Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. Prolog
  5. 1
  6. 2
  7. 3
  8. 4
  9. 5
  10. 6
  11. 7
  12. 8
  13. 9
  14. 10
  15. 11
  16. 12
  17. 13
  18. 14
  19. 15
  20. 16
  21. 17
  22. 18
  23. 19
  24. 20
  25. 21
  26. 22
  27. 23
  28. 24
  29. 25
  30. 26
  31. 27
  32. 28
  33. 29
  34. 30
  35. 31
  36. 32
  37. 33
  38. 34
  39. 35
  40. 36
  41. 37
  42. 38
  43. 39
  44. 40
  45. 41
  46. 42
  47. 43
  48. 44
  49. 45
  50. Epilog
  51. Dank
  52. Die Autorin
  53. Die Romane von Brittainy C. Cherry bei LYX
  54. Impressum

BRITTAINY C. CHERRY

Wie die Luft zum Atmen

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Katja Bendels

Zu diesem Buch

Er küsste mich, als würde er ertrinken. Er küsste mich, als wäre ich für ihn wie die Luft zum Atmen.

Als Elizabeth mit ihrer kleinen Tochter Emma nach über einem Jahr nach Meadows Creek zurückkehrt und wenige Meter vor ihrem Haus einen Hund anfährt, ahnt sie noch nicht, dass dies die erste missglückte Begegnung mit ihrem neuen Nachbarn ist. Der verzweifelte und von Kopf bis Fuß tätowierte Tristan Cole ist außer sich und gibt Elizabeth mehr als deutlich zu verstehen, dass sie sich besser von ihm fernhalten sollte, wenn kein weiteres Unglück geschehen soll. Und auch in dem kleinen Ort in Wisconsin ranken sich seltsame Gerüchte um den Fremden. Tristan sei wild, unberechenbar, ein Monster, und Liz solle sich ja nicht in seine Nähe begeben. Doch so sehr alle versuchen, Liz vor ihm zu warnen, kann die junge Mutter der Anziehungskraft nicht widerstehen, die der geheimnisvolle Mann auf sie ausübt. Denn so gefährlich er auch sein soll, schon beim ersten Blick in seine sturmumtosten Augen sah Liz einen Schmerz, den sie selbst nur allzu gut kennt und der ihr sagt, dass Tristan Cole der Einzige ist, der ihr geben kann, wonach sie sich seit einem Jahr von ganzem Herzen sehnt …

Für alle weißen Federn.

Danke für die Erinnerung.

PROLOG

TRISTAN

2. April 2014

»Hast du alles?«, fragte Jamie. Sie stand in der Diele im Haus meiner Eltern und kaute auf ihren Nägeln. Ihre wunderschönen blauen Augen lächelten mich an und erinnerten mich daran, was für ein Glück ich hatte, dass sie zu mir gehörte.

Ich trat zu ihr, schlang meine Arme um ihren zierlichen Körper und zog sie an mich. »Jepp, ich glaube, das ist alles, Babe. Ich glaube, das ist unser Moment.«

Sie legte die Hände um meinen Nacken und gab mir einen Kuss. »Ich bin so stolz auf dich.«

»Auf uns«, korrigierte ich sie. Nach zu vielen Jahren des Wünschens und Träumens sollte mein Ziel, meine eigenen Möbel zu bauen und zu verkaufen, endlich wahr werden. Mein Vater war mein bester Freund und Partner, und wir waren auf dem Weg nach New York, um ein paar Geschäftsleute zu treffen, die großes Interesse daran bekundet hatten, sich mit uns beiden zusammenzuschließen. »Ohne deine Unterstützung wäre ich nichts. Das ist unsere Chance, alles zu erreichen, wovon wir immer geträumt haben.«

Sie gab mir noch einen Kuss.

Ich hätte nie gedacht, dass ich einen anderen Menschen so lieben könnte.

»Bevor du gehst, solltest du wissen, dass Charlies Lehrerin mich angerufen hat. Er hat in der Schule mal wieder Ärger bekommen. Was nicht verwunderlich ist, wenn man bedenkt, wie sehr er seinem Vater ähnelt.«

Ich grinste. »Was hat er diesmal angestellt?«

»Mrs Harper sagt, er hat zu einem Mädchen, das sich über seine Brille lustig gemacht hat, gesagt, er hoffe, sie würde an einer Kröte ersticken, denn sie sehe selbst aus wie eine. An einer Kröte ersticken – kannst du das glauben?«

»Charlie!«, rief ich Richtung Wohnzimmer, und er kam mit einem Buch in der Hand in die Diele. Er trug keine Brille, zweifellos eine Folge des Vorfalls in der Schule.

»Ja, Dad?«

»Hast du zu einem Mädchen gesagt, es soll an einer Kröte ersticken?«

»Ja«, sagte er nüchtern. Für einen Achtjährigen hatte er auffallend wenig Angst davor, dass seine Eltern wütend auf ihn sein könnten.

»Kumpel, so etwas kannst du nicht sagen.«

Er antwortete: »Aber sie sieht echt aus wie eine Kröte, Dad!«

Ich musste mich wegdrehen, weil ich mir das Lachen nicht länger verkneifen konnte. »Komm her und sag mir tschüs, Kumpel.« Er nahm mich fest in den Arm. Ich fürchtete bereits die Zeit, wenn er keinen Wert mehr auf körperliche Zuneigungsbekundungen mit seinem Vater legen würde. »Pass gut auf deine Mutter und deine Oma auf, während ich weg bin, okay?«

»Ja, ja.«

»Und setz die Brille auf, wenn du liest.«

»Wieso? Die ist blöd!«

Ich beugte mich hinunter und tippte ihm auf die Nase. »Echte Männer tragen eine Brille.«

»Du trägst keine!«, erwiderte er.

