geöffneten Mund – oder – diesen wunderbaren Körper. „Hallo, Paul“, brachte ich gerade noch so zustande.

„Hallo, Dana“, war alles, was er sagte, kurz und knapp. Wir schwiegen beide für einen Augenblick. Er betrachtete mich von Kopf bis Fuß, pfiff leise durch die Zähne und bemerkte: „Du hast eine neue Frisur?“

„Gefällt sie dir?“ Demonstrativ wuschelte ich mit meinen Fingern durch die Haare.

„Geht so! Dein Strubbellook gefiel mir besser.“

Wieder Schweigen.

„Ähm! Wie bist du auf mich gekommen?“

Es kam mir komisch vor, dass ausgerechnet er mein neuer Arbeitgeber sein sollte. Amüsiert zupfte Paul an seiner Oberlippe:

„Dazu muss ich ein wenig ausholen. Es ist nicht so leicht zu erklären.“

Sich nervös räuspernd sprach er dann weiter:

„In der Zeitung habe ich deine Anzeige gelesen, und die hat etwas in mir ausgelöst.“

„Aha!“, war alles, was ich dazu sagen konnte.

„Plötzlich habe ich dich gesehen. Es war so echt.“

Wieder zupfte er an seiner Oberlippe.

Schweigen.

„Wie? Du hast mich gesehen. Wo?“

Ungläubig suchte ich seine Augen. „Nein; lass das, das macht dich nur noch wuseliger“, ich sah mich verlegen im Zimmer um.

„Zuerst in meinem Kopf und später dann im Eishaus.“ Er lächelte verschmitzt.

„Ach so, in deinem Kopf. Dann ist es ja gut.“

Ich dachte „der spinnt“, schmunzelte und fragte mich, wie so etwas sein konnte?

„Meine Anzeige im Wochenspiegel hat das also ausgelöst?“

„Das kann man so sagen“, Paul schien überzeugt von dem, was er sagte: „Als ich die Anzeige gelesen hatte, habe ich dich in meinem Kopf gesehen. Ich wusste mit einem Mal, wer du bist. Deshalb habe ich dir gleich eine Einladung geschickt. Bis Dienstag hat es mir dann aber doch zu lange gedauert, und so habe ich versucht; mich mit der Kraft meiner Gedanken und meiner Gabe in deine Gedanken einzuloggen, um herauszufinden, was du so alles vorhast.“

„Ah ja!“ Mir fiel momentan nichts Besseres ein, dafür war ich viel zu perplex. Aber ich konnte ihm folgen: „Und da hast du dann auch gesehen, dass ich ins Eishaus gehen will?“, ungläubig sah ich Paul an. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch mir gegenüber. Jetzt lachte er ganz offen, legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. Senkte den Kopf wieder und sah mich erneut an:

„Du kannst dir das nicht vorstellen, oder?“

„Wenn ich ehrlich bin – nicht wirklich.“ Ich schüttelte den Kopf.

„Aber du weißt, dass ich Neurologe und Psychiater bin. Ja?“

„Ja! Und weiter?“ Was sollte das jetzt wieder? Wartete er darauf, dass ich davon ausging, dass alle Psychologen selbst auch verrückt seien?

Kurzes Schweigen.

Meine Augen hielten den seinen stand, und Paul sprach selbstsicher weiter:

„Nun, ich hatte während meiner Ausbildung viele Gelegenheiten, ins Ausland zu gehen. Bei einer meiner Exkursionen traf ich auf einen wunderbaren Freund, der mich diese Techniken gelehrt hat.“

Immer noch ungläubig ließ ich meine Blicke durch das Zimmer wandern. An einem Bild, es zeigte zwei Männer mit Tropenhelmen und weißen Leinenanzügen vor Strohhütten, blieb mein Blick hängen. „Darf ich?“ Ich zeigte auf das Bild und erhob mich.

