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Ich war auf der Suche nach einsamen Inseln, verliebt in den Gedanken, dass sich auf einem von Meer umgürteten Stück Land die Verpflichtungen und Ärgernisse des Lebens verflüchtigen und eine unvergleichliche geistige Klarheit auf mich herabsenken würde. Das Ganze erwies sich als komplizierter …

Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht ist eine persönliche Reise durch Landkarten und Inselgeschichten, durch die Vorzüge und Nöte der Abgeschiedenheit und durch die Vergnügungen und Probleme einer immer stärker vernetzten Welt.

»Diese Lektüre kommt im richtigen Moment, eine Balance zwischen Verbundenheit und Isolation zu finden, war nie wichtiger als jetzt.«

THE HERALD

»Eine betörende Reise, in deren Verlauf sich Karten in Geschichten verwandeln und Geschichten in Tatsachen.«

IAIN SINCLAIR

»Gavin Francis ist ein wunderbarer Autor – nachdenklich, mitreißend und zutiefst menschlich.«

BILL BRYSON

GAVIN FRANCIS

INSELN

Die Kartierung einer Sehnsucht

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Aus dem Englischen
von Sofia Blind

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Für meine Kinder.
Als Anker, Segel und Ballast hätte ich mir nichts Besseres wünschen können.

VORWORT

Als ich 2019 mit dem Schreiben dieses Buches begann, plante ich Inseln. Die Kartierung einer Sehnsucht als persönliche Reise durch Landkarten und Inselgeschichten, durch die Segnungen und Nöte der Abgeschiedenheit und durch die Vergnügungen und Probleme einer immer enger verbundenen Welt. Das Buch sollte die Rolle der Inseln in unserer kollektiven Kultur beleuchten, von Robinson Crusoe bis zum Schweizerischen Robinson, von Flucht von Alcatraz bis Love Island, sich aber auch mit der Frage befassen, welchen Gewinn wir aus Phasen der Isolation ziehen und ob sich ein ähnlicher Gewinn auch inmitten des hektischen Stadtlebens erzielen ließe. Hier offenbarte sich ein Paradox, das ich zu erkunden hoffte: einerseits die Nähe und Vertrautheit der Inselgemeinschaften, andererseits die soziale Abkapselung, die so oft in Städten wuchert. Ich wollte die kreative Spannung zwischen dem Reiz von Inseln und dem von Großstädten verstehen.

Nur wenige Monate nach der Fertigstellung des Manuskripts brach eine globale Pandemie aus, die praktisch alle Aspekte des modernen Lebens in Mitleidenschaft zog und mehr als der Hälfte der Menschheit eine ungewollte Einsamkeit aufzwang. Während ich in der darauffolgenden Zeit mit dem Abstandhalten, der Trennung von Freunden und Familie konfrontiert war, nahmen die Themen und Überlegungen auf diesen Seiten für mich an Bedeutung zu, nicht ab. Die Welt hat sich verändert; es ist entscheidender denn je, die Vorzüge der Isolation zu schätzen und dennoch neue Wege zur Verbundenheit zu finden.

URSPRÜNGE einer SEHNSUCHT

PER ANHALTER NACH NORDEN – so war ich auf den Shetlandinseln unterwegs, als ein Landrover neben mir stehen blieb. Der Fahrer war ungefähr vierzig; er trug einen gasflammenblauen Overall, und sein Vollbart war weiß gesprenkelt. »Wo willst du hin?«, fragte er mit einer Stimme wie Rost und Gischt, mit einem eher nordischen als schottischen Akzent.

»Unst«, sagte ich.

Er erzählte mir, vor Unst, der nördlichsten Shetlandinsel, sei ein Schwarzbrauenalbatros gesichtet worden – eine Tierart, die an ein Leben auf den Klippen der Subantarktis angepasst ist. »Hat wahrscheinlich den Äquator in einem Sturm überquert und dann die Orientierung verloren«, sagte er. »Und beim ersten Blick auf Unst dachte er sich: Hier sieht’s aus wie zu Hause.«

Ich war auf der Suche nach einsamen Inseln, verliebt in den Gedanken, dass sich auf einem von Meer umgebenen Stück Land die Verpflichtungen und Ärgernisse des Lebens verflüchtigen und eine unvergleichliche geistige Klarheit auf mich herabsenken würde. Das Ganze erwies sich jedoch als komplizierter.

