image

HERBERT STORN

BUSINESS CRIME –
SKANDALE MIT SYSTEM

Über Konzernverbrechen, kriminelle Ökonomie
und halbierte Demokratie

image

Anlässlich der BCC-Gründung vor 30 Jahren, am 22.03.1991

Herbert Storn

www.buechner-verlag.de

Inhalt

Einleitung

30 Jahre Business Crime Control (BCC)

1.Kontroll- und Steuerungsverlust in Krisenzeiten

2.Ein Blick auf die Schäden von Wirtschaftskriminalität – ›Peanuts‹?

Abfälle

Versalzung von Flüssen, Flächen und Trinkwasser – die Rolle von Unternehmen und Staat

Geldwäsche und kriminelle Immobilienwirtschaft – ein etwas anderer Schadensvergleich

Cum-Ex/Cum-Cum – ein Stück aus dem Tollhaus

Kriminelle Lieferketten – zurück in die Sklaverei?

»Die Betroffenen bleiben angstvoll stumm und wagen nicht, vor Gericht zu gehen… « – Das verbogene Arbeitsrecht

Zwischenfazit

3.Das Kapital strebt nach eigenem Recht: die inhärente Kriminalitätsaffinität

Wenn Kapital zum Fluchtkapital wird …

Die Übergänge zwischen der kriminellen und der legalen Wirtschaft sind fließend

Geldwäsche

Das Beispiel Wirecard

4.Halbierte Demokratie, halbierter Rechtsstaat

Unternehmen treten in den verschiedensten Rollen auf – das potenziert ihren Einfluss noch

Davos-Gipfel 2021

Systemrelevante Großkonzerne – mächtiger als Staaten

Die Corona-Lockdowns haben den ›Big Four aus den USA‹ Riesengewinne gebracht

Der spezielle Machtzuwachs des Finanzsektors

BlackRock ist mehr als ein schwarzer Fels

Die Deregulierung begünstigt die Finanzgeschäfte

Der ungeheure Geldkapitaldruck ist rechtlich kaum abzufangen und erfordert eine umfassende Regulierung

Die Steuerungsmechanismen werden zum Problem für den Rechtsstaat

5.Auch die halbierte Demokratie ist eher Fiktion als Realität

Die extreme Reichtumskonzentration befördert die weitere Oligarchisierung der Gesellschaft

Aus Krisen gehen die führenden Eliten der Gesellschaft reicher und mit mehr Einfluss hervor

Die Reichtums-Debatte ist keine Neid-Debatte! Sie ist eng mit der Demokratiefrage verknüpft

Unsere Oligarchie lebt in einer eigenen Blase

Freistellung von grober Fahrlässigkeit

Exkurs über ›Verschwörungstheorie‹

6.Ohne Regulierung weder Demokratie noch Rechtsstaat – neue Denkansätze werden lauter

›Wirtschaftsdemokratie wagen‹

›Bauen wir Demokratie‹

Das Kapital muss nach ethischen Prinzipen reguliert werden

Demokratische Rechte sind mehr als ›Mitbestimmung‹, erst recht mehr als ›Partizipation‹

Transparenz klingt bescheiden – ist aber ein hohes Gut

Kriminalpräventive Mitbestimmung

7.Flankierende Maßnahmen für Demokratie und Rechtsstaat

Sind Schutz des Eigentums und seine Sozialpflichtigkeit kompatibel?

Privatisierung vergrößert die Reichweite der kriminellen Ökonomie

Privatisierung der Beratung

Die öffentliche Hand stärken, anstatt die unsichtbare Hand (invisible hand) des Marktes!

Ausweitung der Gemeingüter und ihrer Finanzierung

Wo bleibt die Sozialpflichtigkeit des Eigentums?

›Neustart‹ nach Corona-Lockdown? Vorsicht: der falsche Begriff!

Doppelstandards und Demokratie

8.Brauchen wir Katastrophen, damit sich etwas zum Positiven ändert?

Rückblende: Fukushima – Tschernobyl – Harrisburg

Faschismus, zweiter Weltkrieg und Ahlener Programm der CDU

Weitere Katastrophen und daraus gezogene politische Schlussfolgerungen

Selbstvernichtung scheibchenweise? Kriege und Rüstung als profitable Kapitalverwertung

Nachwort

Interview mit Prof. Hans See

Anmerkungen

Einleitung

»Dreckige Geschäfte – Höchste Zeit für ein hartes Durchgreifen gegen Finanzkriminalität« (FR)

»Fleischbranche – Großrazzia wegen illegaler Leiharbeit« (manager magazin)

