Niemandsland erzählt von einer lose verbundenen Clique mit sich überkreuzenden erotischen Beziehungen: ein Maler, ein Schriftsteller, ein Anwalt, ein linksrevolutionärer Gewerkschaftler, der Zuhälter Larsen, ein junges Mädchen, die Frau mit dem gelben Haar, eine Prostituierte – nicht das Gefüge der Handlung, sondern die kaleidoskopartige Erzählperspektive, mit der die Lebenswünsche und Lebenslügen all dieser Figuren im Geflecht ihrer Beziehungen dargestellt werden, macht die Intensität dieses frühen Werks Onettis aus.
Juan Carlos Onetti, 1909 in Montevideo geboren, ist, neben Borges, der andere große Autor aus dem Süden des amerikanischen Subkontinents. Joseph Conrad, Marcel Proust, James Joyce, Louis-Ferdinand Celine, William Faulkner – Onetti hat wiederholt die großen Romanautoren des 20. Jahrhunderts benannt, die ihn geprägt haben. An ihm selbst haben sich nachfolgende Schriftstellergenerationen nicht nur in Lateinamerika maßgebend orientiert. Sein langsam, aber stetig wachsender Ruhm hinderte die Militärregierung 1974 nicht, ihn für einige Monate zu inhaftieren. Er emigrierte nach Madrid, wo er 1994 starb. Im Suhrkamp Taschenbuch sind bisher die Romane Das kurze Leben (st 4849), Leichensammler (st 4848), Die Werft (st 4847) und Der Schacht (st 5038) sowie eine Auswahl seiner Erzählungen, Die so gefürchtete Hölle (st 4992), erschienen.
Sabine Giersberg übersetzt seit vielen Jahren aus dem Spanischen, unter anderem Ricardo Piglia, Martín Caparrós und Marcelo Figueras. Sie lebt in Schwetzingen.
Juan Carlos Onetti
Niemandsland
Roman
Aus dem Spanischen von Sabine Giersberg
Suhrkamp
Die Originalausgabe erschien 1941 unter dem Titel Tierra de nadie. Nähere Angaben in der Editorischen Notiz.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 5039.
© Heirs of Juan Carlos Onetti 1941
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Berlin 2020
Suhrkamp Taschenbuch Verlag
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eISBN 978-3-518-76749-8
www.suhrkamp.de
Für Julio E. Payró
mit wiederholtem Grimm
Das Taxi bremste an der Ecke der Diagonal, und der Körper der Frau mit dem gelben Haar wurde zum Fahrer hin gestoßen. Der gesenkte Kopf starrte immer noch auf den blauen Brief, der ihre Schenkel trennte. ›Wir werden aufeinander zurückgeworfen wie ein Ball, ein Reflex…‹
Während sie seufzte ›wir werden aufeinander zurückgeworfen‹, kam überraschend die Geburt des großen roten Schriftzuges.
Ein Blutfleck: »Bristol.« Dann sogleich der bläuliche Himmel und ein weiterer Lichtstoß: »Importierte Zigaretten.« Wieder der Himmel. Im Kreuz der Straßen schlugen die riesigen Buchstaben auf die Flanke des ersten Wolkenkratzers, auf seinen Stufenturm. Bristol, die Luft, Zigaretten, kleine Wölkchen. Die roten Lichtstöße liefen über die verlassenen Dachterrassen und befleckten flüchtig das finstere Grau der Brüstungen.
Durch das schmutzige Fenster ließen sie das Lachen des Mannes auf dem Bild an der Wand erröten. Ein schnell geschlossener Fächer an den Wänden und ein dicker Balken quer über dem bereits erkalteten Griff der Pistole auf der Bettdecke.
Die Hand des schlafenden Mannes hing über dem Boden. Den Schatten und den vorbeihuschenden roten Worten entrückt, atmete der Mann langsam und geräuschvoll, eine Hand an der Gürtelschnalle, die rechte über den Dielen voller Flecken und Spucke.
Draußen, im gelben Licht des Flures, schob sich eine weitere Hand vor und legte sich um die Türklinke. Abgesperrt. Der dicke Mann zog gereizt die Finger ein und wartete. ›Er wird doch nicht auf die Idee gekommen sein…‹ Er klopfte mit den Fingerknöcheln an die Tür.
Aber das einzig Lebendige in dem kleinen Zimmer war das Flimmern des Lichtes an der Wand und der breite, rasche Streifen, der über das Bett glitt.
Er klopfte erneut, nun mit der Faust, wieder und wieder. Dazwischen wartete er, strich sich über das fleischige Kinn und blinzelte zu dem schmutzigen Licht hin.
Das Klopfen drang zu dem liegenden Mann wie rasche Gongschläge, und im stillen Land des Schlafes wurden die Geräusche in ebendiese goldene Scheibe des Gongs verwandelt. Ein leuchtender Mond drehte sich wie wild, kam näher, stieg auf und nahm den Mann schließlich mit nach oben. Wieder verspürte er die Angst des Wachzustandes, nur wegen der drei rhythmischen Schläge an der Tür. Er blieb sitzen und schüttelte im Dunkeln das Gesicht. Tock, tock, tock, machten die Schläge. Die Hand tastete auf der Decke nach dem Griff der Waffe. Er lauschte reglos inmitten ferner Geräusche und seines Atems. Wieder sprangen ihn die Schläge an, wütend und ungeduldig.
Er stand ganz auf und schlurfte in Strümpfen über die Kühle der Dielen. Die Tür sagte:
»Ich bin's. Mach auf.«
Er atmete auf, und sein Körper entspannte sich, er machte das Licht an, zog den Schlüssel aus der Tür und kehrte zum Bett zurück, mit dem Rücken zu dem eintretenden Mann.
Larsen schloß die Tür. Er kam langsam herein, klein und rund, die Hände in den Taschen des dunklen Mantels.
»Ich dachte, du bist nicht da, hm?«
Der Mann in Strümpfen warf den Revolver auf das Bett.
»Ja. Ganz genau.«
Er streckte im Sitzen die Beine aus und gähnte. Da war etwas Feiges, Befangenes, eine plumpe Verstellung in dem gleichgültig zur Grimasse verzogenen Gesicht.
»Hör zu. Heute nacht habe ich kein Auge zugetan. Ich weiß nicht einmal, bis wann.«
Larsens kleiner aufgeworfener Mund deutete auf den Revolver.
»Angst vor einem Türken zu haben…«
Er lachte schrill auf wie eine Frau. Mit dem Bein angelte er sich einen Stuhl und setzte sich.
»Du hast also Angst. Der Indio Óscar, unser ›Indio‹. Und das vor einem Türken, hm?«
Er lachte wieder. Er schüttelte den Kopf und warf ein Päckchen Zigaretten Richtung Bett. Gierig nestelte der andere daran. Das Feuerzeug schimmerte im leeren Glas auf dem Nachttisch auf. Larsen sah ihn mit einem kleinen Leuchten in den Augen an, den Mund zusammengepreßt.