»Ja … nun, echte Männer tragen manchmal auch keine Brille. Setz sie einfach auf, Kumpel«, sagte ich.

Er grummelte irgendwas vor sich hin, bevor er davonlief, um sein Buch weiterzulesen. Ich war froh, dass er mehr auf Lesen stand als auf Videospiele. Seine Liebe zu Büchern hatte er von seiner Mutter, der Bibliothekarin, aber ich bildete mir gerne ein, dass die vielen Stunden, die ich ihm damals, noch in ihrem Bauch, vorgelesen hatte, ihren Teil dazu beigetragen hatten.

»Was habt ihr heute vor?«, fragte ich Jamie.

»Wir fahren heute Nachmittag zum Bauernmarkt. Deine Mutter möchte frische Blumen kaufen. Und vermutlich wird sie Charlie auch irgendein Zeug besorgen, das er nicht braucht. Oh, und Zeus hat deine Lieblings-Nikes zerkaut, also wollte ich dir ein paar neue besorgen.«

»Mein Gott! Wer hatte nur die Idee, sich einen Hund anzuschaffen?«

Sie lachte. »Die Schuld liegt ganz bei dir. Ich wollte keinen Hund, aber du wusstest einfach nicht, wie du Charlie diesen Wunsch abschlagen solltest. Du und deine Mutter, ihr habt so einiges gemeinsam.« Sie gab mir noch einen Kuss und zog dann den Griff meines Koffers heraus. »Guten Flug. Lass deine Träume Wirklichkeit werden.«

Ich legte meine Lippen auf ihre und lächelte. »Wenn ich nach Hause komme, baue ich dir deine Traumbibliothek. Mit hohen Leitern und allem Drum und Dran. Und dann werde ich dich lieben, irgendwo zwischen der Odyssee und Wer die Nachtigall stört

Sie biss sich auf die Unterlippe. »Versprochen?«

»Versprochen.«

»Ruf mich an, wenn ihr gelandet seid, okay?«

Ich nickte und ging hinaus, wo Dad bereits im Taxi auf mich wartete.

»Hey, Tristan!«, rief Jamie mir nach, als ich mein Gepäck in den Kofferraum packte. Charlie stand neben ihr.

»Ja?«

Sie legten die Hände an den Mund und riefen: »WIR LIEBEN DICH!«

Ich lächelte und rief das Gleiche zurück.

Im Flugzeug sprach Dad immer wieder davon, was für eine großartige Chance das für uns war. Während des Zwischenstopps in Detroit stellten wir beide unsere Handys an, um Mails zu checken und Jamie und Mom zu schreiben, dass alles in Ordnung war.

Als wir beide stattdessen massenweise Nachrichten von Mom hatten, wusste ich sofort, dass etwas passiert war. Mein Innerstes drehte sich nach außen. Beinahe wäre mir das Telefon aus der Hand gefallen.

Mom: Es hat einen Unfall gegeben. Jamie und Charlie geht es sehr schlecht.

Mom: Kommt nach Hause.

Mom: Beeilt euch!!

In nur einem Wimpernschlag, einem einzigen Augenblick, hatte sich alles, was ich über das Leben wusste, verändert.

1

ELIZABETH

3. Juli 2015

Jeden Morgen las ich Liebesbriefe, die an eine andere Frau gerichtet waren. Sie und ich hatten viel gemeinsam, vom Schokoladenbraun unserer Augen bis zum Blond unserer Haare. Wir teilten dieselbe Art zu lachen – meistens leise, jedoch lauter in Gegenwart der Menschen, die wir liebten. Sie lächelte aus dem rechten Mundwinkel und verzog den linken, wenn sie sich über etwas ärgerte, genau wie ich.

Ich hatte die Briefe im Abfall gefunden, in einer herzförmigen Metalldose. Hunderte von Briefen, manche lang, andere kurz, manche glücklich, andere herzzerreißend traurig. Die Datierung der Briefe reichte weit zurück, bei einigen lag sie vor meiner Geburt. Unter manchen Briefen standen die Initialen KB, unter anderen stand HB.

Ich fragte mich, wie Dad sich wohl fühlen würde, wenn er wüsste, dass Mama sie alle in den Müll geworfen hatte.

Aber dann fiel es mir in letzter Zeit schon schwer zu glauben, dass sie tatsächlich diejenige gewesen war, die sich so gefühlt hatte, wie diese Briefe ausdrückten.

Heil.

Vollständig.

Als ein Teil von etwas Göttlichem.

In letzter Zeit schien sie das exakte Gegenteil von all diesen Dingen zu sein.

Zerbrochen.

Unvollständig.

Einsam.

Mama wurde nach Dads Tod zur Hure. Das lässt sich kaum anders sagen. Es geschah nicht sofort, auch wenn Miss Jackson ein paar Häuser weiter jedem, der es hören wollte, erklärte, Mama hätte schon immer gerne die Beine breit gemacht, selbst als Dad noch lebte. Aber ich wusste, dass es nicht stimmte, denn ich hatte nicht vergessen, wie sie ihn angesehen hatte, als ich noch ein Kind gewesen war, wie eine Frau, die nur Augen für einen einzigen Mann hatte. Wenn er sich im Morgengrauen auf den Weg zur Arbeit machte, hatte sie ihm sein Frühstück und Mittagessen samt Snack für die Stunden dazwischen vorbereitet und eingepackt. Dad hatte immer gejammert, er wäre nach dem Essen gleich wieder hungrig, also sorgte Mama dafür, dass er mehr als genug dabeihatte.

