Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Sensenträume.

Texte aus dem Literaturlabor Leverkusen

Herausgeber: Christian Linker und Regina Schleheck

Redaktion: Christian Linker, Regina Schleheck, Stefan Andres, Ulrich Bornewasser

Umschlagdesign, Satz, Herstellung und Verlag:

BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7557-6348-2

Das Literaturlabor Leverkusen sowie die Drucklegung wurden organisatorisch und finanziell unterstützt durch den CHEMPARK.

Der Förderverein Literatur in Leverkusen e. V. unterstützt das Literaturlabor Leverkusen.

Besonderer Dank gilt dem Industriemuseum Freudenthaler Sensenhammer Leverkusen für Obdach und Inspiration. Die verwendeten Postkartenmotive sind Teil einer Ausstellung in den Räumen des Museums 2021.

Inhalt

Vorwort des Oberbürgermeisters

Liebe Leserinnen und Leser dieser Anthologie,

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

Oberbürgermeister Uwe Richrath Foto: Selina Pfrüner

»Sensenträume« – so heißt die neue und dritte Anthologie, die die Mitglieder des Leverkusener Literaturlabors veröffentlicht haben.

22 Kurzgeschichten, inspiriert von Postkarten, die das Stück Industriekultur im Freudenthal an der Dhünn zeigen, sind hier zusammengetragen. Verfasst von 14 Autorinnen und Autoren, deren Protagonisten die Sensenfabrik, das historische Hammerwerk und die seit jeher sagenumwobene Flusslandschaft lebendig werden lassen.

Eine Hommage an die Historie des Industriemuseums Leverkusener Sensenhammer ist daher das Ergebnis der diesjährigen Anthologie.

Die im Spätherbst 2021 im Industriemuseum Freudenthaler Sensenhammer stattfindende Ausstellung der oben genannten Postkarten mit den Sensenmotiven sowie weiteren Postkarten bilden den Rahmen für die Veröffentlichung der Anthologie. Vervollständigt wird das Projekt am 27. November, wenn aus dem Band ausgewählte Kurzgeschichten in der Schmiedehalle von Mitgliedern der Opladener Studiobühne vorgetragen werden.

Kunst, Literatur und Industriekultur, das beweist, dass Geschichte nicht langweilig ist, sondern auf unterschiedlichste Weise Menschen begeistern kann. Ein echter Erfolg, der allen Beteiligten zu verdanken ist.

Das Projekt wurde erneut von der »Currenta GmbH & Co. OHG« genauer vom Nachbarschaftsbüro ›Chempunkt‹ initiiert und finanziell unterstützt, gemeinsam mit dem Förderverein »Literatur in Leverkusen« durchgeführt und von den Leverkusener Autoren Regina Schleheck und Christian Linker begleitet. Nicht zu vergessen natürlich die 14 Leverkusener Autorinnen und Autoren sowie die vielen Fans dieser Anthologie, die sicher schon gespannt auf das neue Werk gewartet haben.

Nicht nur eingefleischte Fans, sondern auch alle anderen können auch diesen Band in den lokalen Buchhandlungen erwerben – natürlich auch, um ihn als besonderes Geschenk aus Leverkusen weiterzugeben.

Viel Vergnügen bei der Lektüre!

Mit freundlichen Grüßen

Uwe Richrath

Marie van Veen – Rien ne va plus

Rien Rien ne va plus

Ein letztes Mal noch. Ein allerletztes Mal.

Er sah zu seinem Gegenüber.

Zwischen die Zähne hatte es sich eine qualmende Zigarette geklemmt, und auch wenn er es sich nicht ganz erklären konnte, blies es den Rauch aus den entblößten Nasenhöhlen. Die Beine hatte es übereinandergeschlagen, und der Stoff der schimmernden Anzughose lag ein wenig zu weit geschnitten auf den Oberschenkelknochen.

Bildete er sich ein, dass sein Gegenüber die imaginären Augenbrauen zusammenzog, während er die verbliebenen Jetons über den Tisch schob?

»Rien ne va plus«, sagte der Croupier.

Doch Oscar Dubois war kein Mann für halbe Sachen. »Alles oder nichts.« Er lehnte sich über den Tisch, und das Skelett im Stuhl gegenüber rollte die nicht vorhandenen Augen.