»Du hattest keine Zigaretten, hm? Der Türke erlaubt dir also nicht…«
Er lachte, daß sein ganzer Körper bebte, die Fettpolster im Gesicht blieben fast reglos. Plötzlich wurde er ernst, zwei Speichelfäden am Mund, und sah den Mann auf dem Bett hart an.
»Na schön… Was machen wir?«
Der andere streckte langsam die Hand mit der Zigarette weg und hob einen bösartigen Blick.
»Hast du mir nicht selbst ausrichten lassen, ich soll nichts tun, ich soll ruhig bleiben und nichts tun?«
Larsen zog an den Manschetten, die seine halbe Hand bedeckten.
»Das habe ich dir ausrichten lassen, weil ihr alle nur Unsinn anstellt. Wie mit dieser Türkin. Man muß schon dämlich sein, wirklich. Was für ein Hornochse.«
»Es ist nun mal passiert.«
»Schon gut. Mein Reden.«
Er holte eine Zeitung hervor und faltete sie langsam auf. Er ging die Spalten durch, folgte mit dem Kopf der Zickzackbewegung der Buchstaben. Óscar musterte sein Gesicht. Sanfter Glanz umschmeichelte das Fleisch an Kinn und Wangen. Im Nebenzimmer ging jemand umher. Man hörte einen Boiler aufflammen und unverständliche Stimmen. Frauenabsätze klapperten auf der Treppe. Óscar drückte die Zigarette aus. Zusammengekauert betrachtete er Larsens gefahrvolles Schweigen. Er tastete sich langsam vor:
»Ich weiß ja… Ich würde sie liebend gern auf den Mond schießen. Den lieben langen Tag, wie man so sagt, mit so einer und… Na ja, eine Frau, die…«
Larsen nahm die Zeitung herunter, sah sich suchend um und spuckte schließlich zum Fenster hin.
»So was nennt sich also Frau. Stinkende Türkin.«
Er widmete sich weiter den Schlagzeilen. Dann blickte er zur Decke auf.
»Sag mal, am Tag des Zusammenstoßes, hat da Capicúa gewonnen? Oder letzten Samstag, hm?…«
Er legte die Zeitung auf den Tisch. Er atmete vernehmlich, den Mund zu einem O geformt. Langsam schob er seinen Hut in den Nacken. Einen Moment lang verharrte er reglos, hypnotisiert vom Schimmer seiner auf den Tisch trommelnden Fingernägel. Plötzlich streckte er den Zeigefinger und das rundliche Gesicht Richtung Bett aus. Seine Stimme bebte, sie war ganz dünn geworden, fast ein Maunzen:
»Wußtest du nicht, daß sie minderjährig war?«
Óscar lachte, den Blick auf den Boden gerichtet.
»Man schätzt eben. Bei dem Körper.«
»Aha. Und warum hast du sie geschlagen?«
»Warum?«
Ein erstauntes, dummes Gesicht blickte vom Bett hoch.
»Warum ich sie geschlagen habe?« Er wiederholte die absurde Frage und lachte.
»Ja«, sagte Larsen. »Du bist ein Mordskerl, was? Aber wenn ich dir nicht aus der Patsche helfe…«
Er bückte sich und zog an den seidenen Strümpfen. Der Hut verbarg das Gesicht. Hinter dem schwarzen Oval wurde die Stimme eine andere, süßlich, bezwingend:
»Man hat dich nämlich gestern abend gesucht. Im Bajo. Auch bei García.«
Der andere explodierte:
»Zur Hölle mit ihnen. Was soll ich tun?«
Larsen richtete sich lächelnd auf.
»Keine Ahnung. Was meinst du?«
Óscar zuckte die Achseln. Er zündete sich eine neue Zigarette an und ging zum Fenster. Die Lichter der Straße, große bunte Plakate am Theater. Larsen meinte:
»Abhauen hat keinen Zweck. Egal wo du hingehst, man wird dich finden. Ich an deiner Stelle würde eines tun. Etwas anderes bleibt dir nicht übrig.«
Der andere drehte sich um, seine Hoffnung kaschierend.
»Sag schon.«
»Schau, ich an deiner Stelle würde mich stellen. Mach nicht lange herum.«
»Und ein paar Jahre absitzen. Sehe ich etwa so aus…«
Larsen streckte eine Hand nach der Zeitung aus. Óscar kam auf ihn zu.
»Aber denk doch mal nach… Ich geh da nicht selbst hin…«
»Na gut. Früher oder später werden sie dich schnappen. Man kann einen Anwalt aufsuchen und eine Schmonzette auftischen. Alles andere ist Schwachsinn.«
»Aber du hast mir doch gesagt, Guerra…«
»Klar. Der Esel hat geplaudert. Aber ich habe einen, den mir Balsa vorgestellt hat.«
Óscar suchte Larsens kleine, faltige Augen. Da war nichts. Lasch hob er die Arme.
»Wenn du dir sicher bist… Aber schau…«
Larsen zog seine Brieftasche heraus und suchte.
»Hier. Das ist die Karte. Aránzuru. Bestimmt ein Ausländer. Laß uns telefonieren.«
Óscar folgte dem gelangweilten Schlingern des anderen. Automatisch dachte er: ›Ich könnte ihm einen Schuß in den Nacken verpassen.‹ Der schwarze Kragen war von Schuppen übersät. Er stützte sich auf das Geländer im Flur, während Larsen wählte.
Im leeren Flur der Schriftzug DIEGO E. ARÁNZURU in schwarzen Buchstaben auf der Glasscheibe der Tür. Drinnen ein durch den Vorhang eindringender Lichtschein, leichte Wellen von Musik aus der Bar oben im elften Stock. Vibrierend begann das Telefon zu schnarren. Das über die Schublade gebeugte Mädchen hielt inne. Sie lauschte auf das Brummen in der Dunkelheit wie auf ein gefährliches, geflügeltes Insekt, das herumschwirrte und sie suchte.
Das Sirren kam aus dem Telefon und stieg in die Höhe. Es prallte gegen den Tresor, die 23 des Kalenders, glitt die Stofftapete herunter, den gequälten Kopf auf dem Bild, den weißen Fleck des gerahmten Diploms. Auf dem Rückweg wechselte es die Seite, streifte die Maschine in ihrer Hülle, die dicken Bücher, und das allerletzte Summen sprang flink vom Tischrand und versteckte sich wieder im Apparat.
Nora sank mit geschlossenen Augen in den Sessel und streckte die dünnen Beine unter dem Tisch aus. Sie atmete schnell den Schreck weg und hörte auf einmal das Blut an ihrem Hals galoppieren.
Murrend legte Larsen den Hörer auf. Vom Geländer aus sah Óscar ihn haßerfüllt an.
»Und?«
»War nicht da. Dann eben morgen.«
»Habe ich dir nicht gesagt…«
Larsen formte wieder verächtlich den Mund zu einem O. Doch dann zuckte er nur die Achseln, mit einer Spur Mitleid für den Mann im Unterhemd, der jetzt nervös und zusammengesunken auf und ab ging.