»Banken weltweit, darunter auch die Deutsche Bank und die Commerzbank, waren in den vergangenen Jahren in großem Stil in Geldwäsche involviert«

»Mächtig unkontrolliert – die deutsche Finanzlobby« (der Freitag)

»Wenn die Miete auf den Cayman Islands landet: Die Wohnungslage in den Großstädten wird immer angespannter, auch wegen Großinvestoren. Die rechnen sich laut einer Studie nicht selten arm – und zahlen kaum Steuern (SZ)

»Geldwäsche: Nix sehen, nix hören, nix sagen – Auch schmutziges Geld sorgt für gute Geschäfte« (Zeit)

»25 Tote durch Wilke-Wurst? Skandal weitet sich wohl dramatisch aus – Staatsanwaltschaft ermittelt« (Merkur)

»Markus Braun bleibt im Gefängnis – Der unter Betrugsverdacht stehende ehemalige Wirecard-Chef muss weiter im Gefängnis bleiben« (FAZ)

»Werraversalzung: Ein Krimi aus der Hand eines Staatsanwalts« (FR)

»Kali + Salz: Verfahren zwar eingestellt, aber in der Begründung erhebt die Staatsanwaltschaft schwere Vorwürfe« (Hessenschau)

So lauten nur einige Headlines von Herbst 2020 bis zum Frühjahr 2021. Kriminelle Praktiken in der Wirtschaft tauchen fast ohne Unterbrechung in den Medien auf. Alles Einzelfälle, alles nur ›Skandale‹?

Oder offenbaren solche Vorgänge eine tieferliegende kriminelle Struktur? Und gehört diese Struktur dann zu unserer Wirtschaftsordnung oder ist sie eine Art Fremdkörper, der vom Rechtsstaat zu bekämpfen ist? Oder beides?

Wie kommt es, dass der Staat so oft als Kontrollinstanz versagt?

Oder versagt er gar nicht, weil er nicht alles kontrollieren will?

Oder werden die kriminellen Praktiken vielleicht sogar in Kauf genommen, weil die Vorteile überwiegen? Welche Vorteile? Für wen?

Und wie können Linke für diese Frage gewonnen werden, wenn sie ohnehin davon ausgehen, dass es das kapitalistische System ist, das von der Ausbeutung menschlicher Arbeit (und der Natur) lebt? Dem man also seine kriminelle Affinität gar nicht mehr nachweisen muss, so dass dann erst die Überwindung des kapitalistischen Systems eine Lösung verheißt. All diesen Aufgaben und Problemen soll im Folgenden nachgegangen werden.

Anlass ist das 30-jährige Bestehen von Business Crime Control, eine Organisation, die sich diesen Fragen gestellt hat.

Es kann mithin auf eine langjährige Expertise zurückgegriffen werden. Und es sind beileibe nicht nur theoretische Überlegungen. Denn im Raum stehen die wesentlichen Grundfragen: Haben wir (noch) einen Rechtsstaat, der seinen Namen auch verdient? Sind wir vor Willkür geschützt? Geht es gerecht zu?

Dies sind existentielle Fragen, denn sie berühren Grundbedürfnisse des Menschen.

30 Jahre Business Crime Control (BCC)

Hans See ist diesen Fragen nach dem Systemcharakter von Wirtschaftskriminalität und ihrer strukturellen Überwindung sehr gründlich nachgegangen – sowohl theoretisch als auch praktisch-politisch, Letzteres durch die Gründung von Business Crime Control am 22. März 1991 in Hanau.

Das 30-jährige Jubiläum ist ein guter Anlass, die Überlegungen von damals, die zur Gründung von BCC führten, mit der zwischenzeitlichen Entwicklung abzugleichen und den Anspruch zu erneuern, Wirtschaftskriminalität aus ihrer randständigen Betrachtung herauszuholen und sie nicht mit Einzelgesetzen, sondern einem wirtschaftsdemokratischen Reformkonzept wirklich und ernsthaft zu überwinden. Diesen Anspruch hat auch dieses Buch.

Dazu wird an markanten, auch in der breiten Öffentlichkeit diskutierten Beispielen der Systemcharakter herausgearbeitet, der in eben dieser Öffentlichkeit meist aber ausgeblendet wird. Ähnliches gilt für die Schäden, die weit über solche hinausgehen, die mit einem Geldbetrag zu beziffern sind. Sie reichen von der Schädigung der Umweltstruktur bis hin zur Beschädigung von sozialem Zusammenhalt und Demokratie.

Das Buch nimmt den Begriff der ›halbierten Demokratie‹ auf und dehnt diesen auf den Rechtsstaat aus, der Gefahr läuft, zunehmend einzelwirtschaftlichen Interessen unterworfen zu werden.