»Ihre unverfrorene Selbstsicherheit amüsiert mich. Sagen Sie –«, es nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt sie zwischen Zeige- und Mittelfingerknochen, lehnte sich mit dem anderen Arm auf den Tisch und stützte den Schädel auf die Hand. »Woher nehmen Sie das? Diese Sicherheit. Sie sind zwar nicht der Erste, der sein Glück herausgefordert hat, aber Sie sind der Erste, den ich nicht für einen gänzlichen Idioten halte.«

Das Skelett ächzte, als es sich vorbeugte und die Zigarette auf einem der Jetons ausdrückte. Achtlos schnipste es den Stummel weg und griff in die Tasche der Weste – holte dieses Mal jedoch eine Zigarre hervor. Geschäftig zog es aus dem Ärmel des weißen Hemdes unter der Weste ein Streichholz, das bereits brannte. Die Zigarre zwischen den Zähnen, streckte es den Kopf vor und zündete sie an.

Oscar beobachtete den Rauch, sagte: »Ich bin nur ein Narr mit etwas zu viel Glück im Leben.«

»Im Leben. Schön. Im Tod mag das eine andere Sache sein.«

Der Mann zuckte mit den Schultern. »Viel blieb mir ja nicht übrig, oder?«

»Auch wahr.« Das Skelett neigte den Kopf zur Seite und richtete einen nicht ganz eindeutigen Blick auf die kreisende Kugel.

»Sie hätten mich zu allem herausfordern können. Sie hätten gegen mich Poker oder Schach spielen können. Die meisten Sterblichen fragen nach Schach, ja. Die meisten Sterblichen sterben daraufhin.«

»Klingt, als hätten Sie eine Siegesserie. Dann habe ich mich für das Richtige entschieden.« Oscar lehnte sich in seinem Stuhl zurück, der deutlich bequemer war, als er aussah.

»Kluges Köpfchen. Wissen Sie, manche fordern mich sogar zum Kampf heraus. Sie wollen sich mit mir messen. Früher waren es viele. Ritter und Krieger, die allesamt dachten, sich mit mir messen zu können. Ist das zu fassen? Fallen auf dem Schlachtfeld durch die Hand eines anderen und wollen sich daraufhin mit mir messen?« Das Skelett lachte schnaubend: »Schwachköpfe.«

Für einen Moment herrschte Stille. Nur das Surren der rollenden Kugel war zu hören.

Dann fing Oscar wieder an. »Wenn der Herr einem den Verstand nicht schenkt, kann man nur auf die Hilfe anderer hoffen. Und Gott sei Dank, man hatte immer Mitleid mit einem Schwachkopf wie mir.«

»Sind Sie christlich?«, fragte das Skelett.

Oscar bildete sich ein, ehrliches Interesse in dieser Frage zu hören. »Bei allem, was mir passiert ist, und bei allem, was mir nicht passiert ist, sollte ich das wahrscheinlich sein«, antwortete er.

»Aber wissen Sie«, das Skelett sog den Rauch der Zigarre ein, als wäre es eine Zigarette, und blies ihn in Oscars Gesicht. »Die Menschen setzen so viel Vertrauen in ihren Gott und ihre Götter, dass sie manchmal ganz vergessen, woher das ganze Glück kommt.«

»Wie meinen?« Oscar schaute auf die Kugel, die stetig ihr Tempo verlangsamte, aber sich noch nicht zur Ruhe setzen wollte.

»Na ja, viele Menschen beten und danken ihren Objekten der Verehrung dafür, dass sie sie jeden Tag am Leben halten, ihnen und ihren Familien genug Nahrung bieten, sie mit guter Gesundheit segnen, yada yada yada. Keiner kommt auf die Idee, dass es nicht ihr Schöpfer ist, der ihnen Glück und Segen bringt.«

Oscar sah, dass die Kugel langsamer wurde, und schaute auf zu seinem Gegenüber.