Dad war Dichter und unterrichtete eine Stunde Fahrtzeit entfernt an der Universität. Es ist nicht überraschend, dass die beiden sich Liebesbriefe schrieben. Dad trank Worte mit seinem Kaffee und warf sie abends in seinen Whiskey. Und auch wenn Mama nicht so gut mit Worten umgehen konnte wie ihr Mann, so wusste sie sich doch in jedem einzelnen ihrer Briefe angemessen auszudrücken.

Sobald Dad morgens aus dem Haus war, summte Mama lächelnd vor sich hin, während sie das Haus putzte und mich für den Tag fertig machte. Sie sprach über Dad, sagte, wie sehr sie ihn vermisste, und schrieb ihm Liebesbriefe, bis er am Abend wieder nach Hause zurückkehrte. Dann goss Mama jedes Mal zwei Gläser Wein ein, und er summte ihr Lieblingslied und küsste ihr Handgelenk, wann immer sie in seine Reichweite kam. Sie lachten und kicherten wie frisch verliebte Teenager.

»Du bist meine Liebe ohne Ende, Kyle Bailey«, sagte sie und drückte ihre Lippen auf seine.

»Du bist meine Liebe ohne Ende, Hannah Bailey«, antwortete Dad dann und drehte sie in seinen Armen.

Sie liebten sich auf eine Weise, die alle Märchenfiguren vor Neid erblassen ließ.

Und so ging an dem regnerischen Augusttag, an dem Dad starb, auch ein Teil von Mama. In irgendeinem Buch, das ich mal gelesen hatte, stand: »Kein Seelenverwandter verlässt diese Welt allein; sie alle nehmen einen Teil ihrer anderen Hälfte mit sich.« Wie hasste ich es, dass dieser Gedanke zutraf. Mama verbrachte Monate im Bett. Jeden Tag musste ich sie zwingen, etwas zu essen und zu trinken, und konnte nur hoffen, dass sie ihm in ihrer Trauer nicht folgen würde. Ich hatte sie nie weinen sehen, bis sie ihren Mann verlor. In ihrer Gegenwart bemühte ich mich, meine eigene Trauer nicht zu offen zu zeigen, denn ich wusste, das würde sie nur noch trauriger machen.

Ich weinte genug, wenn ich allein war.

Als sie schließlich wieder aus dem Bett aufstand, ging sie ein paar Wochen lang regelmäßig in die Kirche und nahm mich mit. Ich war damals zwölf und fühlte mich jedes Mal schrecklich verloren, wenn ich in der Kirche saß. Unsere Familie war nie besonders gläubig gewesen, bis zu Dads Tod. Doch diese Phase hielt nicht lange an, denn Mama nannte Gott einen Lügner und warf den Leuten in der Stadt vor, ihre Zeit mit Täuschung und leeren Versprechungen zu vergeuden.

Pastor Reece bat uns, eine Weile nicht mehr zur Messe zu kommen, bis die Wogen sich geglättet hätten.

Ich hatte vorher nicht gewusst, dass man aus dem Hause Gottes verbannt werden konnte. Wenn Pastor Reece sagte, jeder sei willkommen, meinte er offenbar eine besondere Art von »jeder«.

Neuerdings hatte Mama sich einen anderen Zeitvertreib gesucht: die regelmäßig wechselnde Gesellschaft von Männern. Mit einigen schlief sie, andere benutzte sie, um die Rechnungen zu zahlen, und wieder andere behielt sie einfach deshalb in der Nähe, weil sie einsam war und diese Männer Dad irgendwie ähnlichsahen. Manche von ihnen nannte sie sogar bei seinem Namen. Heute Abend stand ein Wagen vor ihrem kleinen Haus, dunkelblau mit glänzend silbernen Metallrahmen um die Scheiben. Im Innern befanden sich apfelrote Ledersitze, ein Mann mit einer Zigarre zwischen den Lippen und Mama auf seinem Schoß. Er sah aus, als käme er geradewegs aus den Sechzigern. Sie kicherte, als er ihr etwas zuflüsterte, aber es war nicht dasselbe Kichern, wie sie es Dad geschenkt hatte.

Es war ein wenig leer, ein wenig hohl, ein wenig traurig.

Ich blickte die Straße hinunter und sah Miss Jackson in der Mitte einer tratschenden Frauengruppe auf Mama und ihren Mann der Woche zeigen. Leider war ich nicht nah genug, um sie zu hören und ihnen zu sagen, sie sollten aufhören, sich die Mäuler zu zerreißen, aber sie standen einen guten Block entfernt. Selbst die Kinder, die auf der Straße einen Ball mit ein paar zerbrochenen Stöcken hin und her schlugen, blieben stehen und starrten mit weit aufgerissenen Augen auf Mama und den Fremden.

Autos, die so teuer waren wie seins, fuhren normalerweise nicht über Straßen, die so aussahen wie unsere. Ich hatte versucht, Mama zu überreden, in eine bessere Gegend zu ziehen, doch sie hatte sich geweigert, vermutlich weil sie und Dad dieses Haus damals zusammen gekauft hatten.

Vielleicht hatte sie ihn doch noch nicht ganz losgelassen.