Weil Analysen allein nicht weiterhelfen, werden Lösungsvorschläge in Form von Weichenstellungen vorgestellt, die dazu dienen sollten, in öffentlichen kritischen Diskursen erörtert zu werden. Solange diese von der Politik gemieden werden, brauchen wir uns über Populismus und Schlimmeres nicht zu wundern. Es wäre aber geradezu fatal, wenn immer erst Katastrophen uns zu besseren Einsichten führen müssten.

Wie aktuell die vorgetragenen Argumente sind, zeigt nicht zuletzt das Interview mit Hans See am Ende des Buches, in dem die letzten 30 Jahre noch einmal Revue passieren und die Botschaft erneuert wird.

Hans See, ehemaliger Professor an der Fachhochschule Frankfurt am Main hat seit Anfang der 80er Jahre das klassische Analyseschema der antikapitalistischen Linken kritisch hinterfragt und sich dem von der Linken insgesamt vernachlässigten Problem der Wirtschaftskriminalität zugewandt. Als sein in dieser Zeit verfasstes Buch KAPITAL-VERBRECHEN kurz vor seinem Abschluss stand, brach die DDR unter dem Druck einer starken Protestbewegung zusammen. Daher konnte in dieses Buch auch noch ein Kapitel über die Wirtschaftskriminalität im real existierenden Sozialismus eingefügt werden.

Kurz nach der Wiedervereinigung (Beitritt der ehemaligen DDR) lernte See in einer Talkshow des Senders Freies Berlin einen ehemaligen Kriminaldirektor des Bundeskriminalamts, Dieter Schenk, kennen, mit dem er im März 1991 die erste gesamtdeutsche zivilgesellschaftliche Organisation der neuen Bundesrepublik gründete. Da sie als internationale Bürger- und Menschenrechtsorganisation geplant war, erhielt sie einen international verständlichen Namen: Business Crime Control (BCC).

Reflexionen über den Begriff ›Kapital-Verbrechen‹ nach Hans See

In den wissenschaftlichen Büchern von See, KAPITAL-VERBRECHEN (2. Auflage erschien als Taschenbuch nach der BCC-Gründung) und WIRTSCHAFT ZWISCHEN DEMOKRATIE UND VERBRECHEN, verwendet der Wirtschaftskriminologe den Begriff ›Kapital-Verbrechen‹. Mit der Schreibweise ist zwar klar angezeigt, dass er die von der Kapitalseite begangenen Gesetzesbrüche meint, aber die Denktradition und die offizielle Verwendung des Begriffs waren stärker, zumal sich der Gedankenstrich nicht sprechen lässt. Er sollte den bis dahin verwendeten Begriff ›White Collar Crime‹ (Weiße-Kragen-Kriminalität) von Sutherland ablösen, hat es aber nicht geschafft, obgleich er sogar einmal als SPIEGEL-Titel (ohne Hinweis auf Sees Buch, das im SPIEGEL besprochen worden war) verwendet und von Peter Sloterdijk (wie später noch einmal von Harald Lesch in einer seiner Fernsehsendungen) als besonders zutreffend gelobt und verwendet wurde.

Kapital-Verbrechen sind Wirtschaftsverbrechen

Der Begriff Business Crime sollte von Anfang an klarmachen, dass damit alle Geschäftsverbrechen gemeint sind. Und dass die Kriminalität der abhängig Beschäftigten (es sei denn, es handele sich um einen Manager mit Arbeitgeberfunktion) eine qualitativ andere ist.

Es gab Gründe, die Kriminalität der Konzerne (und der Verantwortlichen in den Chefetagen, einschließlich der Aufsichtsräte und privaten Kontrollorgane) hervorzuheben, auch wenn damit die der kleinen Selbständigen und Mittelständler nicht verharmlost werden sollte. In den USA spricht man inzwischen von Corporate Crime, der Kriminalität der großen Kapital-Gesellschaften, der Konzerne. Und deren Dominanz, ja Hegemonie, konnte von BCC nicht länger durch das In-eins-setzen mit allen Geschäftsgrößen und Unternehmensformen überzeugend vermittelt und kritisiert werden. Der Begriff Business Crime bleibt von grundsätzlicher Bedeutung, vor allem für Staaten mit demokratischer und rechtsstaatlicher Verfassung.

Denn hinter den Weltproblemen unserer Epoche – dem Klimawandel und der Umweltzerstörung, der sozialen Ungleichheit, dem Hunger, der globalen Armut, vielen längst heilbaren Krankheiten etc. – stehen nicht zuletzt Wirtschaftsverbrechen, was im Folgenden gezeigt wird.

Organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität

In einem seiner ersten Vorträge nach Gründung von BCC ging Hans See auf das Anliegen des Vereins ein:

»BCC will vielmehr die Demokratiefrage – nachdem der Kalte Krieg gegen den Ostblock-Kommunismus gewonnen ist – ganz bewusst mit Blick auf die notwendige Kontrolle der Mächtigen der freien Wirtschaft und der globalen Wirtschaftsmacht ›Kapital‹ noch einmal neu stellen. (…) Dabei geht es um die sehr ernste Frage an die Verfechter einer freien Wirtschaft, ob sie diese für fähig halten, ihr also auch grundsätzlich zumuten wollen, sich den demokratischen Gesetzen einer kritischen und mündiger werdenden Gesellschaft, die mehr soziale Gerechtigkeit und einen wirksamen Umweltschutz fordert, so unterzuordnen, wie es von jedem Mitglied der Gesellschaft in einem Rechtsstaat verlangt werden kann.

Es geht dabei auch um die immer wichtiger werdende Frage der Demokratiefähigkeit der freien Wirtschaft überhaupt. Denn noch verharrt in unserem Wirtschaftssystem die in Festreden durchaus auch von Unternehmern und deren Sprechern gelobte Demokratie vor den Fabriktoren.«1

Die in Deutschland gesetzlich geregelte Mitbestimmung reiche hierfür nicht aus. Mit ihr könnten Wirtschaftsdelikte nicht verhindert werden. Nirgends ist das so deutlich geworden wie am Dieselabgasbetrug der großen Autokonzerne, die nicht nur über Betriebsräte nach dem Betriebsverfassungsgesetz und über Aufsichtsorgane mit Belegschaftsvertretern nach dem Mitbestimmungsgesetz verfügen, sondern – im Fall von Volkswagen – auch noch über staatliche Kontrolleure. Mehr traditionelle Mitbestimmung geht nicht!

See beklagte die mit der bestehenden Mitbestimmung verbundene Kumpanei zwischen Kapital und Arbeit.

»Das organisierte Verbrechen hätte nur wenig Chancen, in die legale Wirtschaft einzudringen oder auf sie Einfluss zu gewinnen, wenn diese, das heißt das für sie verantwortliche Management, stärkerer öffentlicher, vor allem überbetrieblicher demokratischer Kontrolle ausgesetzt wäre.«2

Denn die Polizei sei für Wirtschaftsverbrechen prinzipiell die falsche Adresse, weil sie damit schlicht überfordert sei. Bei Wirtschaftsverbrechen gehe es um strukturelle Probleme, um kriminelle Kapitalbeschaffung, -verwertung oder -sicherung.

Die schwierige legale Beschaffung von Kapital sei ein Motiv, es verbrecherisch zu erlangen. Unter stark erschwerten Bedingungen werde auch seine Verwertung immer sozialschädlicher und damit seine Sicherung – und sei es durch Etablierung kapitalhöriger Diktaturen – immer notwendiger.

Und bei den Verbrechen gebe es jenseits des Strafrechts auch »Verbrechen in einem nicht justiziablen, in einem moralischen und gesellschaftspolitischen Sinne.«3

»Wenn Kapitalbeschaffung, Kapitalverwertung und Kapitalsicherung zwar legal, aber mit Hilfe sozialschädlicher, umweltfeindlicher und damit auch menschenverachtender Praktiken betrieben werden, nennen wir sie in einem moralisierenden Sinne verbrecherisch. Hier muss die kriminalpolitische Debatte einsetzen und die Frage nach Möglichkeiten der Verhinderung oder Bestrafung solcher Taten aufgeworfen werden.«4

Und angesichts der von Konzernen dominierten Globalisierung ist es nicht vermessen, wenn Hans See davon spricht, dass auch »der Frieden zwischen den Völkern, die Menschen- und Freiheitsrechte und das friedliche Zusammenleben der Bürger … nicht dauerhaft gesichert werden (können), wenn die komplexen wirtschaftsverbrecherischen Ursachen von sozialen Konflikten und ökologischen Katastrophen nicht nachgewiesen und breitenwirksam publik gemacht werden.«5

Im weiteren Verlauf des Vortrags versucht See dann eine begriffliche Unterscheidung von Wirtschaftskriminalität und Organisiertem Verbrechen, die aber zugleich die Überschneidung bzw. gegenseitige Durchdringung klarmacht:

»Das Organisierte Verbrechen zielt von vornherein darauf ab, kriminalisierte Bedürfnisse zu bedienen, um eine hohe Risikoprämie bei doch oftmals niedrigem Risiko zu kassieren.