Mit zahnigem Grinsen und Zigarre im Mund entblößte das Skelett eine zweite Roulettekugel in seiner Hand und zerdrückte sie. Weiße Krümel und Staub rieselten durch die Knochen, als es sagte: »Jeder Tag, an dem sie weiterleben dürfen, ist kein Geschenk ihres Glaubens. Derjenige, der ihnen jeden Tag das Leben schenkt, bin ich. Derjenige, der ihnen irgendwann dieses Geschenk verweigert, bin ich.«

Die Kugel kam zum Stillstand.

Das Skelett erhob sich, ergriff die Sense, die am Tisch lehnte, und schob dem Mann die Jetons hin.

»Und Sie, Monsieur Dubois … Sie habe ich ganz besonders gern.«

Marie van Veen

Heinke Stulz – Der Sensenkönig

Der Sensenkönig

Da saß er nun und schaute auf das Sensenblatt. In seinem weißen Hemd. Das war der Wunsch des Fotografen gewesen, wegen des Lichts. Seit einer Stunde wartete er darauf, dass sie endlich das Foto schießen könnten, aber so lange schon kletterte der Fotograf als Herr Schnittke hatte er sich vorgestellt im Anzug die Leiter hinauf und herunter, immer an einem anderen Ort, um den richtigen Lichtwinkel und eine Befestigung für die starke Lampe zu finden.

Anscheinend war er jetzt fertig. Wie ein Mondstrahl fiel das Licht von oben auf die Sensenblätter herunter, die als Antwort aufgleißten. Die hatte er gestern noch gebreitet, unter dem Schwanzhammer, sie trugen alle seine Handschrift.

Eigentlich sollte er jetzt in der Kirche sitzen, in seinem Sonntagshemd. Doch die Werkstatt war feierlich still und vertraut wie die Kirche. Staubteilchen tanzten schwerelos in dem langen Lichtstrahl. An anderen Tagen hieb der Schwanzhammer mit seinem harten, blinden Schlag auf das Metall, pochend wie der Herzschlag eines großen Tieres. Ohrenbetäubend und übermächtig.

Diese wunderbare Stille, die jetzt die Werkstatt anfüllte, gab es nur in dem kurzen Moment, bevor er die Maschine morgens anschaltete, und am Abend, wenn sie endlich Ruhe gab. Dieser stille Augenblick war nur der Übergang zur Arbeit, er bemerkte ihn sonst nie. Ja, was machte er eigentlich hier in dieser ausgedehnten Ruhe? Er sollte bei seiner Frau und seiner Tochter sein, in der Kirche.

Aber der Fabrikant hatte ihn gebeten, ihn, den König der Sensenschmiede, den besten Breiter hier und auch weiter, ihn hatte er gebeten, sich mit seinen Sensenblättern fotografieren zu lassen. Wofür? Na, für den Absatz. Nicht für seine Schmiede oder die Fabrik des Unterneh mers, nein, sondern für den Laden, der ihrer beider Werkstücke in der Stadt vertrieb. Das machte ihn wütend. Warum von dem Gewinn abgeben an Leute, die keinen Hammerschlag an der Sichel getan hatten? Nur weil die in der Stadt saßen und sie nicht? Weil man eine Sensenschmiede nun mal nicht in einer Stadt betreiben konnte? »Schmarotzer«, schimpfte er innerlich und sah von seinen glänzenden Schuhen zu dem schnieken Fotografen hoch, der von der Leiter gestiegen war und ihn anschaute. Aber der sah ihn nicht, das sah er nun wiederum, der sah nur prüfend auf das weiße Hemd mit den Lichtreflexen und die gehämmerten Sicheln, die da lagen wie eine strahlende Monstranz.

Er folgte dem Blick des Fotografen auf die gekrümmten, goldenen Sicheln. Seine Sensenblätter, für ihn waren sie seine Kinder, die Früchte seiner Hände, diese Sensenblätter, die nur er so breiten konnte. Dünn waren sie wie ein Florett, hart wie Damaszenerstahl, so sagte man. Der Degen der Bauern. An dem Rücken, den er stehen ließ an jedem Blatt, an dem konnte man seine Meisterschaft erkennen, an dem scharfen Schlagschatten und an der offenen Rundung, immer der gleichen, die Werkstücke glichen einander wie die Blätter einer Linde. Wie von einem blinden Heiligen geschmiedet, hatte mal ein Laufbursche gesagt. Aber der Sensenrand war nicht geschmiedet, sondern gehämmert, was bedeutend mehr Geschick erforderte. Er streichelte über die Wölbung. Die formten seine Hände immer wie im Traum. Das konnte man niemanden lehren.