Der Mann blies Mama eine Rauchwolke ins Gesicht, und die beiden lachten. Sie trug ihr bestes Kleid, ein gelbes, das ihr von den Schultern hing, ihre schlanke Taille umschloss und in einem weiten, schwingenden Rock endete. Die dicke Schicht Make-up in ihrem fünfzigjährigen Gesicht ließ sie eher wie dreißig wirken. Sie war auch ohne die ganze Schmiere im Gesicht hübsch, aber sie sagte, ein wenig Rouge verwandele ein Mädchen in eine Frau. Die Perlen um ihren Hals waren von Oma Betty. Sie hatte diese Kette noch nie für einen Fremden getragen, und ich fragte mich, wieso sie sie ausgerechnet heute trug.

Die beiden blickten in meine Richtung, und ich glitt hinter den Verandapfosten, von dem aus ich sie beobachtet hatte.

»Liz, wenn du dich verstecken willst, dann mach’s wenigstens richtig. Und jetzt komm her und begrüße meinen neuen Freund!«, rief Mama.

Ich trat hinter dem Pfosten hervor und ging zu den beiden hinüber. Als der Mann noch eine Rauchwolke ausblies, waberte der Geruch um meine Nase, während ich sein ergrauendes Haar und die tiefblauen Augen musterte.

»Richard, das ist meine Tochter Elizabeth. Aber alle, die wir kennen, nennen sie Liz.«

Richard musterte mich von Kopf bis Fuß, wie eine Porzellanpuppe, die er gerne zerspringen sehen möchte. Ich bemühte mich, ihn mein Unbehagen nicht anmerken zu lassen, aber es sickerte durch, als mein Blick zu Boden glitt. »Hallo, Liz.«

»Elizabeth«, korrigierte ich ihn, meine Stimme schlug gegen den Asphalt, auf den ich starrte. »Nur Leute, die ich kenne, nennen mich Liz.«

»Was ist denn das für ein Ton, Liz!«, schimpfte Mama, und die winzigen Fältchen auf ihrer Stirn wurden tiefer. Sie wäre ausgerastet, wenn sie gewusst hätte, dass man ihre Falten erkennen konnte. Ich hasste es, wie sie sich immer auf die Seite der Männer stellte, die sie mit nach Hause brachte, und damit gegen mich.

»Schon gut, Hannah. Sie hat recht. Es braucht Zeit, jemanden kennenzulernen. Spitznamen muss man sich erarbeiten, nicht einfach so verteilen.« Richard starrte mich schleimig an und paffte an seiner Zigarre. Ich trug eine weite Jeans und ein einfaches, weites T-Shirt, trotzdem fühlte ich mich unter seinen Blicken nackt und bloßgestellt. »Wir wollten gerade in die Stadt fahren und eine Kleinigkeit essen, falls du mitkommen möchtest«, sagte er.

Ich lehnte ab. »Emma schläft schon.« Mein Blick wanderte zurück zum Haus, wo meine kleine Tochter auf dem Schlafsofa lag, das sie und ich schon zu viele Nächte miteinander geteilt hatten, seit wir wieder bei meiner Mutter eingezogen waren.

Mama war nicht die Einzige, die die Liebe ihres Lebens verloren hatte.

Hoffentlich endete ich nicht wie sie.

Hoffentlich blieb ich einfach in der traurigen Phase.

Mittlerweile war es ein Jahr her, dass Steven uns verlassen hatte, und noch immer war jeder einzelne Atemzug eine Qual. Emmas und mein wahres Zuhause lag in Meadows Creek, Wisconsin, wo Steven, Emma und ich ein altes, renovierungsbedürftiges Haus gekauft und uns ein Heim geschaffen hatten, wo wir uns noch inniger geliebt, gestritten und wieder geliebt hatten, wieder und wieder.

Es war ein Ort voller Wärme geworden, nur dadurch, dass wir uns in seinen Wänden aufgehalten hatten, doch nachdem Steven uns verlassen hatte, wehte ein eisiger Wind durch das Haus.

Als er und ich das letzte Mal zusammen gewesen waren, hatten wir in der Diele gestanden, seine Hand auf meiner Taille, und wir hatten Erinnerungen geschaffen, von denen wir glaubten, sie blieben für immer.

»Immer« war sehr viel kürzer, als irgendwer gerne glauben würde.

Die längste Zeit war unser Leben in vertrauten Bahnen geflossen, doch eines Tages war alles zu einem abrupten, schockierenden Ende gekommen.

Die Erinnerungen, die Trauer hatten mir die Luft zum Atmen genommen, und so war ich davongelaufen, zu meiner Mutter.

In unser Haus zurückzukehren bedeutete, endlich der Wahrheit ins Auge zu blicken, dass er wirklich nicht mehr da war. Über ein Jahr lang hatte ich in der Illusion gelebt, er sei nur kurz Milch kaufen gefahren und würde jeden Augenblick zur Tür hereinkommen. Jeden Abend, wenn ich mich schlafen legte, drehte ich mich auf die linke Seite, schloss die Augen und tat so, als läge Steven neben mir.

Aber jetzt brauchte meine Emma mehr. Meine arme Emma brauchte mehr als eine Schlafcouch, fremde Männer und tratschende Nachbarn, die Worte benutzten, die für die Ohren einer Fünfjährigen nicht geeignet waren. Und sie brauchte mich. Ich hatte in der Dunkelheit gelebt, war nur halb die Mutter gewesen, die sie verdient hatte. Vielleicht würde es mir mehr Frieden bringen, mich den Erinnerungen zu stellen, die unser Haus in sich trug.

Ich ging hinein und blickte hinunter auf meinen schlafenden Engel, dessen Brust sich in perfekten, regelmäßigen Abständen hob und senkte. Sie und ich hatten viel gemeinsam, von den Grübchen auf unseren Wangen bis zum Blond unserer Haare. Wir teilten dieselbe Art zu lachen – meistens leise, jedoch lauter in Gegenwart der Menschen, die wir liebten. Sie lächelte aus dem rechten Mundwinkel und verzog den linken, wenn sie sich über etwas ärgerte, genau wie ich.