»Hör auf damit. Ich weiß, wo ich ihn erreichen kann, bestimmt.«
Er nahm den Hörer ab und suchte in der schmutzigen Dunkelheit der Decke nach der Nummer, die er brauchte. Eine teigige Altfrauenstimme rieselte herab:
»Catalina.«
Ein Schuhklappern schlängelte sich die Treppe hinauf. Über das Geländer gebeugt, hörte Óscar das Telefon wählen. ›Wenn ich nicht nachdenke, findet er ihn.‹ Unter dem leicht geneigten Kopf der hinauflaufenden Frau hüpften die großen Brüste. Ihr Gesicht war geschminkt, klimpernde Armbänder waren bis zum Ellbogen gerutscht. Sie erschien im Licht, bog ab und ging mit hochmütigem Blick zwischen ihnen hindurch. Gähnend sah Óscar sie das nächste Stück Treppe hinaufsteigen, den Blick auf den Hintern der Frau geheftet. Das Schreien wurde lauter:
»Catalina. Te possa venere!«
Die acht Hände befanden sich in dem Kegel, den der grüne Lampenschirm in der Dunkelheit erzeugte. Die behaarten Hände mischten die Karten schnell mit einem leisen Zischen. Die weißen Hände schliefen ihren unruhigen Schlaf auf dem Spieltisch. Eine Hand, rund und geschwollen, streifte die Zigarette im Aschenbecher ab, während die andere sich jenseits des Lichts verlor, wosie das Gewicht des traurigen zerzausten Kopfes stützte. Die Hände, wie die von Frauen, strichen über die kleine Säule der Chips, bogen sie und richteten sie wieder gerade.
Die Stimme des Mannes mit den Karten wirkte ebenso behaart wie seine Hände.
»Na, María Luísa. Leg nach.«
Eine der Hände, die einer Frau, streckte die Finger aus und legte einen Chip in die Mitte des Tischs. Die tiefe Stimme lachte spöttisch:
»Nicht doch, María Luisa. Das bringt dir Unglück.«
Flink verteilten die haarigen Hände die zwanzig Karten. Oben, unsichtbar in der Nacht, verharrte reglos und melancholisch das Gesicht zu den geschwollenen Händen und betrachtete seine Karten. Die Hand wie von einer Frau legte fünf Chips in den Pot. Sie streute sie rasch aus und zog sich zurück. Aus den Fingern des Mannes mit dem traurigen Gesicht rieselten monoton die Chips. Die weißen Hände ließen die Karten liegen. Eine gelangweilte Stimme betonte:
»Ich will nicht sehen.«
»Wie viele?«
Das Klingeln des Telefons hallte wie ein Alarmruf unter den Männern wider.
»Welcher Hornochse ist das denn?«
Die haarige Hand nahm den Hörer ab und ließ ihn im Lichtstrahl schweben.
»Ja? Salü. Nein, der läßt sich schon lange nicht mehr blicken. Warum kommst du nicht vorbei? Und… alle. Wie immer, fast alle. María Luisa natürlich. Da sie kein Kapital hat…«
Man hörte das Lachen in der Membran des Telefons pochen.
»Gut. Pech. Tschau.«
Er legte den Hörer wieder auf. Über den Tisch gebeugt, schob er mit der Zunge den erloschenen Rest der Zigarette herum.
»Wie viele?«
»Eine.«
Der Mann zu den weißen Händen bemerkte im Schutz der Dunkelheit:
»Das war der Dickwanst von Larsen, stimmt's? Was wollte der?«
»Er ist auf der Suche nach Aránzuru.«
»Ach ja. Der war lange nicht mehr hier.«
»Und, María Luisa. Pech in der Liebe…«
Das Lachen tanzte eine einzige Runde auf dem Tisch.
Óscar las, dem Rauch ausweichend, die Zigarettenmarke. Larsen kam achselzuckend auf ihn zu.
»Er war nicht da. Morgen schnappen wir ihn uns. Ein Tag hin oder her…«
Er ging ins Zimmer. Langsam schloß Óscar die Tür und setzte sich auf das Bett.
»Die suchen mich also.«
»Was hast du erwartet? Im Avón, im Garibaldi und bei der ganzen Sippschaft.«
Larsen zog den Mantel aus, setzte sich und legte die Füße auf den Tisch. Er schlug wieder die Zeitung auf. »Die Blockade von Tianjin«, »Das Dreier-Bündnis«, »Molotow Nachfolger von Litwinow.«
Wieder die Woge der Angst. Óscar legte sich aufs Bett, er fror, fühlte sich unendlich fern, wehrlos. Er zitterte, einsam, in einem unkoordinierten Gähnen:
»Dann hat man mich also auch bei García gesucht, sagst du?«
Aránzuru stieg aus dem Zug und ging durch die Unterführung. Die Luft dort war kühler. Sein Kopf berührte fast die in der Decke eingelassenen Lampenglocken. Er ging die beiden kurzen Treppen hoch, und ein kleiner Anfall von Müdigkeit ließ ihn innehalten und neugierig die Erdstraße betrachten. Er dachte, daß die Freundschaft des Menschen mit der Erde vorbei war. Was hatte er noch gemein mit den Farben des Himmels, den verkümmerten Bäumen der Stadt, ihren dunklen Massen und einem erleuchteten Fenster, einsam in der Nacht. Was hatte er noch mit irgend etwas gemein, das das Leben ausmacht, mit all den tausend Dingen, die es bilden, so wie die Worte den Satz.
Nené hatte die Finger am Kopf, in der Nähe des Nackens, um die Frisur festzustecken.
»Ich habe den Zug gar nicht kommen hören.«
Rasch hatte sie sein Gesicht ausspioniert. Sie küßten sich, und sie hakte sich bei ihm unter, und so ging sie von ihm gestützt, die linke Schulter nach vorn geschoben. Sie kamen an dem Drahtgeflecht vorbei, abgetrennt durch das Geflecht der Nacht und des Geästs. Sie sah ihn an, jetzt fast offen, während die Schritte geräuschlos die Erde platt traten. Sie tätschelte seine Wange:
»So ernst? So ernst mein Ernster? Ach, es gibt gute oder schlechte Nachrichten. Jetzt gibt es ein Fest im Club, und alle müssen erst mal ohne die Zeitschrift auskommen. Zumindest für heute abend. Violeta hat davon erfahren, war ja klar, und nicht locker gelassen, bis alle mitkamen. Aber wenn du nicht hin möchtest… Wir können auch zu Hause auf sie warten.«
»Na schön. Ich sage Dank sei Gott, Dank sei Violeta. Ich bin für das Fest. Es geht mir gut, sehr gut sogar, aber ich könnte das Gequatsche und all die Pläne, Pläne, Pläne nicht ertragen. Den ganzen Abend würden wir über den Namen der Zeitschrift diskutieren, dabei täten wir besser daran, es wäre besser für uns alle…«
Er sprach nicht weiter. Sie krallte die Fingernägel in seinen Arm.