„Nur zu, tu dir keinen Zwang an.“

Einfach, um etwas zu tun, stand ich auf und schlenderte auf das Bild zu. Davor blieb ich stehen und betrachtete es mir genauer. „Das bist du?“

Paul stand auf, kam zu mir herüber und stellte sich direkt hinter mich. Ich konnte sein Rasierwasser riechen und schloss für einen kurzen Moment die Augen. Paul hüstelte. „Ja, das bin ich, und das ist Samuel.“

„Wer ist Samuel?“, fragte ich und drehte mich zu Paul um. „Mein Freund, ein Schamane“, antwortete er knapp.

In diesem Moment hatte ich tausend Schmetterlinge im Bauch und dachte: „Jetzt küsst er mich.“ Weit gefehlt! Wie dumm von mir. Er stupste mir nur mit dem Zeigefinger auf die Nase, drehte sich um und setzte sich wieder. Ich zuckte verlegen die Schultern und ging ebenfalls wieder zu meinem Sessel zurück.

„So und jetzt?“ Die Luft hörbar einziehend ließ ich mich einfach darauf plumpsen. Schon wieder dieser geniale Geruch.

„Ja, und jetzt?“ Paul machte eine Pause, „Jetzt kommen wir mal zu dir und deinem Inserat.“

„Ich habe inseriert, dass ich eine neue Herausforderung suche, verbunden mit einem neuen Arbeitsplatz und angemessenem Gehalt. Du hast es gelesen?“

„Erzähl mir mal, was du bisher gemacht hast.“ Er schmunzelte schon wieder!

„Ich arbeite zurzeit auf der Intensivstation der Städtischen Kliniken Winterberg als Sekretärin und Mädchen für alles“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

Paul beugte sich über den Tisch zu mir und sah mir tief in die Augen: „Kannst du dir vorstellen, für mich zu arbeiten?“

Meine Nervosität ließ augenblicklich nach. „Wenn die Bezahlung stimmt.“, antwortete ich schlagfertig und zwinkerte ihm dabei zu: „Nein, jetzt mal im Ernst. Was denkst du, soll ich bei dir machen?“

„Also fürs Erste, dachte ich, könntest du meine Privatsekretärin werden. Wäre das für dich in Ordnung?“ Er zwinkerte mir auch zu.

Mein Herz hüpfte – polterte – stürzte ab?

Mit rotem Kopf überlegte ich kurz und betrachtete mir zwischenzeitlich sein Gesicht. Ebenmäßige Gesichtszüge, leicht gebräunte Haut, gut rasiert und gepflegt…

„Dana? Hallo!“

So aus meinen Gedanken gerissen musste ich mich erst kurz sammeln.

„Ja, ich glaube, das würde gehen.“

„Was würde gehen?“ Jetzt war Paul anscheinend irritiert.

„Ich könnte schon deine Privatsekretärin werden, aber dazu muss ich erst meine Kündigungszeit abwarten. Das dauert noch ungefähr drei Monate. Weißt du, dein Angebot kam doch viel schneller als ich erwartet hatte.“

„Was? Drei Monate? Das geht auch kürzer“, meinte Paul und griff den Telefonhörer, wählte eine Nummer und sprach mit seiner Vorzimmerdame.

Ich versank in Gedanken und hörte nicht mehr zu. Privatsekretärin von diesem wunderbaren Mann. Geht’s noch? Siebter Himmel oder so ähnlich. Ich malte mir aus, wie das sein könnte und sah wundervolle Bilder in meinem Inneren. Erschrocken zuckte ich zusammen, als sich die Tür öffnete und Frau Schmidt, wie Paul sie anredete, eintrat und ihm ein Schreiben gab. Ich sah ihn an und wartete ab, was jetzt passieren würde. Er überflog das Schreiben, unterzeichnete es, steckte es in einen Umschlag, den er verschloss und reichte ihn mir:

„So, Dana, das hier ist ein Schreiben für deinen Chef. Das legst du ihm vor und machst dabei ein trauriges Gesicht. Und wir sehen uns dann am nächsten Wochenende. Ich hole dich am Samstag, sagen wir, so gegen zwei Uhr ab, dann können wir alles Weitere besprechen.“

Er lächelte zufrieden und gab mir das Schreiben.