Doch es gab einen markanten Unterschied.

Sie hatte blaue Augen.

Ich legte mich neben Emma und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase, bevor ich in die herzförmige Dose griff und einen weiteren Liebesbrief herauszog. Ich hatte ihn schon gelesen, aber er rührte meine Seele.

Manchmal stellte ich mir vor, die Briefe seien von Steven.

Dann weinte ich jedes Mal ein wenig.

2

ELIZABETH

»Fahren wir wirklich nach Hause?«, fragte Emma schläfrig, als der Morgen durch die Wohnzimmerfenster lugte und sein Licht auf ihr süßes Gesicht warf. Ich hob sie aus dem Bett und platzierte sie und Bubba – ihren Lieblingsteddy – auf dem nächsten Stuhl. Bubba war nicht einfach bloß ein Teddy, er war ein mumifizierter Teddy. Mein kleines Mädchen war immer schon ein wenig eigenartig gewesen, und nachdem sie den Film Hotel Transsilvanien gesehen hatte, in dem jede Menge Zombies, Vampire und Mumien auftraten, hatte sie beschlossen, dass ein wenig gruselig und ein wenig eigenartig vielleicht ziemlich perfekt war.

»Ja.« Ich lächelte ihr zu, während ich das Schlafsofa wieder zusammenschob. In der letzten Nacht hatte ich kein Auge zugetan und all unsere Sachen gepackt.

Emmas albernes Grinsen war das Grinsen ihres Vaters. Sie schrie: »Jippie!« und erklärte Bubba, dass wir bald wieder zu Hause sein würden.

Zu Hause.

Die Worte schmerzten ein wenig im hinteren Teil meines Herzens, aber ich lächelte weiter. Ich hatte mir angewöhnt, in Emmas Gegenwart immer zu lächeln, denn wenn sie merkte, dass ich traurig war, wurde sie ebenfalls traurig. Und auch wenn sie mir die besten Eskimo-Küsschen gab, wann immer sie das Gefühl hatte, dass es mir nicht gut ging, wollte ich ihr dieses Gefühl der Verantwortung ersparen.

»Wir sollten rechtzeitig zu Hause sein, um von unserem Dach aus das Feuerwerk zu gucken. Erinnerst du dich, wie wir immer mit Daddy das Feuerwerk vom Dach aus beobachtet haben? Erinnerst du dich, Süße?«, fragte ich.

Sie runzelte die Stirn, als müsste sie tief in sich gehen und suchen. Wenn unser Gedächtnis doch nur so organisiert wäre wie ein Aktenschrank und wir unsere liebsten Erinnerungen einfach herausziehen könnten, wann immer uns danach war. »Ich erinnere mich nicht«, sagte sie und drückte Bubba fest an sich.

Es bricht mir das Herz.

Ich lächelte trotzdem.

»Nun, was hältst du davon, wenn wir unterwegs beim Laden anhalten und ein paar Bomb Pops holen, die wir dann auf dem Dach lutschen können?«

»Und ein paar Cheeto Puffs für Bubba!«

»Selbstverständlich.«

Sie grinste und jubelte noch ein wenig. Dieses Mal war das Lächeln, das ich ihr schenkte, ganz und gar echt.

Ich liebte sie mehr, als sie jemals erfahren würde. Ohne sie hätte ich mich in meiner Trauer verloren. Emma hat meine Seele gerettet.

Ich verabschiedete mich nicht von meiner Mutter, denn sie war noch immer nicht von ihrem Date mit Casanova zurückgekehrt. Anfangs, nachdem wir bei ihr eingezogen waren, hatte ich ihr hinterhertelefoniert und mir Sorgen gemacht, wenn sie nicht nach Hause gekommen war. Doch meist hatte sie mir nur lautstark zu verstehen gegeben, dass sie eine erwachsene Frau sei, die erwachsene Dinge tue.

Also schrieb ich ihr einen Zettel.

Fahren nach Hause.

Haben dich lieb.

Sehen uns bald.

E&E

Wir fuhren in meinem altersschwachen Wagen stundenlang quer durch das Land und hörten dabei den Soundtrack zu Disneys Eiskönigin so oft, dass ich allmählich mit dem Gedanken spielte, mir die Wimpern einzeln mit einer Pinzette auszureißen. Emma hörte sich jeden einzelnen Vers eine Million Mal an, nur um dann ihren eigenen Text zu singen – und um ehrlich zu sein, gefiel mir ihre Version am besten.

Als sie einschlief, schlief die Eiskönigin mit ihr und ließ mich in einem stillen Auto zurück. Meine Hand glitt hinüber zur Beifahrerseite, Handfläche nach oben gekehrt, und wartete darauf, dass eine andere Hand ihre Finger mit meinen verschränkte, doch meine Hand blieb leer.

Du machst das gut, sagte ich mir, wieder und wieder. Es ist gut.

Eines Tages würde es wahr sein.

Eines Tages würde es wieder gut sein.

Als wir auf die I-64 auffuhren, zog sich alles in mir zusammen. Ich wünschte, ich könnte über Landstraßen bis nach Meadows Creek fahren, aber der Freeway war der einzige Weg. Durch den Feiertag war viel Verkehr, aber die neue, glatte Asphaltdecke auf der ehemals so kaputten Straße machte die Fahrt zumindest angenehm ruhig. Tränen traten mir in die Augen, als ich mich daran erinnerte, wie ich die Nachrichten gesehen hatte.