»Nichts.«
Durch das alte Tor betraten sie den Park. Ein Stück weiter, zu ihrer Linken, waren die Lichter und die Tanzmusik. Aránzuru blieb stehen, um sich eine Zigarette anzuzünden. Bevor er das Streichholz wegschnippte, sagte er, die Zigarette lose zwischen den Lippen:
»Ich weiß nicht, ob du es dir bewußt machst. Pedro Espinel gegen Romy Pablo, Zahlung in Pesos. Nachfolge Prati gegen die soundsovielte Witwe von Cuevas, Zahlung in Hypotheken. Tagaus, tagein. Wenn ich wenigstens mal über den Mädchenaufschlitzer von Córdoba oder den Vampir von Villa Ballester stolpern würde…«
Gestalten und Stimmen huschten zwischen den Bäumen vorbei. Zu ihrer Rechten lachte unsichtbar, ohne sich zu rühren, ein Haufen Mädchen aus vollem Hals.
»Sind alle gekommen?«
Traurig sagte sie und vermied es dabei, ihn anzusehen:
»Ja. Violeta. Mauricio, Casal und Balbina, Llarvi. Wir haben alle zu Hause auf dich gewartet…«
»Ich habe Casal den Schlüssel von der Mühle mitgebracht.«
»Ja. Er hat mich danach gefragt.«
Sie gingen immer noch langsam, ein wenig getrennt. Nené verschränkte die Hände hinter dem Rücken. Aránzuru wurde klar, wie kindlich der braune, geneigte Nacken war. ›Die Kindheit; ein wenig Kindheit ist ihr im Nacken geblieben wie Wasser in einer Vertiefung.‹ Er erhob die Stimme.
»Und das mit Violeta und Sam and company?«
»Ja, Sam and company, wie Mauri sagt. Ja, abgemacht.«
»Heiliger Himmel, wie Nené sagt. Und sie?«
»Ach die. Die lacht und macht Witze, die ein wenig… Sie kommt einem vor wie eine Prostituierte, redet von Klamotten, Möbeln, Reisen, was weiß ich. Ich finde das unanständig. Sie liebt ihn nicht, und abgesehen davon, ist Sam tausendmal besser als sie.«
Aránzuru lachte. Die Musik klang jetzt sehr nah, als wäre sie unmittelbar hinter den Bäumen des Weges. Er zuckte die Achseln und entschied:
»Ist schon gut. Sie ist nett.«
»Ein Schatz. Aber unanständig bleibt unanständig, und wenn sie nicht in Sam verliebt ist, und wie wir alle wissen…«
»Quatsch.«
»Das ist einfach nicht loyal.«
»Quatsch. Gibt sie Sam, was er von ihr will oder nicht? Und weil wir alle wissen, daß dem so ist.« Jetzt hörte er das leicht heisere Lachen Nenés, und ihre Hand kehrte zu seinem Arm zurück. »Also was? Sie sind glücklich und versündigen sich nicht. Auch sie.«
Er umfaßte ihre Taille und wandte das Gesicht der pechschwarzen Nacht im Park zu, dort, wo die Worte ihre langgezogenen Vokale erklingen ließen, die sofort von fröhlichem Lachen überdeckt wurden. Die Stimmen, die sanft Geschichten und Unfug in der Dunkelheit erzählten. Bestimmt kicherten die Mädchen, die weißen Gesichter ganz nah beieinander, in denen die Augen funkelten und das Lachen zwei boshafte Linien in den Mundwinkeln hinterließ. Er streichelte Nenés Taille und fuhr mit einem Finger Richtung Bauch. Er spürte den Hüftknochen spitz in der Handfläche. Er würde nie die Gesichter der Mädchen sehen, Mädchenkörper, die er nie im Arm halten würde. Selbst wenn er bis zum Morgengrauen flehend zwischen den Bäumen herumliefe und die Finger nach den mundlosen Worten ausstreckte, die sich zwischen den Stämmen herumtrieben.
Casal bezahlte den Kellner im Pavillon, und sie gingen. Balbina ging voraus, an den drei Blüten in ihrem Ausschnitt riechend. Neben ihr, den langen Körper gebeugt, redete Llarvi weiter und half sich dabei, indem er die Luft mit raschen Handbewegungen durchschnitt:
»Man muß kein Gelehrter sein, verstehen Sie mich recht. Aber man muß ein Gefühl, so etwas wie einen Überblick über die Philosophie haben, über das, was die Philosophie vor Marx war. Nur so kann man ihn verstehen. Die Beschränktheit der Leute führt dazu, daß sie ihn auf die Wirtschaft reduzieren wollen, das muß man sich mal vorstellen… Natürlich unabhängig davon, ob man einverstanden ist oder nicht. Wie beim heiligen Augustinus. Erinnern Sie sich an das Gespräch neulich? Zu komisch. Schon gut. Sie sprechen von Auseinandersetzung… Ich finde das nicht, wir hatten keine Auseinandersetzung. Es ging hoch her, wenn Sie so wollen.« Er hob den Zeigefinger zwischen die Augen. »Ich schreib's der Hitze zu. Dem Nebel. Auch das ist möglich, bei Johnny Walker sage ich nicht nein. Aber all das hat nichts damit zu tun, ob man mit etwas einverstanden ist. Der heilige Augustinus. Ich bin nicht einverstanden.«
Er endete mit einem künstlichen Lachen, wie ein alter Mann unter jungen Leuten, der mithalten will. Das Lachen hinterließ eine unangenehme Erinnerung.
Mauricio knöpfte unter der Reihe bauchiger Papierlaternen das Jackett zu. Violeta lachte, an seine Schulter gelehnt.
»Keinen Schritt mehr«, wiederholte Mauricio.
Gegenüber von ihnen, etwas weiter im Dunkeln, kaute Casal auf seiner Pfeife herum. Die Losverkäuferin ging mit ihrem Bauernkleid und dem kleinen Korb vorbei. Sie zwickte Mauricio in die Nase, ernst, ohne stehenzubleiben.
»Einmal noch das Glück versuchen und ab ins Bett, Junge. Du bist betrunken.«
»Thank you, ich schlafe allein, ich habe einen Mantel. Ich sag noch mal, ich tue keinen Schritt mehr. Vorbei mit der Beschwichtigungspolitik. Einen mit dem heiligen Augustinus abfüllen. Und dann an diesem Abend. Außerdem macht er das mit Absicht. Nein. Vor mir zu philosophieren und zu schwadronieren ist eine persönliche Beleidigung. Ich fordere ihn nicht zum Duell, denn er ist imstande, das ernst zu nehmen.«
Violeta lachte weiter an seine Schulter gelehnt, ihr Kopf schaukelte. Es war nicht zu erkennen, wo sie hinsah.