Wirtschaftskriminalität umfasst dagegen die Straftaten der von vornherein auf legale Geschäfte angelegten Wirtschaft, die aber durch verzerrten Wettbewerb, Krisen, Konkurrenzgefahr und durch die auf der Hand liegenden Wettbewerbsvorteile des illegalen Wirtschaftens in die berühmte Sog- und Spiralwirkung des Wirtschaftsverbrechens gerät.«6

Dazu verweist See auf einen 1990 in der Zeitschrift Kriminalistik veröffentlichten Bericht, in dem einige Experten die Auffassung vertraten, dass eine ausschließlich legale Unternehmensführung in Zukunft wegen mangelnder Konkurrenzfähigkeit kaum noch möglich sein werde.

1.Kontroll- und Steuerungsverlust in Krisenzeiten

Wirtschaftskriminalität ist kein ›Kavaliersdelikt‹. Mit einem Begriff wie diesem wird umgangssprachlich gerne die Grenze zwischen legal und illegal aufgeweicht. Und bezeichnenderweise werden Verstöße gegen Steuervorschriften an erster Stelle genannt, wie Umfragen zeigen. Damit ist es denjenigen, die für schwere Steuerrechtsverletzungen verantwortlich sind, gelungen, ihren damit verbundenen Anschlag auf die Finanzierung der öffentlichen Daseinsvorsorge als (annähernd) legitime persönliche Bereicherung hinzustellen. Die meinungsprägenden Medien waren dabei sehr behilflich. Es ist erstaunlich, wie gut ihnen das gelungen ist. Denn wenn es um die schlechte Ausstattung des Gemeinwesens geht, werden Staat und Kommunen gnadenlos kritisiert und als unfähig hingestellt. Wenn es dagegen darum geht, ihnen Steuergelder abzutrotzen, ihnen also die Hilfsmittel zu entziehen, werden Staat und Kommunen genauso gern als Gegner, noch besser als ›Räuber‹ dargestellt – eine inszenierte Schizophrenie.

Rund um die Bundestagswahl vom 26.9.2021 konnte man dieses ›Spiel‹ bei den Kontrahenten Kevin Kühnert (SPD) und Christian Lindner (FDP) beobachten, als Kühnert dabei Lindner als ›Luftikus‹ bezeichnete, weil er Superreiche steuerlich entlasten wolle, gleichzeitig aber kein seriöses Finanzkonzept habe.7

Wirtschaftskriminalität ist auch keine Angelegenheit, die sich, wie manche vielleicht assoziieren, vornehmlich im Bereich der Buchführung, also quasi ›auf dem Papier‹ abspielt und Menschen nicht wirklich beeinträchtigt. Dass auch dieses gern vermittelte Bild nicht stimmt, soll im Kapitel über die beträchtlichen und – was den ökologischen Aspekt angeht – oft irreversiblen Schäden an einigen Beispielen beleuchtet werden.

Wenn von sozialen Konflikten, persönlichen Schäden und ökologischen Katastrophen gesprochen wird und Wirtschaftskriminalität mit Verbrechen assoziiert wird, dann kommt man der Sache schon näher.

Aber auch das wird von interessierter Seite gern als ›Kollateralschaden‹ bezeichnet, also als bedauernswertes Abfallprodukt einer eigentlich dem Gesamtwohl zuarbeitenden Wirtschaft.

Wenn nun aber tatsächlich neben der Schädigung vieler Einzelpersonen dauerhafte Umweltzerstörung und Kriege die Folge sind, fällt es schon schwer, hier noch von Kollateralschäden zu sprechen! Erst recht natürlich, wenn aus Tausenden von ›Einzelfällen‹ der systemische Charakter sich als Grundgewebe immer deutlicher abzeichnet.

Da hilft es auf Dauer nicht, immer wieder das Wort ›Skandal‹ zu bemühen! Aber die auf Push-Nachrichten getrimmten Medien leben eben eher und mehr von der Ausnahme als der Regel oder gar der Struktur, die zu kritisieren wäre.