Massenkarambolage auf der I-64!

Chaos!

Trümmer!

Verletzte!

Tote!

Steven.

Ein Atemzug.

Ich fuhr weiter, und die Tränen, die zu entkommen versuchten, vertrockneten. Ich zwang mich, taub und gefühllos zu werden, sonst würde ich alles fühlen, und wenn ich alles fühlte, würde ich zusammenbrechen, und ich konnte nicht zusammenbrechen. Der Rückspiegel zeigte mir mein letztes Restchen Kraft, als ich auf meine kleine Tochter starrte. Wir schafften es über den Freeway, und ich nahm noch einen Atemzug. Jeder Tag war ein Atemzug nach dem anderen. Weiter konnte ich nicht denken, sonst würde ich am Sauerstoff ersticken.

Auf einem strahlend weißen Holzschild stand »Willkommen in Meadows Creek«.

Emma war jetzt wieder wach und sah aus dem Fenster. »Mama?«

»Ja, Süße?«

»Weiß Daddy, dass wir umgezogen sind? Und wo er jetzt die Federn hinbringen muss?«

Nachdem Steven uns verlassen hatte und wir zu meiner Mutter gezogen waren, hatten eines Tages einmal weiße Vogelfedern im Vorgarten gelegen. Als Emma fragte, woher sie kämen, erklärte meine Mutter, das seien Zeichen von den Engelchen, um uns wissen zu lassen, dass sie immer in unserer Nähe seien und auf uns aufpassten.

Emma fand diesen Gedanken wunderbar, und wann immer sie nun eine Feder fand, sah sie zum Himmel, lächelte und flüsterte: »Ich liebe dich auch, Daddy.« Und dann machte sie ein Foto von sich mit der Feder, um es ihrer »Daddy und ich«-Kollektion hinzuzufügen.

»Ich bin mir sicher, er wird wissen, wo er uns findet, mein Schatz.«

»Ja«, stimmte sie mir zu. »Ja, er wird wissen, wo er uns findet.«

Die Bäume waren grüner, als ich sie in Erinnerung hatte, und die kleinen Geschäfte in der Stadt waren rot-weiß-blau geschmückt. Alles war so vertraut und zugleich so fremd. Mrs Fredricks Sternenbanner flatterte im Wind, während sie patriotisch gefärbte Rosen in einen Topf pflanzte. Voller Stolz trat sie zurück, um ihr Werk zu begutachten.

Wir standen ganze zehn Minuten an der einzigen Ampel der Stadt. Die lange Wartezeit machte überhaupt keinen Sinn, aber sie gab mir Gelegenheit, alles in mich aufzunehmen, was mich an Steven erinnerte. An uns. Sobald die Ampel auf Grün sprang, trat ich aufs Gas. Ich wollte nur noch nach Hause und die Schatten der Vergangenheit ignorieren. Als der Wagen beschleunigte, sah ich aus dem Augenwinkel einen Hund auf mich zurasen. Mein Fuß stieg auf die Bremse, aber mein alter, kriegsmüder Wagen verschluckte sich und zögerte anzuhalten. In dem Augenblick, als er endlich zum Stehen kam, hörte ich das Jaulen.

Mein Herz schlug bis zum Hals und blieb dort, wo es meinen nächsten Atemzug blockierte. Ich rammte den Schaltknüppel in die Parkposition. Emma wollte wissen, was geschehen war, aber ich hatte keine Zeit, ihr zu antworten. Ich schwang die Tür auf und erreichte den armen Hund in dem Moment, als ein Mann auf mich zustürmte. Der starre, intensive Blick seiner weit aufgerissenen, sturmgraublauen Augen traf meinen und hielt ihn gefangen. Die meisten blauen Augen gaben einem ein warmes, einladendes Gefühl. Nicht seine. Sein Blick war intensiv, angespannt, so wie seine gesamte Körperhaltung. Eisig und abweisend. Um den Rand seiner Iris zogen sich tiefe Blautöne, durch die sich jedoch silberne und schwarze Farbstreifen webten. All das verstärkte noch den verschleierten Eindruck seines Blickes. Die Farbe seiner Augen erinnerte an die Schatten am Himmel kurz vor dem Ausbruch eines heftigen Gewitters.

Seine Augen schienen mir so vertraut. Kannte ich ihn? Ich hätte schwören können, diesem starren Blick schon einmal begegnet zu sein. Er schien gleichzeitig panisch und wütend, während er seinen Blick auf – ich ging mal davon aus – seinen Hund richtete, der noch immer still dalag. Um den Hals des Fremden hingen ein Paar gigantische Kopfhörer, die per Kabel mit etwas verbunden waren, das in seiner Gesäßtasche steckte.

Er trug Sportkleidung. Sein langärmeliges Shirt spannte sich um seine muskulösen Arme, seine schwarzen Shorts zeigten seine wohlgeformten Beine, und Schweiß perlte auf seiner Stirn. Vermutlich war er mit seinem Hund eine Runde laufen gewesen, als ihm die Leine aus der Hand geglitten war. Aber der Mann trug keine Schuhe.

Wieso trug er keine Schuhe?

Das tat nichts zur Sache. War sein Hund okay?

Ich hätte besser aufpassen müssen.

»Es tut mir so leid, ich habe ihn nicht gesehen …«, begann ich, doch der Kerl knurrte nur böse, als hätten meine Worte ihn beleidigt.

»Wollen Sie mich verarschen, oder was?!«, brüllte er, sodass ich zusammenzuckte. Er nahm seinen Hund auf die Arme und wiegte ihn wie ein kleines Kind. Als er sich wieder aufrichtete, richtete ich mich ebenfalls auf. Als er sich suchend umsah, sah ich mich ebenfalls suchend um.