»Laß uns gehen, Mauri, Maurito…«
»Das mit dem ›Einmal noch das Glück versuchen und ab ins Bett‹ war frech, aber berechtigt. Die Nacht ist verloren«, sagte Mauricio und streckte eine Hand zu Casals Brust aus. »Schau, das ist, wie wenn man spielt. Wer sich darauf versteift, die Pechsträhne zu durchbrechen, verliert. Peripatetizismus. Laßt uns peripateti… zieren, Herrschaften. Ich habe Llarvi etwas zu sagen, das gut zum heiligen Augustinus paßt.«
Llarvi und Balbina warteten und unterhielten sich unterdessen. Sie hatte ein starres Lächeln und bewegte den Kopf im Takt zu den Sätzen mit einer energischen Bekräftigung am Ende eines jeden. Mauricio schlug sich gegen die Stirn.
»Llarvi, wie konnte ich das nur vergessen. Etwas für Sie. Erinnern Sie sich an die kleine Polin, die Ihnen Tschechischunterricht gab? Nun, das war vor Urzeiten. In den goldenen Zeiten des guten Präsidenten Beneš. Erinnern Sie sich? ›Ich möchtän, ich schlieb.‹«
Llarvi, auf der Hut, wich mit dem Kopf zurück und erwiderte:
»Ja, selbstverständlich.« Dann ließ er die Stimme sogleich fröhlich, vage klingen. »Ja, ein sonderbares Mädchen. Seltsam. Sie kannten Sie, glaube ich?«
»Genau. Nun, Sam and company schickte mich wegen ich weiß nicht mehr welcher offener Rechnungen und einer Reihe anderer Schweinereien nach Rosario. Klar, danach bedurfte ich dringend einer Läuterung, und so landete ich in einer Art Versailles oder dem Haus eines Hazienda-Besitzers. Davon erzähle ich euch später. Aber es war ein Freudenhaus, das muß gesagt werden. Madame Sappho oder Bilitis, irgend etwas in der Art. Und es gab eine Dame, das war sie, Ihre Polin, ohne es wirklich zu sein. Ich will damit sagen… Man könnte von einer außergewöhnlichen Ähnlichkeit sprechen. Meine Hand würde ich nicht dafür ins Feuer legen.«
Llarvi lachte zweimal, abgehackt, trocken.
»Schon komisch. So was kommt manchmal vor. Gehen wir weiter?«
Balbina hakte sich bei Casal unter und fuhr mit den Fingernägeln über seine Kotelette.
»Du wirst langsam grau. Bist du sehr müde? Wenn du willst…«
Er verzog das Gesicht wie zum Gruß und lachte, als Violeta und Mauricio sich umdrehten und untergehakt auf die Tanzfläche zurückkehrten. Sie liefen fast, durch runde Lichtflecken hindurch.
Mit der Niedergeschlagenheit kehrte in Llarvi die Erinnerung an Labuk zurück. Der dunkle Frauenkörper, die auseinander stehenden Knie nahe der Lampe mit dem rötlichen Schirm im Bordell. ›Nächsten Monat habe ich eine Tagung in Rosario.‹ Er richtete sich auf.
»Ich verstehe nicht, wieso Mauricio, obwohl er immer mit euch zusammen ist, so unbeleckt geblieben ist von… Es hat ihn nicht weitergebracht. Ihr kennt euch schon lange, nicht wahr?«
»Ja, seit wir verheiratet sind. Etwa drei Jahre. Ich, will ich sagen. Denn Carlos kennt ihn schon sein ganzes Leben. Ein paar Monate mehr oder weniger…
Casal lächelte und nickte schweigend, während er in die Glut der Pfeife pustete. Am Ende der Allee leuchtete eine runde pflanzliche Form im Licht. Direkt dahinter bog die Straße in die Nacht ab.
»Nun, jedenfalls ist Mauricio beneidenswert naiv«, sagte Llarvi.
Jemand pflichtete dem durch ein leises Kichern bei. Die Musik verstummte jäh. Und wenn Labuk wirklich im Bordell war? dachte er. Vielleicht hatte er selbst sie mit dem brutalen Hieb beim letzten Mal und die gegen den dunklen Flur zuschlagende Tür dorthin getrieben. Er zuckte zusammen: Und welche Geschichte der Welt könnte Labuk ihm jetzt zwischen ihren zusammengepreßten Zähnen zuzwitschern? Brutal. Er spürte, daß er schwitzte, und zog das Taschentuch heraus.
Aránzuru trat die Zigarette aus. Balbinas schnelle Stimme kam von links, murmelnd, gebieterisch, ohne sich um die Unterbrechungen zu scheren. Nené faßte ihn am Arm, lautlos lachend, und zog ihn im Laufschritt mit über die Wiese, durch die Schwärze und Vorhänge aus Ästen, die ihnen im Vorbeilaufen das Haar zerzausten. Sie setzten sich unter einen Baum. Die Stimmen und die langsamen Schritte drehten eine Runde und entfernten sich.
» … und was die deutsche Presse sagt.«
Ihnen gegenüber der nackte Teil des Parks, wo getanzt wurde. Ein Kreis aus Papierlampions wehte sanft hin und her.
»Ich kann es kaum erwarten, daß der Frühling kommt«, sagte Nené.
Da waren dicke Palmen, deren Wedel einen Sonnenschirm formten. Einige helle Kleider häuften sich an den strohgedeckten Kiosken, die wie winzige Indiohütten aussahen. Eine Frau mit Bastrock und Blumen auf dem Kopf lachte, auf einem Tisch sitzend. Manchmal warf sie den Kopf in den Nacken, und das Licht strahlte ihre Kehle an.
»Dieses Wetter wird mit Regen enden«, sagte Nené.
Aránzuru zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich an den Baum. Rauchend sah er den Frauen zu, die tanzend vorüberzogen.
»Na ja, ist doch nicht schlecht. Hawaii oder so, nicht?«
Nené kam auf ihn zu und berührte mit dem Kopf seine Schulter.
»Ja, ja, so ist es wohl. Ist es nicht schön, dich in einem dunklen Eckchen zu haben? Hast du den Schlüssel für Casal dabei? Ah, das habe ich dich ja schon gefragt. Redet der Alte mit den Vögeln immer noch von der Insel?«
»Manchmal. Ich sehe ihn kaum.«
Eine große Lichtscheibe über der Tanzfläche leuchtete unbeweglich, orangefarben wie der am Sommerhimmel aufgehende Mond.
»Allein in unserem Eckchen und ohne ein Wort.«
Er dachte an eine Frau von der Insel, die Blumen in der Farbe ihrer Lippen in der Hand trug. Auf der Tanzfläche wurde unter dem runden, an den Bäumen befestigten Mond geschrien und applaudiert. Nenés Kopf rieb sich an seinem Revers. Er nahm zur selben Zeit das raschelnde Geräusch an der Brust und den Geruch des gescheitelten Haares wahr, das über einem Ohr zu einem losen zittrigen Zopf geschlungen war, der jeden Moment herunterzufallen drohte. Die Musik stieg wieder von den gelblichen Hütten auf. Er schloß die Augen, um den Geruch des Nackens in sich aufzusaugen, und flüsterte:
»Hast du heute nacht geträumt?«
Sie hob den Kopf. Plötzlich fing sie an zu lachen und schloß leicht die Augen.
