Ein Mann, allein in seinem Zimmer in der Nacht vor seinem vierzigsten Geburtstag, steigt schreibend hinab in den Schacht seiner selbst. Er entblößt sich, um seiner eigenen Wahrheit auf den Grund zu kommen und nicht zuletzt seiner Schuld: Als Jugendlicher hat er einem Mädchen sexuelle Gewalt angetan. Aber nicht im Gericht über sich selbst erfüllt sich die Suche, sondern – paradoxerweise – im vollkommenen Tagtraum.

Juan Carlos Onetti, 1909 in Montevideo geboren, ist, neben Borges, der andere große Autor aus dem Süden des amerikanischen Subkontinents. Joseph Conrad, Marcel Proust, James Joyce, Louis-Ferdinand Céline, William Faulkner – Onetti hat wiederholt die großen Romanautoren des 20. Jahrhunderts benannt, die ihn geprägt haben. An ihm selbst haben sich nachfolgende Schriftstellergenerationen nicht nur in Lateinamerika maßgebend orientiert. Sein langsam, aber stetig wachsender Ruhm hinderte die Militärregierung 1974 nicht, ihn für einige Monate zu inhaftieren. Er emigrierte nach Madrid, wo er 1994 starb. Im Suhrkamp Taschenbuch sind bisher die Romane Das kurze Leben (st 4849), Leichensammler (st 4848) und Die Werft (st 4847) sowie eine Auswahl seiner Erzählungen Die so gefürchtete Hölle (st 4992) erschienen.

Jürgen Dormagen, Lektor, Herausgeber der Werkausgabe Onetti, Übersetzer (Angeles Saura, Juan Carlos Onetti, Jean Stafford), lebt in Berlin.

Juan Carlos Onetti

Der Schacht

Roman

Aus dem Spanischen von Jürgen Dormagen

Suhrkamp

Die Originalausgabe erschien 1939 unter dem Titel El pozo. Nähere Angaben in der Editorischen Notiz.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5038.

© Heirs of Juan Carlos Onetti 1939

© dieser Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2020

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

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eISBN 978-3-518-76747-4

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Der Schacht

Vor einer Weile ging ich im Zimmer umher, und plötzlich fiel mir auf, daß ich es zum erstenmal sah. Da sind zwei Pritschen, schiefbeinige Stühle ohne Sitzfläche, von der Sonne vergilbte, Monate alte Zeitungen, die statt Scheiben vor das Fenster geheftet sind.

Ich ging mit nacktem Oberkörper auf und ab, war es leid, seit dem Mittag herumzuliegen und in der verfluchten Hitze zu schnaufen, die das Dach sammelt und jetzt, immer gegen Abend, ins Zimmer ergießt. Ich ging mit den Händen auf dem Rücken, hörte die Schlappen auf den Fliesen klatschen und roch abwechselnd an meinen beiden Achselhöhlen. Ich bewegte den Kopf einatmend von einer Seite zur anderen, und dadurch entstand auf meinem Gesicht, ich fühlte es, eine angeekelte Grimasse. Das unrasierte Kinn schabte mir über die Schultern.

Ich erinnere mich, daß ich mir zunächst etwas Einfaches vorgestellt habe. Eine Prostituierte zeigte mir ihre linke Schulter, gerötet, mit abgeschürfter Haut, und sagte:

»Wenn das keine Schweinehunde sind. Zwanzig jeden Tag, und keiner rasiert sich.«

Sie war eine kleine Frau, mit spitz zulaufenden Fingern, und sie sagte es, ohne sich zu entrüsten, ohne laut zu werden, in demselben gezierten Tonfall wie bei der Begrüßung an der Tür. Ich kann mich nicht an das Gesicht erinnern; ich sehe nur die Schulter, aufgescheuert von den Bartstoppeln, die immer gegen diese eine Schulter gerieben hatten, nie die rechte, die gerötete Haut und die darauf zeigende Hand mit den schlanken Fingern.

Danach schaute ich aus dem Fenster, abwesend, und versuchte herauszufinden, wie das Gesicht der Prostituierten war. Die Leute im Hof erschienen mir widerwärtiger denn je. Da war, wie immer, die dicke Frau, die im Trog Wäsche wusch und über das Leben und den Händler an der Ecke murrte, während der Mann vornüber gebeugt, das weißgelbe Halstuch baumelte vor der Brust, Mate trank. Der Junge kroch auf allen vieren herum, Hände und Maul dreckverschmiert. Er hatte nur ein hochgerutschtes Hemd an, und beim Anblick seines Hinterns mußte ich denken, wie es Menschen gab, eigentlich alle, die imstande waren, für so was Zärtlichkeit zu empfinden.

Ich ging weiter durchs Zimmer, mit kurzen Schritten, damit die Schlappen bei jeder Runde möglichst oft klatschten. Da muß ich mich wohl erinnert haben, daß ich morgen vierzig werde. Nie hätte ich mir den vierzigsten Geburtstag so vorstellen können, allein und mitten im Dreck, in ein Zimmer gepfercht. Aber das machte mich nicht trübsinnig. Nur ein Gefühl der Neugier auf das Leben und ein wenig Bewunderung für seine Fähigkeit, einen immer wieder aus der Fassung zu bringen. Nicht einmal Zigaretten habe ich.

Keine Zigaretten, keine Zigaretten. Was ich hier schreibe, sind meine Erinnerungen. Denn ein Mann soll die Geschichte seines Lebens aufschreiben, wenn er die Vierzig erreicht, vor allem, wenn ihm interessante Dinge zugestoßen sind. Das habe ich irgendwo gelesen.