Das Nachdenken über Inseln versetzt mich oft zurück in die Stadtbücherei, die ich als Kind besuchte. Die Bücherei gehörte zu den prächtigsten Gebäuden der Stadt – man betrat sie direkt von der Straße aus durch schwere Messingtüren, in die Glasscheiben, dick wie Lupen, eingesetzt waren. Mit acht oder neun hatte ich die Bücher der Kinderabteilung ausgelesen und einen Leihausweis für Erwachsene bekommen. Während meine Mutter die Regale durchschaute, saß ich oft auf dem Fußboden, schlug einen riesigen Atlas auf und ließ meine Finger über unerreichbar ferne Inselgruppen wandern, als läse ich Braille. Ich wagte kaum zu hoffen, dass ich je auch nur eine von ihnen erreichen würde; dass ich mittlerweile immerhin ein paar besucht habe, verschafft mir ein Gefühl von Erleichterung. So war für mich die Liebe zu Inseln immer unauflöslich mit der Liebe zu Landkarten verwoben.

Kartografen wissen: Wer die Merkmale eines Teils der Erdoberfläche, in all seiner unbeschreiblichen Komplexität, isoliert und destilliert, übt Macht über ihn aus. Dieses Destillat auf Papier zu übertragen, heißt, es gewissermaßen zu umfassen. Aber man könnte auch sagen, dass Karten nur eine Illusion des Begreifens einer Landschaft bieten.

Das englische Verb für »umfassen« oder »einkreisen« lautet to encompass; es entstand aus der Zusammensetzung der altfranzösischen Elemente en- (»in, hinein«) und compasser (wohl von vulgärlat. compassare) für »umgeben, ringsum abschreiten, abmessen« – letzteres liegt auch dem Wort »Kompass« zugrunde. Vielleicht stellen Karten von Inseln, von durch Küsten begrenzten Landstücken einen Spezialfall dar. Sie laden die Betrachter dazu ein, ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen, einen geträumten Umriss abzuschreiten.

Ich fand alte Landkarten immer schon betörend. Mit ihren schlingernden Konturen, altertümlichen Beschriftungen und veralteten Navigationszeichen sind sie Palimpseste der Vorstellungen, die wir uns im Lauf der Jahrhunderte von Inseln gemacht haben. Die berühmte Weltkarte in Abraham Ortelius’ Atlas von 1570 enthält riesige frei erfundene Gebiete, darunter einen »Fluss der Inseln«, der einen mysteriösen Südkontinent entwässert.

[…] jene alten Karten, egal, wie schön sie sind, [waren] mit ihren Schiffen und Drachen ein Instrument der Weltmächte und des Kapitals […]. Die Wissenschaft sei es, die dem Kapitalismus die Welt erschließt, meint ein Freund zu mir, und all die Merkmale und Einzelheiten, die auf diesen Karten dargestellt wurden, seien zuallererst für Händler und Militärexpeditionen gedacht gewesen. Was »Terra incognita« genannt wurde, sei eben auch noch nicht erobert worden.

REBECCA SOLNIT

Zheng Qiao, ein chinesischer Gelehrter des 12. Jahrhunderts, schrieb über die Vorzüge einer Vermischung von Text und Bild bei Landschaftsbeschreibungen: Bilder (tu) sind die Kettfäden und geschriebene Wörter (shu) die Schussfäden … Das Geschriebene ohne das Bild zu sehen, ist, als hörte man die Stimme, ohne die Gestalt zu sehen; das Bild ohne das Geschriebene zu sehen, ist, als sähe man eine Person, hörte aber ihre Worte nicht.

Ein paar Monate nach meiner Shetland-Reise traf ich, während ich per Anhalter die Hebrideninsel Lewis überquerte, eine neunzehnjährige Französin, die ein staatliches Stipendium erhalten hatte, um durch Schottland zu reisen und Elfen zu suchen. Sie hatte hellblondes Haar – wie Strähnen aus Zirruswolken; Archipele aus Sommersprossen verteilten sich über ihre Wangen und Nase. Sie habe, so erzählte sie, nicht mehr viel Geld, schlafe oft draußen und tausche selbst gemalte Bilder gegen Mahlzeiten ein; um Farbe zu gewinnen, knackte sie Einweg-Kugelschreiber auf und verrührte ihren Inhalt mit Kaffee.