»Aber ja. Etwas völlig Verrücktes. Aber schön.«
Sie hatte die Hände vor der Brust gekreuzt und lachte in die Luft. Die Stimme lachte, zögerte und wurde weicher. Die Stimme führte ihn an der Hand in den Traum der vergangenen Nacht.
Mauricio nahm die Hand aus der Tasche und schlug auf Violetas Rücken, im Takt, Schlag auf Schlag, immer kräftiger.
Violeta entfernte sich, auf die andere Seite des Tisches.
»Was bist du für ein Rohling.«
Sie füllte ihren Mund mit Wein und pustete. Der lange dünne Strahl landete auf Mauricios Knien. Sie lachte aus vollem Hals, mit dem Glas in der Hand, daß es klirrend gegen die Zähne schlug.
»Gut, Maurito. Im Ernst. Ich habe mich nicht lustig gemacht, ich mache mich nicht lustig, nur weil ich lache. Und erst das Gesicht, das du machst.«
Sie knabberte am Rand des Glases, man hörte die Zähne klappern, einmal ganz herum.
»Ist wie Eis. Warum sagst du es mir nicht endlich?«
Musik umgab den Pavillon. Aus dem Strohstuhl sah er sie an wie weggetreten, die blauen Augen weit aufgerissen. Er verzog das Gesicht, öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Sie hatte den Kopf an das Holzgitter gelehnt. In der Ferne weinte oder lachte eine Frau. Die kreischende Stimme durchdrang hin und wieder den Tanzlärm und gelangte bis zum Pavillon. Sie kam auf ihn zu, das Glas immer in der Hand. Als sie bei ihm ankam, schüttelte Mauricio den Kopf, um die in die Stirn gefallene Haarsträhne nach hinten zu werfen.
»Närrin.«
Ihm wurde klar, für den Geruch ihrer Achseln, wenn sie den Arm hob, der das Glas hielt, für das Hüpfen der Brüste beim Lachen würde er alles ertragen. Aber er würde sie nie mehr anfassen, nie mehr, nicht einmal mit den Fingerknöcheln, um sie zu schlagen. Da sagte er mit tiefer Stimme:
»Genug mit dem Blödsinn, please. Ich und diese Person, was soll da sein?«
»Bist du wirklich wütend? Was für eine gewaltige Stimme. Warum sagst du diese Person? Kann man nicht Nené oder Nenecita sagen?«
»Noch mal, du bist eine Närrin. Gib mir Wein. Ich wußte, daß die Nacht verloren war, es ist immer dasselbe. Gib mir Wein.«
Violeta füllte die Gläser und setzte sich. Der Saum ihres Unterrocks schlängelte sich um ihre Beine.
»Und man merkt es nicht, würde man es merken, würde man krepieren, genauso ist es mit Leben. Man erfaßt, man begreift, daß eine Nacht verloren, daß aus ihr nichts herauszuholen ist, und es kommt der Morgen, und aus. Aber mit dem Leben ist es nicht anders. Immer ist es verloren, ist nicht herauszuholen, was man will, ohne es zu merken. Und dann werden wir sanft krepieren.«
»Ja. Kannst du morgen zu mir kommen? Entschuldige, daß ich dich unterbreche. Kannst du?«
»Na gut.«
»Komm morgen um vier. Es gibt da etwas, und jetzt bist du betrunken. Ich muß es mit Diego besprechen. Ich werde Möbel für Adrogué kaufen.«
»Es war einmal eine Henne, die legte goldene Eier. Der arme Samuel. Moralisch gesehen, soweit ich es einschätzen konnte, verstehst du? Der Lebensmittelhändler oder meine Mutter, je m'en fiche. Aber in bezug auf Samuels Seele stinkt das alles zum Himmel.«
Wieder hüpften Violetas Brüste beim Lachen. Aber die angewinkelten, am Körper anliegenden Arme verbargen den Geruch.
Die Tür aus weit auseinanderstehenden, spitz wie Lanzen zulaufenden Brettern war klein und grün. Zwischen den Wolken stand ein winziger Mond. Nené sah zu dem Licht, das im Fenster des Hauses am Ende des Gartens gelb schimmerte.
»Willst du nicht mit hineinkommen?«
»Es ist schon spät.«
»Na schön. Bist du traurig?«
Sie küßten sich mit geschlossenen Augen. Der Duft aus dem Ausschnitt des Mädchens machte ihn schläfrig. Aránzuru begriff, irgendwann würde etwas Seltsames geschehen, das alles verändern würde, einfach so, weder zum Guten noch zum Schlechten. Er wich zurück und sah sie an.
»Das hatte ich ganz vergessen. Und der Kleine?«
»Er schläft.«
»Im Ernst. Ist das sicher?«
»Jetzt bin ich sicher. Ja, seit letztem Samstag. Ungefähr dreizehn Tage. Das muß es sein. Aber es lohnt nicht, sich Sorgen zu machen, es wird sich schon alles regeln.«
Er küßte sie wieder und fuhr vorsichtig über die kleinen Zähne.
»Pah. Wenn es so ist, heiraten wir. Am Freitag sehen wir weiter. Kommst du am Freitag?«
Sie lächelte schweigend und nickte. Mit beiden Händen faßte sie Aránzurus Gesicht und drehte es ins Mondlicht. ›Er hat runde, tief liegende Augen. Einen leicht geöffneten Mund, der Junge könnte solch einen Mund mit feinen Mundwinkeln bekommen.‹ Sie machte die Arme lang und zog ihn wieder an sich heran.
»Nein. Ich will, daß du ihn küßt.«
Aránzuru zögerte einen Moment. Er betrachtete über Nenés Schulter hinweg die dunkle Straße, den Lichtkegel der Laterne in der Kurve zur Schule. Dann ließ er den Hut fallen und schob Nené ein Stück von sich weg, um ihren Bauch anzuschauen. Es war absurd, an ein schlafendes, in dem Mädchen wachsendes Kind zu glauben. Ihr Gesicht war erhoben, leicht zurückgeneigt, sanft und voller Freude, und sah ihn an. Aránzuru glitt nach unten, bis sein Gesicht auf dem weichen, warmen Bauch lag, den sie ihm darbot. Er seufzte, wieder von Müdigkeit übermannt. So hätte er schlafen mögen, mit einem Lächeln, weil er weder Zärtlichkeit noch Traurigkeit empfand, beinahe glücklich.