»Ich kann Sie zum Tierarzt fahren«, sagte ich. Ich zitterte am ganzen Körper, als ich den Hund in seinen Armen liegen sah. Der Ton, mit dem der Kerl mich angefahren hatte, hätte mich wütend machen sollen, aber wenn jemand im Panik-Modus war, durfte man ihm keine Vorwürfe für mangelndes Benehmen machen. Er antwortete nicht, aber ich sah das Zögern in seinen Augen. Sein Gesicht wurde von einem sehr dichten, dunklen, ungezähmten Bart umrahmt. Sein Mund war irgendwo in dieser Wildnis verborgen, und so konnte ich mich nur auf das verlassen, was seine Augen mir verrieten. »Bitte«, flehte ich. »Es ist zu weit, um zu laufen.«

Er nickte einmal, nur einmal. Dann öffnete er die Wagentür, setzte sich mit seinem Hund auf den Beifahrersitz und zog die Tür wieder zu.

Ich sprang ins Auto und fuhr los.

»Was ist passiert?«, fragte Emma.

»Wir fahren den kleinen Hund nur schnell zum Tierarzt, damit der einen Blick auf ihn werfen kann, Schatz. Es ist alles in Ordnung.« Ich hoffte inständig, dass ich nicht log.

Die Fahrt zur nächsten Tierklinik dauerte zwanzig Minuten und lief nicht unbedingt so, wie ich es erwartet hatte.

»Fahren Sie über die Cobbler Street, und dann links«, befahl er.

»Über die Harper Avenue geht es schneller«, erwiderte ich.

Er grunzte verärgert. »Sie haben keinen Schimmer, wovon Sie reden, verdammt. Nehmen Sie die Cobbler!«

Ich holte tief Luft. »Ich weiß, wie ich fahren muss.«

»Tun Sie das? Wenn ich mich nicht irre, ist Ihr Fahrstil der Grund, wieso wir überhaupt hier sitzen.«

Ich war kurz davor, diesen ungehobelten Mistkerl aus dem Auto zu werfen, aber sein wimmernder Hund hielt mich davon ab. »Ich habe mich entschuldigt.«

»Das hilft meinem Hund auch nicht weiter.«

Arschloch.

»Die Cobbler ist die nächste rechts«, sagte er.

»Die Harper ist die übernächste rechts.«

»Nehmen Sie nicht die Harper.«

Oh, und wie ich die Harper nehmen werde, schon allein um dieser Nervensäge mal so richtig auf den Draht zu gehen. Wer glaubt er eigentlich, wer er ist?

Ich fuhr rechts auf die Harper.

»Ich kann einfach nicht glauben, dass Sie gerade die Harper genommen haben«, stöhnte er. Seine Wut zauberte ein kleines Lächeln auf mein Gesicht – bis ich vor der Baustelle mit der Straßensperre stand. »Sind Sie immer so eine Ignorantin?«

»Sind Sie immer so … so ein …«, stotterte ich, denn ich war noch nie gut darin gewesen, mich mit anderen Leuten zu streiten. In aller Regel war ich sogar ziemlich schlecht und fing irgendwann an zu weinen, weil die Worte sich nicht schnell genug in meinem Kopf bildeten, um bei der Geschwindigkeit, mit der Streitereien sich normalerweise abspielten, mithalten zu können. Ich gehörte zu den Menschen, denen die besten Antworten drei Tage nach dem Streit einfielen. »Sind sie immer so ein … so ein …«

»Immer so ein was? Spucken Sie’s aus! Benutzen Sie Wörter!«, befahl er.

Ich wendete und fuhr Richtung Cobbler Street. »Sind Sie immer so ein …«

»Kommen Sie, Sherlock, Sie schaffen das«, sagte er spöttisch.

»SO EIN ARSCH!«, brüllte ich und bog auf die Cobbler.

Im Auto wurde es ganz still. Meine Wangen brannten, und meine Finger krampften sich um das Lenkrad.

Als ich vor der Tierklinik anhielt, öffnete er wortlos die Tür, stieg mit seinem Hund aus und eilte in die Notaufnahme. Ich überlegte, ob das der Moment war, in dem sich unsere Wege trennten, aber mir war klar, dass ich erst beruhigt sein würde, wenn ich wusste, dass es dem Hund gut ging.

»Mommy?«, fragte Emma.

»Ja, Baby?«

»Was ist ein Arsch?«

Elterliches Fehlverhalten Nummer fünfhundertzweiundachtzig für heute. »Nichts, Schatz. Ich habe ›Barsch‹ gesagt. Ein Barsch ist ein Fisch.«

»Du hast diesen Mann einen Fisch genannt?«

»Jepp. Einen großen Fisch.«

»Muss der Hund sterben?«

Ich hoffe nicht.

Ich schnallte Emma ab, dann machten wir uns auf den Weg in die Notaufnahme. Unsere neue Straßenbekanntschaft klatschte gerade seine Hände auf die Theke an der Anmeldung. Seine Lippen bewegten sich, aber ich konnte nicht hören, was er sagte.