Wenn im Folgenden die Kriminalität der großen Wirtschaftsunternehmen in den Blick genommen wird, werden sehr schnell eine Struktur und ein Mechanismus erkennbar, welche es nahelegen, wechselseitige Übergänge von legalen Wirtschaftsoperationen zu illegalen und umgekehrt als Normalzustand anzusehen. So stehen inzwischen fast alle gesetzlichen Maßnahmen, seien es solche zum Umweltschutz, zum Arbeitsrecht oder zur Besteuerung unter dem Verdikt, dass große transnational operierende Konzerne (und das sind praktisch alle) einer gesetzlichen Regelung durch die Verlagerung ihrer Tätigkeit in ein nicht reguliertes Territorium ausweichen können und dies auch tun. Als giftig eingestufte Stoffe werden in all den Ländern weiter eingesetzt, die es nicht verbieten. Die primitivsten Arbeitsschutzregelungen werden durch Produktionsverlagerungen umgangen. Durch Einschaltung immer weiterer Subunternehmen kann die rechtliche Verantwortung so verwischt werden, dass sie dem Ausgangsunternehmen nicht mehr nachzuweisen ist. Diese Problematik spielt nicht zuletzt bei der Lieferkettengesetzgebung eine wichtige Rolle. Auf diese Weise können im Extremfall geheime Firmen mit nicht legalen Operationen betreut werden, was insbesondere bei Rüstungsgeschäften nicht unüblich ist.

Umgekehrt ist die ›Geldwäsche‹ das Mittel, illegale Gelder in legale zu transformieren. Nicht ohne Grund ist das Bankgeheimnis bis heute ein schützenswertes Rechtsgut und kann es fast mit dem Beichtgeheimnis der katholischen Kirche aufnehmen.

Man könnte einwenden, dass das Ausweichen in nicht regulierte Bereiche nicht illegal sei, und dass hier bestenfalls von illegitim, also von einer ethischen Warte aus zu sprechen sei.

Damit wird das Problem aber nicht entschärft, weil

a.diese Grenze fließend ist, wie an den Cum-Ex-Geschäften gezeigt werden kann und

b.die Grenzziehung selbst oft in den Händen der Profiteure liegt oder in dieselben gegeben wird,

c.ein Wirtschaftssystem, das mit Rankings von Maximalprofiten arbeitet, permanenten Druck auf diese Grenzziehung zulasten der Regulierung ausübt.

Solches kann natürlich weder aus der Demokratieperspektive noch aus der Perspektive des Rechtsstaats akzeptiert werden. Die Schäden für Demokratie und Rechtsstaat, aber auch für Gesellschaft und Ökologie wären auf Dauer unerträglich.

Deshalb sollen im folgenden Abschnitt zunächst Streiflichter auf die Schäden geworfen werden, denn mehr als Streiflichter würde den Rahmen sprengen. Es handelt sich dabei nicht, wie oben bereits angedeutet, um abstrakte Schäden, die lediglich ›auf dem Papier‹ begangen werden und ansonsten keine größeren Probleme bereiten. Ganz im Gegenteil: Das Ausmaß dieser Schäden ist beträchtlich und erreicht schwindelerregende Größenordnungen.

All diese Schäden wurden und werden im Übrigen wider besseres Wissen angerichtet, um kurzfristig Profite zu erzielen. Denn die Schäden wären vermeidbar gewesen. An Alternativen mangelt es jedenfalls nicht. Ebenso wenig wie an gesellschaftlichem Engagement in jedem Einzelfall.

Viele dieser Beispiele sind im Übrigen in der Vierteljahreszeitschrift von BCC – BIG Business Crime8 und gegenwärtig als Beilage in Stichwort Bayer – Zeitschrift der Coordination gegen BAYER-Gefahren9 – dargestellt.

2.Ein Blick auf die Schäden von Wirtschaftskriminalität – ›Peanuts‹?

Abfälle

Ist es kriminell, Flüsse, Seen und die Meere zu verseuchen? Luft und Flüsse waren ja doch früher die ›kostenlosen Entsorgungsträger‹. Ich habe es als Kind selbst erlebt, wie sich der Fluss Kocher in meiner Geburtsstadt Aalen mit all den Farben gefüllt hat, welche die entsprechende Färberei dort jeweils abgelassen hatte.

image

Fotografie des Autors

Auf die selbst gezogenen Pflanzen wurde E 605 gesprüht – ein heute verbotenes Pflanzengift. Der Himmel über der Ruhr, wo meine Frau herkommt, war meist nicht blau, sondern von Ruß durchsetzt, was u. a. den Lungen nicht besonders förderlich war.

All das war nicht kriminell – jedenfalls nicht im juristischen Sinn. Und es war üblich. Es hatte vor allem bestimmte Vorteile: für die verseuchenden Unternehmen.

Konnte man es wirklich nicht besser wissen? Oder betrachtete man dies schon damals als Kollateralschäden einer ›florierenden‹ Wirtschaft? Als notwendiges Übel?

Das kapitalistische Wirtschaftssystem hat eine unbeschreibliche Warenfülle hervorgebracht, mehr als es kaufkräftige Nachfrage gibt, weshalb für die reichen Staaten der Begriff der ›Wegwerfgesellschaft‹ geprägt wurde. Weil aber die Produktion im Mittelpunkt stand und immer noch steht (Marxisten sagen, die Verwandlung des Mehrwerts in Waren), sind die damit einhergehenden Abfälle doch weit mehr als nur ein Kollateralschaden; sie gehören zum System, sind also systemimmanent.