Das hereinfallende Licht umschloß den Bogen des Flurs. Alle Fenster waren trüb. Aránzuru ging nach links und suchte das Schild: PABLO NUM – Präparator von Vögeln. Eine ungeschickte Hand hatte mit hellerer Farbe darunter gemalt: und Tieren. Er klingelte, und während er wartete, schaute er aus dem Fenster. Unten stauten sich die Autos vor der Fähre, und man sah, wie der ölige Rücken des Wassers gemächlich Wellen aufwarf. Er wandte seine Ohren von dem wilden Gehämmer an den Docks ab, als er schnelle Schritte auf die Tür zukommen hörte. Er wandte den Blick von den Fenstern ab. Noras erstauntes Gesicht erschien im Türspalt. Sie lächelte sofort, während Aránzuru auf sie zuging, den Körper zurückgelehnt, langsam zwinkernd. Er sah, daß das Mädchen keine Brüste hatte. Vorsichtig streckte er eine Hand aus, in der Ferne erklang bedrohlich eine Schiffssirene. Er wollte den Arm und die Schulter berühren; und dann zart die gelbe Spitze um ihren Hals. Das Mädchen wich mit spöttischer Miene zurück.
»Ich habe Lust spazierenzugehen«, sagte Aránzuru.
Nora streckte ihm die Zunge raus und lachte.
»Unser Doktor Aránzuru! Lang ist's her… Kommen Sie herein. Papa!«
Er mußte eintreten, schwerfällig, dicht vorbei an der höflichen, kühlen Miene des Mädchens. Auf einem Bein stehend schlief ein Storch auf dem Tisch. Eine reglose Katze streckte die Krallen aus. Ein paar Möwen hatten sich auf die Ecken der hohen Möbel gesetzt.
»Doktor, Doktor, Doktor«, trällerte der Alte vor sich hin und legte die Brille beiseite. Er wischte sich die Hände an der Schürze ab und räusperte sich lächelnd.
»Da haben wir ihn ja. Ich habe schon zu Norita gesagt… Lange her, daß Doktor Aránzuru… Aber nicht etwa wegen Neuigkeiten, Doktor… Es war nicht wegen Neuigkeiten.«
Er fing an zu lachen, nach vorn gebeugt, und hielt sich zwei lange, schmutzige Finger vor den Mund. Das Geräusch von Noras Schuhen, die die Treppe hinaufgingen, war zu hören. Der Alte zeigte auf alles um ihn herum: die toten Tiere, das Fenster zum Riachuelo. Beim Herumschlurfen schlug die blaue Schürze gegen seine Beine. Aránzuru setzte sich und rauchte, sich selbst überlassen und zufrieden. Der Alte stellte den Teekessel auf den Boden und kehrte auf seinen kleinen Stuhl zurück, den Mate in der Hand. Das Lachen strahlte blau hinter seiner Brille.
»Na, Doktor. Doktor Aránzuru… Sie sind mir einer.«
Nora, die Verrücktheit des Alten, das Gefieder der toten Vögel.
Aránzuru nahm den Mate und beugte sich vor, um ihn einzusaugen. Aber es war nur ein Anschein von Verrücktheit, gleich dem Anschein von Leben in den reglosen Vögeln und dem Anschein der erfahrenen Frau in dem dürren Mädchen. Der andere zeigte noch immer sein Lachen hinter der Brille; die Finger schlangen sich zerstreut im Schoß ineinander. Und wenn er von den nächtlichen Eskapaden mit Nora erführe? War er nicht imstande, eigenhändig die Türen zu ölen und den Schlüssel oben auf den Möbeln liegen zu lassen?
»Eine schlechte Nachricht«, sagte der Alte.
Er beugte sich vor, um an einen Draht zu kommen. Er bog ihn mit der Zange zurecht, schnell, mit kurzem, gleichmäßigem Druck.
»Eins wollen wir mal festhalten. Sie glauben, der Alte ist ein sonderbarer Kauz, nicht? Oh, oh! Der Alte merkt das. Sie kommen und setzen sich da hin, ans Fenster. Nicht, weil Sie was gegen die Tiere hätten. Sie sind schön, nicht? Kein Kreischen, kein Dreck.«
Er lächelte dem Storchenkopf liebevoll zu. Dann drehte er sich zu Aránzuru um und zielte mit dem S-förmig gebogenen Draht auf seine Brust.
»Sie setzen sich ans Fenster. So sind Sie dort draußen und zugleich drinnen. Bei den Schiffen und den Vögeln. Sie haben beides.«
»Ja. Genau das wird es sein.«
Der Alte kicherte und füllte den Mate nach. Er arbeitete weiter an dem Draht.
Aránzuru wartete. Das kupferfarbene S schlängelte sich durch die Stille.
»Und… die schlechte Nachricht?«
»Was? Ach ja. Alles philosophisch. Jetzt, wo ich gerade… So ist es. Ich muß Vorhänge an die Fenster machen. Viel Licht, und Licht ist gar nicht gut. Die Federn fallen aus.«
Er ließ den Draht ruhen und musterte ihn, den kahlen Kopf zur Schulter geneigt. Dann hob er resigniert die Hände.
»So ist das Leben. Ob draußen oder drinnen, nicht? Was wollen Sie tun, das würde ich gern wissen.«
»Was schon… Nichts. Wenn ich den Fluß sehen will, gehe ich hinunter, oder ich sehe ihn im Vorbeigehen.«
Der Alte musterte ihn, die Stirn in Falten gelegt.
»Ja. Jeder ist anders. Kann sein, kann sein…«
Er arbeitete weiter. Aránzuru lehnte sich gähnend im Sessel zurück. »Pablo Num, Präparator von Vögeln und Tieren.« Das Geheimnis lag im Handwerk des Alten, darin, daß es sich per Anschlag kundtun ließ. Es war eine Arbeit am Tod, an einem Tod ohne Aas, mit anmutigen, sich streckenden Kadavern, einen Augenblick vor dem Sprung überrascht. Die gelben Augen der Eule schielten zum Licht. Er erinnerte sich, daß er weder wegen Nora noch wegen der Vögel da war.
»Wissen Sie, Num. Ich möchte Sie etwas fragen.«
Der Alte legte das Werkzeug nieder, richtete die Brille, zog die Hand zurück. Er sah ihn direkt an und lächelte nur leicht.
»Nun… Es geht um die Erbschaft, was?«
Der Alte lachte still in sich hinein, wobei sein welkes Zahnfleisch ans Licht kam. Er wurde ernst und zeigte Richtung Decke.
»Die Kleine, ist sie oben?«
»Ja. Ich glaube ja.«
»Ah. Kommen Sie ein wenig näher. Kommen Sie. Na, Doktor! Die Kleine ist zu Ihnen gegangen und hat gesagt: Der schwachsinnige Alte glaubt, daß er ein Erbe hat, nicht?«
Aránzuru war aufgestanden und lehnte sich gegen das Fenster. Er rauchte und sah hinüber zum Fluß. Ein Licht schimmerte einsam am Ufer. Etwas ging gerade für immer verloren. ›Er war schon ziemlich allein.‹ Er drehte sich um und blies kraftvoll den Rauch aus.