Er richtete sich auf. Das Licht glitt über die Rücken der Sicheln am Boden, als wären sie feine Wasseradern.

Der Fotograf, der inzwischen eine Zigarette geraucht hatte, machte sich wieder an seiner Kamera zu schaffen, er solle nur ganz ruhig sitzen bleiben, hatte er ihm gesagt, nachdem er ihm statt der Wippe einen niedrigen Holzstuhl gegeben hatte. Nie saß er hier und saß ruhig.

Er stellt seine Sensenblätter her, mindestens sechs Stück bei jedem Stundenschlag, und wenn es mehr waren, dann feierte er mit einem Bier am Abend. Die Schmiede aus der Fabrik achteten ihn, denn was er konnte, das konnten sie nicht, und das wussten sie. Oft genug hatten sie es ausprobiert und waren gescheitert. Der Eigentümer hatte nie davon abgelassen, ihn anzuwerben, immer wieder hatte er es versucht, vergebens. Doch warum sollte er seine eigene Schmiede aufgeben, wenn seine Sensenblätter besser waren als die, die dort gefertigt wurden?

Er verdiente gut mit ihnen. Sein Häuschen war größer und schmucker als das der anderen, seine Tochter trug Kleider aus der Stadt und ging in dieselbe Schule wie die Tochter des Fabrikanten. Wenn er abends verrußt, erschöpft und dreckig nach Hause kam und sich wusch, sah er mit Freude, wie fein und sauber sie am Esstisch saß und eine Zeitschrift las. Sie gab ihm erst einen Kuss auf die Wange, wenn er gewaschen war.

Er hatte Zeit, also versuchte er sich vorzustellen, wie viele Sensen er im Lauf der dreiunddreißig Jahre, die er jetzt schon Sensenschmied war, gefertigt haben musste. Große Weizenfelder, niedergestreckt mit einer Walze aus blitzenden Sensenblättern, Berghänge, überzogen mit einer Armee von Sensen, Kriege, wo der Tod Ernte hielt mit seinen Sensen, die die Sonne beleuchtete, bevor sie niedergingen … es waren zu viele. Ihm wurde schwindelig.

In jeder seiner Sensen war ein Stückchen von ihm, wie in einem Kind, wie in seiner Tochter. Und so hatte er sich im Laufe der Jahre verteilt über das ganze Land, über die angrenzenden Länder, über den Kontinent, vielleicht sogar übers Meer nach Amerika oder Neuseeland.

Er richtete sich auf und dehnte seine Schultern, die steif geworden waren. Der Fotograf stöhnte. »Bleiben Sie ruhig, wir sind gleich so weit.«

Der König schaute auf, zum Fotografen hin. Diese Leute aus der Stadt! So fremd. Ob das auch eine Kunst war, so einen Fotoapparat zu bedienen? Sicher nicht so, wie eine Sense zu hämmern. Ob der seine Fotos alle wiedererkennen konnte? Ob er feststellen konnte, dass sie von seiner Hand stammten? Er bezweifelte es, aber fragen mochte er nicht.

Seine Tochter wollte Sekretärin werden. Sie würde keinen Schmied heiraten. Das freute ihn für sie. Vielleicht würde sie so einen Fotografen heiraten? Er seufzte und sah, dass der Fotograf seine Haare mit Pomade behandelt hatte. So nervös, so dünn, so leise. Ein Stadtmensch eben. Der würde in der Werkstatt keine Woche überleben.

Er schaute wieder auf das Sensenblatt, das er nun schon lange Zeit mit seiner alten Zange hielt, damit es auch den richtigen Glanz abgäbe. Dabei war es längst fertig. Noch nie hatte er so lange Zeit mit einem seiner Sensenblätter zugebracht, sonst hieß es immer: schnell, weg, weg. Als ob sie ihm aus der Hand sprängen, sobald sie nicht mehr glühten. Und schon war der nächste rotleuchtende Rohling da, vom Laufburschen aus dem Ofen gebracht. Die Feuerhitze blieb bei ihm und die Freude, sie geformt zu haben, zu seinen Sensenblättern, seinen Sprösslingen, auch wenn er nicht genau wusste, wie.