Am selben Tag traf ich einen New Yorker Banker mit Stoppelfrisur, der seinen Job aufgegeben hatte, um drei Monate lang über die Hebriden zu radeln; sein Surfbrett zog er in einem Fahrradanhänger hinter sich her. Seinen Rückflug hatte er bereits storniert. »Ich hatte schon angefangen zu bezweifeln, dass man sich überhaupt so frei fühlen kann«, sagte er.

Die Begegnungen auf Unst und Lewis bestärkten mich darin, dass meine Faszination für Inseln – meine Insula-philie – ganz und gar nicht einzigartig war. Anscheinend bestand eine Verbindung zwischen einer bestimmten Sorte dünn bevölkerter Inseln, fernab aller städtischen Zentren, und Träumen. Vielleicht haben solche Inseln aber auch die Macht, gerade Träumer anzulocken.

Das Wort »isolieren« ist vom italienischen isolare abgeleitet: »in eine Insel verwandeln«. Vor ungefähr zweihundert Jahren nannte die Zeitschrift The British Critic den »neuen« Begriff to isolate, der anstelle des englisch-lateinischen Äquivalents to insulate aus Kontinentaleuropa importiert worden war, »überflüssig und närrisch«.

Bei Judith Schalansky habe ich gelesen, wie sie in Berlin um den mannshohen Globus herumging und die Namen jener winzigen Flecken Land las, die in den Weiten der Ozeane verloren gegangen zu sein schienen, […] ähnlich verheißungsvoll wie die weißen Flecken jenseits der gestrichelten Linien, die auf alten Landkarten den Horizont der bekannten Welt abstecken. Dabei dachte ich an meine Atlas-Streifzüge in der Kindheit, bei denen ich mit verschränkten Beinen auf dem Fußboden einer schottischen Bücherei saß. Im Klappentext von Thurston Clarkes Islomania las ich: Inseln wecken Gefühle wie Leidenschaft, Gelassenheit und manchmal Furcht [], sie bieten Menschen die Gelegenheit, sich selbst zu finden – oder den Verstand zu verlieren.

Als ich auf die Shetlandinseln und die Hebriden reiste, war meine eigentliche Arbeit die eines viel beschäftigten großstädtischen Krankenhausarztes – ein Beruf, der bekannt ist für seine hektischen Anforderungen, schlaflosen Nächte und übervollen Dienstpläne. Ich war Mitte zwanzig; das Leben, das mich umgab und das vor mir lag, verhieß eine immer tiefere Verbundenheit mit Karriere, Gesellschaft, Freunden. Warum sonderst du dich ab?, fragte ich mich, wenn ich ein paar Tage frei bekommen hatte und schon wieder auf einer Fähre stand, den Blick auf den blauen Horizont gerichtet.

Zwischen den Verlockungen von Isolation und Verbundenheit lag eine Spannung, die ich gar nicht unbedingt aufzulösen versuchte – oder aufzulösen hoffte.

Welche Hoffnungen hege ich für die Leser dieser Betrachtungen über Inseln? Dass sie erst einen Text über eine Insel lesen und dann noch einmal eine Karte anschauen – die Konturen, Häfen, Strände und Flüsse? Dass sie eine Reise hin zu ein paar mir bekannten Inseln unternehmen und diese Inseln mit ihren eigenen Träumen besetzen?

Und was erhoffe ich für mich persönlich? Eine Einschätzung des Wertes der Abgeschiedenheit in einer immer enger verbundenen Welt? Isolation und Verbundenheit – beides zu kartieren, fühlte sich an wie eine Schachpartie gegen mich selbst: jeder Zug ein kleiner Schubs in Richtung eines gemeinsamen Triumphs, eines Remis oder einer gemeinsamen Niederlage.

Unst erwies sich als praktische, arbeitsame Insel mit einer unauffälligen Tourismusbranche. Die Autarkie der Inselbewohner ließ sich an der engen Übereinstimmung der Nachnamen auf dem Friedhof mit denen im aktuellen Telefonbuch ablesen: Petersson, Cluness, Ritch, Jamieson.