»Sie hat nicht schwachsinniger Alter gesagt.«
»Oh, doch, doch… Sie… Nun, eine Erbschaft, weit weg, in Dänemark. So weit weg. Kaum zu glauben. Mit einem Anwalt war es schon seriöser, und der Alte zufrieden. Einerlei, wenn das Erbe ausbezahlt wird, ist alles geregelt. Rechtsanwalt, Telegramme, Geburtsurkunden… Nicht wahr, Doktor?«
Aránzuru nickte feierlich. Der Alte lachte immer wieder, zwei gekreuzte Finger vordem Mund. Dann wurde er ernst und zuckte die Achseln.
»Schön, Aránzuru. Sie sind ein Philosoph. Sehen Sie, eine kuriose Geschichte… Denn ich habe die Erbschaft ihr zuliebe erfunden, damit die Kleine sich freut. Und da geht sie her und erfindet sie, damit ich mich freue, und ich tue so, als ob ich es glaubte…«
Aránzuru setzte sich wieder hin und füllte den erkalteten Mate auf.
»Das ist alles, Doktor. Kein Wort darüber, tun Sie mir den Gefallen, ja? Wenn mir ein seltenes Tier unterkommt, ein richtig seltenes, dann präpariere ich es für Sie…«
Am Fenster sah Nora zu, wie die Luft in der Abenddämmerung den Flaum an ihren Armen aufstellte. Sie wußte schon seit langem, daß sie verhext war. Wortfetzen von Aránzuru und ihrem Vater drangen zwischen dem Hämmern von den Docks zu ihr. Es gab keine Rettung für sie, denn die Ängste bedrängten sie, kreisten sie ein, wie die starren und stummen Tiere in dem Zimmer unten. Der Bann gab jedem einzelnen Schrecken des Tages eine seltsame Erklärung. Sie war traurig und häßlich; sie hatte große Hände, spitze Ellbogen, ihre Schreie, ihr Lachen waren abrupt. Alle Leute hatten nur mißtrauische und fragende Blicke für sie. Jetzt spürte sie, wie der Bann sie einkreiste, so wie sie oft den Tod gespürt hatte. Sie konnte nicht weinen; der fröstelnde Körper gefangen in dem Bann. Sie wich rückwärts in die Dunkelheit des Zimmers zurück, den Blick auf das Fenster gerichtet. Sie weinte, reglos, still, voller Bedauern und Angst, Mitleid und Furcht, weil sie in sich selbst eingeschlossen war, in die harten Knochen, die gespannte Haut, eingeschlossen in den unerbittlichen Zauber, der sie einhüllte.
Aránzuru dachte an Noras kümmerliche Brüste, die er in der Nacht umfaßt hatte, eingehüllt in den dicken Stoff ihrer Bluse. Aber deswegen war er nicht gekommen.
»Gestern abend bin ich ein wenig umhergeschlendert und vor der Agentur einer Schiffahrtsgesellschaft stehengeblieben. Da war eines dieser Ausflugsplakate, die sie ausstellen, mit kleinen Bäumen und blauem Meer natürlich. Ich mußte an Tahiti und an Sie denken, an diese besagte Insel, erinnern Sie sich?«
»Ja, die Insel… Wenn Sie die sehen würden… Sie kämen nicht mehr wieder, nein.«
»Wie hieß sie doch gleich?«
»Wie sie hieß, sagen Sie? Mein Kopf! An manchen Tagen… Ah, Faruru. Ja, der Name ist Faruru. Alles in Polynesien, die Inseln. Aber sie steht auf keiner Landkarte. Eine Insel… Ah, keine Spur von Weißen, sie ist die einzige, die noch übrig ist. Habe ich es Ihnen erzählt? Ich war vor ein paar Jahren dort auf der Durchreise… Aber hier, es ist noch nicht so lange her, habe ich mich mit einem Seemann unterhalten. Er war dort gewesen. Immer noch keine Spur von Weißen. Sie liegt ein wenig südlich und heißt Faruru, so, mit einem kehligen F.«
Man hörte das Hämmern im Hafen nicht mehr. Die Nacht warf sein Gesicht in der Fensterscheibe zurück. Der Alte arbeitete, den Kopf über die Knie gebeugt. Aránzuru war sich sicher, daß alles eine Lüge war, die Insel, die Reise, eine Lüge, die sich ausbreitete und den Abend fälschte. Die fabelhafte Insel hatte der tote, einbalsamierte Alte erfunden. ›Wenn mir ein richtig seltenes Tier unterkommt, dann präpariere ich es für Sie.‹
»Ich bin nur so vorbeigekommen, und es ist schon spät. Nein, machen Sie sich keine Umstände. Ich finde allein zur Tür. Bis bald, Num. Sehr gut das mit den Vorhängen. Ich bin neugierig auf die Farbe.«
In der Dunkelheit des Flures traf er auf Nora, die mit dem Rücken zu ihm stand und mit dem Finger unsichtbare Figuren an die Wand malte.
»Rühr mich nicht an, ich schreie. Da.«
Sie steckte ihm einen Zettel in die Tasche und ging wieder hinein. Er verfolgte die Weiße des Nackens und den geschwungenen Fleck des Spitzenkragens, bis er sie aus den Augen verlor. Er ging in das erstbeste Café in der Straße, um zu lesen. Es war schon Nacht; ein Gefühl von Müdigkeit ließ ihn gähnen, als er die Lichter auf dem schwarzen Wasser betrachtete, von dem geheimnisvoll der Hauch einer Frau kam.
»Ich mache gerade meine Hausaufgaben, da höre ich Dich plötzlich durch das Fenster sprechen. Ich muß lachen, denn ich weiß nicht, wie Du so viel Zeit mit so blödsinnigen Dingen verschwenden kannst. Du mußt ziemlich beschäftigt sein, wenn Du nicht einen Nachmittag an der Ecke der Schule auf mich warten kannst. Diesmal wirst Du mich nicht auslachen, wenn ich Dir etwas sage. Morgen gebe ich Dir den Schlüssel, ich habe ihn bei den Werkzeugen. Ich sage Dir, daß ich nicht in der Kanzlei vorbeigekommen bin, weil ich mir denke, daß da nichts ist, was mich interessieren könnte. Und doch hast Du mir den Schlüssel gegeben und wolltest gar nicht. Du mußt mir sagen, warum ich Deiner Meinung nach den Schlüssel wollte. N.«
Nora hatte aus der Kanzlei ein Blatt mit der Kopfzeile RESÜMÉ gestohlen. Darunter befand sich die Liste mit Namen und Adressen. Casal, Balbina, Ernesto, Llarvi, Mauricio, Offen, Demetrio Sala, Martín, Samuel Rada und Violeta. Sie verbrachte Stunden damit, Gesichter und eine Vergangenheit für die Namen zu erfinden, und suchte sie erfolglos, ohne sich entmutigen zu lassen, in allen Sonntagsausgaben der Zeitungen.