Der Fotograf schraubte immer noch herum und war nicht zufrieden.

Sein Blick senkte sich wieder auf das gleißende Sensenblatt. Er ließ den Lichtstrahl mit einer kleinen Drehung der Hand auf dem Metall tanzen. Eigentlich war er es, der da glänzte, sang und sprang. Das gehämmerte Metall antwortete mit einer sehr feinen Bewegung, die den Glanz in kleine Schwingungen versetzte. So viel Zeit, auf ein Sensenblatt zu schauen. Das goldgehämmerte Metall bebte leise, ganz von allein. Es war wie ein vertrautes Gespräch unter Freunden, ruhig und nahe. Er versank in diesem Zwiegespräch.

Doch plötzlich schreckte er aus seiner Träumerei auf, denn er hatte mit einem Mal wahrgenommen, warum das schimmernde Blatt zitterte. Es bebte nicht von allein in seiner Hand. Nein, seine Hand war es, die zitterte, seine rechte Hand, die das Sensenblatt hielt. Finger, die bebten, seine Finger? Nein, Finger einer fremden Hand, die ihm nicht gehorchte.

Ein eisiger Strahl fuhr in sein Inneres, eine Offenbarung, kalt wie Stahl. Er sah seinen Vater, der deswegen das Sensenhandwerk hatte aufgeben müssen und nur noch Sensen verkaufen konnte, auf Wanderschaft mit den Sensen das ganze Jahr, nicht einmal vorführen hatte er sie mehr können. Jetzt war es also so weit bei ihm. Seine Handschrift auf den Sensenblättern würde verwischen, weil sie so ungenau werden würde, wie die der anderen. Er sah kein Licht mehr vor sich, wie sonst immer, jemand hatte es gelöscht, nur undurchdringliche Dunkelheit starrte ihn an. Ein paar Jahre könnte er sich noch halten. Dann wäre sein Ruf ruiniert. Aber er hatte immer noch mehr Haare als sein Vater zu der Zeit, als die Kraft ihn verließ. War das ein Trost?

Hieß es nicht, man lebte in anderen? Er lebte mehr in Dingen als in anderen Menschen. Er gab den Sensen seine Seele, und die ging mit ihnen auf Wanderschaft. Wohin auch immer sie verkauft wurden, seine Sensen. Aber er konnte immer noch sehen. Alles, was seine Seele sah. Deswegen spuckte er auf jedes Sensenblatt, als Taufe, damit es nie vergaß, wer es zum Leben erweckt hatte.

Seine Frau hatte das nie verstanden. Sie sagte immer: »Du musst doch nicht mehr arbeiten! Setz dich doch zu mir in den Garten, wir haben doch genug.«

Aber er brauchte ein Reich, in dem er König war. Sie hatte das Haus und ihre Tochter. Er das Reich seiner Sensenblätter. Was alle wussten. Seine gehämmerten Sicheln waren besser als die seines Vaters, sie brachten mehr ein, hatten sich weiter verbreitet. Er hatte das Gewerbe seines Vaters fortgeführt, veredelt und die Erzeugnisse aus ihrer Werkstatt berühmt gemacht. Sein Vater war stolz auf ihn gewesen. Und jetzt? Es würde nie wieder Sensen von dieser Qualität geben. Niemand würde ihre Werkstatt weiter betreiben. Die Fabrik würde den Sieg davontragen.

Er hörte die Kirchenglocken, die Messe war aus. Ob seine Frau und seine Tochter vorbeikommen würden?

Der Fotograf sah angestrengt aus. Er kam von seinem Automobil zurück und brachte neue Teile.

»Herr Schnittke, brauchen Sie etwas?« Seine Stimme durchschnitt die Stille der Werkstatt, obwohl es ihm weh tat. Er wollte nicht, dass die Zeit wieder in Fluss kam.

»Nein, nein, wir beginnen gleich«, gab der junge Mann fahrig zur Antwort.