Vor der Nordspitze der Insel, jenseits des Vogelschutzgebiets von Herma Ness, liegt das Inselchen Muckle Flugga, die nördlichste der Britischen Inseln. Muckle Flugga, nur wenige Hundert Meter lang, ist berühmt für jene Klippen voller brütender Tölpel, auf denen sich der Albatros so heimisch fühlte. Muckle geht zurück auf das altnordische Wort für »groß«, und Flugga (»steile Felswand«) ist wohl mit unserem »fliegen« verwandt. Dahinter kommt nur noch Out Stack, eine knubbelige Keule aus Stein, glatt geschliffen von den ewigen Wogen des Atlantiks.

Könnte es sein, dass die Liebe zu Inseln keine Neigung ist, sondern eher ein Krankheitsbild? In seinem Essay »Die Frage des Mitteilens und des Nicht-Mitteilens« schrieb der Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott: Jungen und Mädchen in der Adoleszenz lassen sich auf mancherlei Weisen beschreiben, und eine davon betrifft den Jugendlichen als Isolierten. Die Bewahrung der persönlichen Isoliertheit ist ein Teil der Suche nach Identität. Im Weiteren stellt Winnicott die These auf, dass sich Teenager von ihren Eltern und ihren Therapeuten isolieren, weil sie nur so genügend Raum finden, um ein authentisches Selbst aus dem Chaos ihres Erlebens heraufzubeschwören. Der Trick zum Lindern ihrer Not, meinte Winnicott, bestehe im Erschaffen eines therapeutischen Gefühls von Isoliertheit, ohne den Jugendlichen zu erlauben, sich von der Welt abzuschotten. Ich grüble immer noch, was er mit dieser Unterscheidung wohl meinte.

Ich fragte einen Psychoanalytiker. »Isolation«, sagte er, »ist für Jugendliche ein Motor zum Verlassen der Familie. Wenn ein Kind auf eine Weise erzogen wird, die die Kindheit zu stark idealisiert, reduziert sich seine Motivation, die Aufgaben des Heranwachsens anzupacken – ein Gefühl für den eigenen Körper zu entwickeln, für Sex, für Arbeit, für die eigenen Fähigkeiten, für die Desidentifikation mit den Eltern.«

»Dieser Prozess kann auch zu weit gehen«, fügte er hinzu und begann, mir von den Pathologien der Seele zu erzählen, von autistischen und psychotischen Inseln.

Heute können Smartphones praktisch alle Menschen miteinander verbinden, überall, wodurch sich möglicherweise auch die Qualität von Isolation geändert hat. Um einen Hauch des Nervenkitzels und der Erleichterung des Von-der-Außenwelt-abgeschnitten-Seins zu erleben, reicht es schon, einfach vom Netz zu gehen.

In meiner eigenen Kindheit und Jugend fanden Familienferien oft auf den Campingplätzen an der Küste der schottischen Grafschaft Fife statt, wo die Mündung des Flusses Forth sich in die Weite der Nordsee öffnet. Die Region Lothian auf der gegenüberliegenden südlichen Seite, wo ich heute lebe, war an klaren Tagen am Horizont zu sehen. Einst war die Küste von Fife die Heimat von Alexander Selkirk, dem 1676 geborenen Sohn eines Gerbers, der später Navigator und Freibeuter – eine Art staatlich geförderter Pirat – wurde; im Jahr 1704 setzte man ihn auf einer Insel im Südpazifik aus. Die Rettung kam erst nach vier Jahren und vier Monaten. Selkirks Geschichte inspirierte Daniel Defoe zu seiner Erzählung Robinson Crusoe.

Mein Bruder und ich schliefen auf Campingliegen im offenen Vorzelt eines Wohnwagens. Während ich auf den Schlaf wartete, pflegte ich das Glühwürmchen-Aufflackern der Leuchttürme an der gegenüberliegenden Küste zu zählen. Am nächsten lag das Leuchtfeuer auf der Isle of May, mitten im Meeresarm, das alle fünfzehn Sekunden zwei weiße Blitze aussandte.