Am Grundprinzip, Abfälle privater Unternehmen zulasten der Gemeinschaft zu entsorgen (zu externalisieren) und auf diese Weise interne Kosten zu sparen, hat sich bis heute eigentlich nichts geändert.

Ein außergewöhnlicher Abfall, weil er besonders lange (nach)wirkt, ist der Abfall der Atomwirtschaft. Da stellt sich schon die Frage: Wie kann es überhaupt sein, dass Atomkraftwerke gebaut werden durften, ohne dass die Entsorgungsfrage auch nur annähernd gelöst war? Eine Frage, die bis heute nicht geklärt ist!

Weshalb war man beispielsweise bei einer einfachen Pizzeria kleinlicher und hat die Lizenz zum Aufstellen von Tischen und Sitzen nur erteilt, wenn eine Toilette nachgewiesen werden konnte?

Ist es vielleicht die Größenordnung? Ist es womöglich die Sichtbarkeit? Oder ist es vielmehr eine gesellschaftliche Meinungsprägung größten Ausmaßes, die ihren Ursprung in der gedanklichen Trennung der Kernspaltung in eine ›böse‹ Technologie in Form der Atombombe und eine vermeintlich ›gute‹ in Form der ›zivilen Nutzung‹ dieser Energie hatte?

Tatsächlich sind wir heute, trotz einer weltumspannenden kritischen Anti-AKW-Bewegung, nicht viel weiter. Denn trotz ungeklärter Entsorgung des radioaktiven Abfalls werden neue AKWs geplant, auch in der Europäischen Union.

Und es stellt sich die weitere Frage: Weshalb werden heute noch die meisten der damals entstandenen Folgekosten den Unternehmen abgenommen, auch den profitablen, und der Bevölkerung aufgebürdet? Und weshalb wird es zugelassen, dass die Folgen für Millionen von Jahren unseren Nachkommen zur Last fallen? Und warum soll das nicht kriminell sein?

Wie lange dürfen japanische Unternehmen hochgiftiges Plutonium in den Pazifik leiten?

Weshalb dürfen von Lingen aus immer noch deutsche Kernbrennstäbe an ausländische AKWs (darunter auch Japan) exportiert werden?

Diesem Problem hat auch BCC in seinem Heft BIG Business Crime einen größeren Artikel gewidmet:

»Das unbewältigte Erbe von gerade mal einem halben Jahrhundert Stromproduktion bedroht und belastet die nächsten 330.000 Generationen. Kein Druckfehler. 330.000 Generationen, das sind über acht Millionen Jahre. Man kann sich kaum ausmalen, wie sehr Milliarden von Nachkommen unsere Generation wegen dieser tödlichen Hinterlassenschaft verfluchen werden.«10

Noch erstaunlicher sei allerdings, dass es Politik und Wirtschaft seit Jahrzehnten gelungen sei, dem Volk zu suggerieren, die Atomtechnik sei eine sichere und beherrschbare. Aus Schwarz einfach Weiß zu machen sei eine Form der Manipulation, die durchaus zum Instrumentarium der Wirtschaftskriminalität gezählt werden dürfe.

Umwelt und Umweltverbrechen wurden von BCC auch in weiteren Beiträgen beleuchtet. Denn etwa in der Abfallwirtschaft haben sich das Organisierte Verbrechen und die legale Wirtschaft immer schon überschnitten.

Und bezeichnenderweise spielt auch das große Schweigen in einem Beitrag von Eckhardt Momber in BIG Business Crime 1/2017 eine zentrale Rolle, wenn er am Schluss auf die Frage, was das Wichtigste auf seiner Reise nach Fukushima war, bemerkt:

»Zweierlei, erstens die bedrohliche Unsichtbarkeit der Radioaktivität und zweitens das mehrheitliche Schweigen im Wissen darüber in einem Land, in dem es nun schon zum dritten Mal zu einer atomaren Explosion gekommen war.«11

Nicht ohne Grund ist Omertà (die Schweigepflicht) ein Prinzip der Mafia und anderer krimineller Organisationen.

Stellvertretend für das Abfallproblem sei hier nachfolgend der ganz aktuell im Frühjahr 2021 in die Öffentlichkeit gelangte Fall der Laugenentsorgung zulasten von Flüssen und Trinkwasser durch K+S12 geschildert und analysiert, weil er alle typischen Merkmale von Unternehmenspolitik in ihrem Verhältnis zu Staat und Kommunen aufweist.