Zu gerne hätte ich gewusst, was er geschrieben hatte und fingerte an dem Kuvert herum.

„Nicht öffnen. Zulassen und deinem Chef geben. Ist das klar?“

Diese Aussage war eindeutig.

„Wie meinst du denn das?“ Ich hielt den Umschlag in der Hand und konnte es nicht fassen.

„Dana, vertrau mir, nicht fragen, einfach machen. Es wird alles gut. So, und jetzt geh bitte, ich muss mich wieder um meine Patienten kümmern.“ Kleine Lachfältchen bildeten sich um seine Augen.

Er stand auf, drückte mir liebevoll die Hand und stupste mir mit dem Zeigefinger wieder an die Nasenspitze und schob mich sacht aus der Tür auf den Flur. Tür zu – fertig!

Etwas verdattert stand ich vor der verschlossenen Tür, den Umschlag in der linken Hand und ein seltsames Gefühl im Bauch.

 

Kapitel V

 

Am nächsten Tag erwachte ich schon vor dem Klingeln des Weckers. Die Sonne schien durchs Fenster und ließ mich einen schönen Tag erwarten. Sechs Uhr dreißig, Wecker aus. Viel zu früh. Aber ich war gar nicht mehr müde. Ich überlegte kurz, ob ich mich noch an meinen Traum der letzten Nacht erinnerte? Nein, kein blasser Schimmer. Die Flut an Informationen und alles, was ich davon nicht realisieren konnte, hatte mich wohl vollends umgehauen. Ich zuckte mit den Schultern und ging zum Fenster. Zog den halb heruntergelassenen Rollladen hoch und blickte in den Garten. Jetzt war es noch etwas kühler – so früh morgens. Beim Fensteröffnen sog ich die erfrischende Luft ein. Nach der morgendlichen Toilette und einem anschließenden ausgiebigen Frühstück war es an der Zeit, mich wieder einmal auf den Weg zur Arbeit zu machen. Eigentlich hätte ich einem Fremden gegenüber nicht so vertrauensselig sein dürfen. Keine Ahnung, wieso ich es doch war! Ich hatte komischerweise keinen Gedanken mehr daran verschwendet, ob Paul gut für mich war oder nicht. Mein inneres Ich war vollkommen überzeugt von dem, was ich da tat. In meiner Tasche trug ich den immer noch verschlossenen Umschlag. Natürlich war ich neugierig auf seinen Inhalt, brachte es aber nicht fertig, den Brief zu öffnen. „Egal, es wird schon seine Richtigkeit haben“, beruhigte ich mich selbst und stieg ins Auto. Mein Gewissen meldete sich nun doch. Den ganzen Vormittag überlegte ich hin und her: „Soll ich, soll ich nicht?“ „Jetzt oder lieber doch später?“ Ein Blick auf die große Wanduhr in meinem Büro ließ kein weiteres Zögern mehr zu. „Jetzt!“ Ich machte mich auf den Weg in den zweiten Stock, direkt in das Vorzimmer von Professor Dr. Dr. Wolf.

„Hallo, ist der Chef da?“, begrüßte ich die Sekretärin.

„Ja, geh nur hinein.“ Ich klopfte zaghaft an die Tür.

„Ja, bitte“, rief es aus dem Zimmer.

Sammeln, trauriges Gesicht machen, eintreten.

„Hallo, Chef. Haben Sie einen Moment Zeit?“

„Ja, komm nur rein, mein Kind.“

Mein Chef war ein überaus freundlicher älterer Herr.

Ich reichte ihm den verschlossenen Umschlag und wartete. Etwas verwundert nahm er ihn, dabei musterte er mich eindringlich, indem er den Kopf leicht seitwärts neigte. Ohne ein weiteres Wort öffnete er den Brief, las, schaute mich an, las, schüttelte den Kopf, las wieder.