Einer der ältesten Leuchttürme Nordeuropas steht bis heute auf der Isle of May. Er bestand ursprünglich aus einem einfachen Kohlenbecken auf einem aus Stein erbauten Turm, in dem 1636 erstmals ein Feuer entzündet wurde. Selkirk muss auf seinem Weg zur offenen See daran vorbeigesegelt sein, wie auch bei der Heimkehr nach seiner jahrelangen »Robinsonade«. Ich hoffte, eines Tages dorthin zu gelangen.

Als Junge besaß ich eine gekürzte Ausgabe des Schweizerischen Robinson. Diese ursprünglich auf Deutsch verfasste Geschichte handelt von einer Familie, die auf dem Weg nach Australien Schiffbruch erleidet und sich auf einer einsamen Insel ein neues Leben aufbauen muss, wobei ihr die Figur Robinson Crusoe als Vorbild dient. Der Autor war stark von Jean-Jacques Rousseaus Erziehungstheorien geprägt. Als das Jahrzehnt der familiären Abgeschiedenheit zu Ende geht, entscheiden sich einige Familienmitglieder für eine Rückkehr in die Zivilisation, während andere an dem Ort bleiben, der mir damals wie ein Paradies vorkam. Und so kommt er mir heute immer noch vor.

Im Alter von einundzwanzig Jahren erbte der Schriftsteller Adam Nicolson die Shiant Isles, einen winzigen Archipel zwischen dem schottischen Festland und der Hebrideninsel Lewis. In seinem Buch über diese Inselgruppe, Sea Room, schrieb er: Vielleicht [] ist die Liebe zu Inseln ein Symptom der Unreife, ein Sich-Abwenden von den Komplexitäten der wirklichen Welt hin zu einem viel einfacheren Ort, wo Optionen offensichtlich sind und Belohnungen unmittelbar erfolgen. Und vielleicht lässt sich das noch einen Schritt weiter denken: Ist nicht die ganze romantische Episode, von Rousseau bis D. H. Lawrence, eine enorm verlängerte und egoistische Pubertät?

Meine Arbeit als Arzt verlangt, dass ich in die Komplexitäten menschlicher Beziehungen eintauche. Nur wenige Berufe sind besser geeignet für jemanden, der sich für all jenes interessiert, was Menschen motiviert und inspiriert und was sie verbindet.

Aber im Lauf meiner Jugend, meines Medizinstudiums und meiner Facharztausbildung dämmerte mir, dass ich Inseln aufsuchte, um mein Gefühl für das, was zählt, neu zu kalibrieren. Ihre fehlende Verbundenheit – ihre Isolation – wirkte auf eine Weise therapeutisch, die ich nur schwer in Worte fassen konnte.

Als ich Muckle Flugga zum ersten Mal sah, fand ich, genau wie der Albatros, dass die Insel wie ein Zuhause wirkte. Ein Leuchtturm, erbaut im 19. Jahrhundert von der berühmten Familie Stevenson, klammert sich wie eine Napfschnecke an den höchsten Grat. Im Westen wird er vom Atlantik umspült, im Osten von der Nordsee. Während der Bauzeit (der Leuchtturm wurde 1858 vollendet) kam ein Sohn der Familie vorbei, der junge Robert Louis Stevenson, und es kursiert das Gerücht, die Landkarte in seinem Roman Die Schatzinsel basiere auf den Umrissen von Unst.

In meiner Heimatstadt Edinburgh komme ich oft an der Zentrale des Northern Lighthouse Board, der schottischen Leuchtturmverwaltung, vorbei, wie ein poliertes Messingschild in Augenhöhe verkündet, an einer adretten Straße aus dem Georgianischen Zeitalter. Das Emblem der Behörde ist ein minarettartiger Leuchtturm, weiß vor einem Hintergrund aus Iznik-Keramik-Blau, der über einer flachen Schale voller weiß bekrönter Hokusai-Wellen emporragt. Die Wellen sehen aus wie Sägeblätter und brechen sich so ordentlich an den geriffelten schwarzen Felsen, dass schwer auszumachen ist, wo die Wellen enden und wo das Fundament des Leuchtturms beginnt. Wie es in Virginia Woolfs Roman Die Fahrt zum Leuchtturm heißt: ein starker Turm auf einem nackten Felsen.

In Salutem Omnium – »Zum Heil aller« – steht in goldenen Lettern auf einem Banner, das um das Lampenhaus des Turms drapiert ist.