Versalzung von Flüssen, Flächen und Trinkwasser – die Rolle von Unternehmen und Staat

»Mehr als zehn Jahre hatte die Staatsanwaltschaft in Meiningen in Thüringen ermittelt wie es passieren konnte, dass der Kalikonzern K+S an der hessisch-thüringischen Grenze seine Salzlauge in den Untergrund versenken und damit auch Gewässer verunreinigen konnte.«

Mit diesen Worten beginnt die abendliche Hessenschau des Hessischen Rundfunks am 5. Mai 2021 ihre Berichterstattung über ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren, das – für manche überraschend – eingestellt wurde. Und die Frankfurter Rundschau titelt am selben Tag: Werra-Versalzung: Ein Krimi aus der Hand eines Staatsanwalts.

Die betroffenen hessischen Behörden bis hin zum hessischen Umweltministerium reagieren abwehrend, noch schärfer die K+S AG. Was war geschehen?

Ein hessischer Polit-Krimi?

Ein weiterer Umweltskandal?

Oder: Die Kapitulation eines Umweltministeriums vor dem weltgrößten Salzproduzenten?

Solche Fragen wirft ein staatsanwaltschaftliches Ermittlungsverfahren auf, obwohl und weil es eingestellt werden musste, da die derzeitige Rechtslage Verurteilungen nicht zulässt.

Man muss dem ermittelnden Staatsanwalt aus Meiningen dankbar sein für seine 10-jährige Aufklärungsarbeit13, denn bisher wurden massive und lang wirkende Umweltschäden – ausgerechnet bei dem immer knapper werdenden sauberen Trinkwasser – anscheinend billigend in Kauf genommen, um Arbeitsplätze und nicht zuletzt Gewinne zu halten; und das zu großen Teilen sogar unter Aufsicht eines grünen hessischen Umweltministeriums mit teilweise prominenter Besetzung.

Man muss allerdings zugutehalten, dass es sich bei K+S nicht um irgendein Unternehmen handelt, sondern um den Weltmarktführer unter den Salzproduzenten. Und man darf den Gewöhnungseffekt nicht unterschlagen, der auch dadurch bedingt ist, dass die Versenkung von Salzlauge in den Untergrund bereits Ende der 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts begonnen wurde und negative Erscheinungen in Bezug auf das Trinkwassers zu Beginn der 40er Jahre dann in Erscheinung traten. Auch ich habe – wie schon geschildert – erlebt, wie es in den 50er Jahren hingenommen wurde, dass etwa eine Färberei den örtlichen Fluss regelmäßig in die unterschiedlichsten Farben tauchen durfte.

Allerdings: Mittlerweile schreiben wir das Jahr 2021, und das Bundesverfassungsgericht kassiert aufgrund von Verfassungsbeschwerden das 2019 vom Bundestag verabschiedete deutsche Klimaschutzgesetz.

Und auch in Bezug auf das Ermittlungsverfahren zur Salzlaugenversenkung und -einleitung in Flüsse waren die heutigen Erkenntnisse nicht neu.

Aber der Reihe nach–im Folgenden referiert nach dem Schreiben der Staatsanwaltschaft Meiningen vom 13.4.2021, das 27 Seiten umfasst und an die Werra-Weser-Anrainerkonferenz e.V. gerichtet ist, die Strafanzeige gestellt hatte:

Die Laugenversenkung in den Plattendolomit hat eine erhebliche Druckerhöhung in dieser Formation zur Folge, die sich auch nach einem Ende der Versenkung nur langsam abbaut.

Der durch den Salzaufstieg notwendigerweise als Transit- und Zirkulationsraum fungierende Buntsandstein-Grundwasserleiter bildet aber zugleich auch das Hauptreservoir für die Trinkwassergewinnung.

In diesen Bereichen mussten in den vergangenen Jahrzehnten Trinkwasserbrunnen wegen zunehmender Versalzung sukzessive stillgelegt, saniert oder in ihrer Förderung gedrosselt werden, um ein Vordringen von Salzwasser in den Förderstrom zu vermeiden.

Die Beeinträchtigung potentiell nutzbaren Trinkwassers durch die Laugenversenkung wurde durch ein im November 2016 fertiggestelltes 3D-Grundwassermodell der Firma Kali und Salz erstmals quantifiziert.

Nach den vorgelegten Berechnungen hat der vorgenannte Wirkmechanismus der Versenkung zur Folge, dass bis zum Jahr 2060 Trinkwasservorkommen im Volumen von 85 Millionen Kubikmetern zusätzlich über den für die Trinkwassernutzung maßgeblichen Chlorid-Schwellenwert von