Ich fand einen Bleistift und einen Haufen Flugblätter unter Lázaros Bett, und jetzt kümmert mich das alles wenig, der Dreck, die Hitze und die Jammergestalten vom Hof. Es stimmt, ich kann nicht schreiben, aber ich schreibe von mir selbst.

Jetzt spürt man die Hitze weniger, und vielleicht kühlt es in der Nacht ab. Das Schwierige ist, den Ausgangspunkt zu finden. Ich bin entschlossen, nichts aus der Kindheit aufzuschreiben. Als Kind war ich ein Dummkopf; erst Jahre später setzt meine Erinnerung an mich ein, auf der Estancia oder während der Universitätszeit. Ich könnte von Gregorio sprechen, dem Russen, der tot im Bach auftauchte, von María Rita und dem Sommer in Colonia. Tausenderlei Dinge, ich könnte Bücher damit füllen.

Ich habe mit dem Schreiben aufgehört, um Licht zu machen und meine Augen zu erfrischen, die mir brannten. Es muß die Hitze sein. Aber jetzt möchte ich etwas anderes. Etwas Besseres als die Geschichte all dessen, was mir zugestoßen ist. Ich würde gerne die Geschichte einer Seele niederschreiben, bloß ihre, ohne die Ereignisse, in die sie sich hineinziehen lassen mußte, ob sie wollte oder nicht. Oder die Träume. Von irgendeinem Albtraum, dem am weitesten zurückliegenden, an den ich mich erinnern kann, bis zu den Abenteuern in der Blockhütte. Als ich auf der Estancia war, habe ich viele Nächte geträumt, daß ein weißes Pferd auf mein Bett springt. Ich erinnere mich, daß man mir sagte, schuld daran sei José Pedro, weil er mich vorm Schlafengehen immer zum Lachen brachte, indem er gegen die elektrische Lampe pustete, um sie auszumachen.

Das Komische ist nur, wenn jemand von mir sagen würde, ich sei »ein Träumer«, würde mich das ärgern. Es ist absurd. Ich habe gelebt wie jeder andere auch, oder mehr noch. Wenn ich heute von den Träumen reden will, dann nicht, weil ich nichts anderes zu erzählen hätte. Sondern weil ich Lust dazu habe, ganz einfach. Und wenn ich den Traum von der Blockhütte nehme, hat das keinen besonderen Grund. Es gibt andere Abenteuer, die runder sind, interessanter, besser angeordnet. Aber ich bleibe bei dem von der Hütte, weil es mich zwingt, ein Vorspiel zu erzählen, etwas, das sich vor etlichen Jahren in der Welt der Tatsachen ereignet hat. Es wäre auch kein schlechter Plan, nacheinander ein »Ereignis« und einen Traum zu erzählen. Dann wären wir alle zufrieden.

Es geschah an einem 31. Dezember, als ich in Capurro lebte. Ich weiß nicht, ob ich fünfzehn oder sechzehn Jahre alt war; mit etwas Nachdenken wäre es leicht festzustellen, aber es lohnt sich nicht. Ana Marías Alter weiß ich ohne Zögern: achtzehn Jahre. Achtzehn Jahre, denn sie starb einige Monate danach und ist immer noch genau so alt, wenn sie nachts die Tür der Hütte öffnet und, ohne ein Geräusch zu machen, zum Blätterbett läuft, um sich darauf auszustrecken.

Es war Silvester und das Haus voller Leute. Ich erinnere mich an den Champagner, daran, daß mein Vater einen neuen Anzug trug und daß ich traurig oder wütend war, ohne zu wissen warum, wie immer, wenn sie Gäste da hatten und es hoch herging. Nach dem Essen gingen die Jungen raus in den Garten. (Drollig, daß ich »die Jungen« geschrieben habe und nicht »wir Jungen«.) Schon damals hatte ich mit niemandem etwas zu schaffen.

Es war eine heiße Nacht, ohne Mond, mit einem schwarzen Himmel voller Sterne. Aber es war nicht die Hitze von heute nacht in diesem Zimmer, sondern eine Hitze, die sich zwischen den Bäumen bewegte und an einem vorbeistrich wie der Atem von einem, der etwas zu uns sagt oder gerade dazu ansetzt.

Ich saß auf ein paar Säcken hartgewordenen Zements, allein, und neben mir stand eine Hacke mit von Kalk weißem Stiel. Ich hörte das Gekreisch der Tröten, die sie für diesen Zweck gekauft hatten und die zusammen mit dem Champagner gereicht wurden, um das alte Jahr zu verabschieden. Im Haus wurde Musik gespielt. Ich blieb lange Zeit so sitzen, ohne mich zu bewegen, bis ich das Geräusch von Schritten hörte und das Mädchen sah, das den Sandpfad entlangkam.

Es mag unglaublich klingen, aber ich erinnere mich genau: Von dem Augenblick an, wo ich Ana María erkannte – an ihrer Art, einen Arm vom Körper abzuwinkeln, und an der Neigung des Kopfes –, wußte ich alles, was in dieser Nacht geschehen würde. Alles außer dem Ende, auch wenn ich etwas in diesem Sinne erwartete.

Ich stand auf und ging ihr nach, um sie einzuholen, den Plan genau im Kopf, ich kannte ihn, als handelte es sich um etwas, das uns bereits zugestoßen und dessen Wiederholung unumgänglich war. Sie wich ein wenig zurück, als ich sie am Arm faßte; immer zeigte sie mir gegenüber Abneigung oder Furcht.

»Hallo.«

»Hallo.«