Der Rezeptionistin wurde die Situation zunehmend unangenehm. »Sir, ich sage ja nur, Sie müssen diese Formulare ausfüllen und uns eine Kreditkarte geben, sonst können wir uns nicht um Ihren Hund kümmern. Außerdem können Sie nicht einfach so ohne Schuhe hier hereinkommen. Ihre Einstellung hilft uns hier nicht weiter.«

Unsere Straßenbekanntschaft schlug noch einmal mit der Faust auf die Theke und begann dann, davor auf und ab zu laufen. Seine Hände fuhren durch sein langes schwarzes Haar und blieben in seinem Nacken liegen. Sein Atem ging schwer und unregelmäßig, seine Brust hob und senkte sich heftig. »Sehe ich verdammt noch mal so aus, als hätte ich eine Kreditkarte in der Tasche? Ich war joggen, Sie dumme Kuh! Und wenn Sie nicht vorhaben, irgendetwas zu unternehmen, dann holen Sie jemand anderen, mit dem ich reden kann.«

Die Frau zuckte bei seinen Worten und seiner Wut zusammen. Ich auch.

»Die beiden gehören zu mir.« Ich ging zur Anmeldung. Emma hing an meinem Arm, Bubba an ihrem. Ich griff in meine Handtasche, zog meine Brieftasche heraus und reichte der Frau meine Karte.

Sie kniff die Augen zusammen und blickte mich unsicher an. »Sie gehören zu ihm?«, fragte sie, beinahe beleidigend, als wäre er jemand, der es verdient hätte, allein zu sein.

Niemand verdiente es, allein zu sein.

Ich schaute zu ihm hinüber und sah Verblüffung in seinem Blick, direkt neben der Wut, die immer noch da war. Ich wollte wegschauen, doch das Elend, das in seinen Augen schwamm, war mir zu vertraut, um den Blickkontakt abzubrechen.

»Ja.« Ich nickte. »Ich gehöre zu ihm.« Sie zögerte noch ein wenig, und ich straffte die Schultern. »Ist das ein Problem?«

»Nein, nein. Bitte füllen Sie dieses Formular hier aus.«

Ich nahm das Clipboard und ging hinüber in den Wartebereich.

Der Fernseher zeigte Animal Planet, und in einer Ecke stand ein Spielzeugzug, den Emma und Bubba sogleich in Beschlag nahmen. Unsere Straßenbekanntschaft starrte mich noch immer an, seine Körperhaltung war steif und distanziert.

»Ich brauche ein paar Informationen«, sagte ich.

Er kam langsam näher, setzte sich neben mich und legte die Hände in den Schoß.

»Wie heißt er? Ihr Hund?«

Er öffnete die Lippen und zögerte, bevor er antwortete. »Zeus.«

Ich lächelte. Ein perfekter Name für einen riesigen Golden Retriever.

»Und Ihr Name?«

»Tristan Cole.«

Nachdem ich das Formular ausgefüllt und ihm sicherheitshalber zum Durchlesen hingehalten hatte, brachte ich es zurück zur Anmeldung. »Geben Sie Zeus alles, was er braucht, und setzen Sie es auf meine Karte.«

»Sind Sie sicher?«

»Absolut.«

»Es könnte sich schnell summieren«, warnte sie.

»Dann rechnen Sie schnell mit.«

Ich setzte mich wieder in den Wartebereich neben Tristan. Als seine Hände gegen seine Shorts zu klopfen begannen, konnte ich erkennen, unter welcher Anspannung er stand. Sein starrer, wirrer Blick hatte sich nicht verändert.

Seine Lippen bewegten sich, während die Finger sich aneinander rieben, bis er sich die Kopfhörer aufsetzte und an seinem Kassettenrecorder auf Play drückte.

Emma kam hin und wieder zu mir herüber und fragte, wann wir endlich nach Hause fahren würden, und ich sagte ihr, ein wenig würde es noch dauern. Auf dem Rückweg zu ihrem Zug blieb sie vor Tristan stehen und betrachtete ihn.

»Hey, Mister.«

Er ignorierte sie.

Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Hey, Mister!«, sagte sie, jetzt lauter. Ein Jahr mit meiner Mutter hatte meine Mini in ein aufmüpfiges Monster verwandelt. »Hey, Mister! Ich rede mit Ihnen!«, sagte sie und tippte mit dem Fuß auf den Boden. Tristan sah auf sie hinunter. »Du bist ein großer, fetter, MONSTERFISCH!«

Oh je.

Ich hätte niemals die Erlaubnis erhalten dürfen, ein Kind großzuziehen. Ich war auf diesem Gebiet eine absolute Niete.

Ich wollte sie gerade zurechtweisen, als ich für den Bruchteil einer Sekunde die Andeutung eines Lächelns hinter Tristans dichtem Bart hervorkriechen sah. Es war beinahe gar nicht da, trotzdem hätte ich schwören können, dass seine Unterlippe gezuckt hatte. Emma war in der Lage, selbst die finstersten Seelen zum Lächeln zu bringen. Ich war der lebende Beweis dafür.

Nach einer weiteren halben Stunde kam der Tierarzt, um uns zu sagen, dass Zeus wieder gesund werden würde. Nur ein paar Prellungen und ein gebrochenes Vorderbein. Ich dankte dem Arzt, und als er davonging, lösten sich Tristans Hände, und er stand ganz still. Dann begann er am ganzen Körper zu zittern. Mit einem einzigen tiefen Atemzug war das wütende Arschloch verschwunden und es blieb nichts übrig als Verzweiflung. Er versank in seinen Emotionen, und als er ausatmete, begann er unkontrolliert zu schluchzen. Seine Tränen waren unnachgiebig, roh und voller Schmerz. Meine Augen wurden feucht, und ich schwöre, ein Teil meines Herzens zerbrach im Einklang mit seinem.

»Hey, Fisch! Hey, Fisch! Nicht weinen, Fisch«, sagte Emma und zupfte an Tristans T-Shirt. »Alles ist gut.«

»Alles ist gut«, wiederholte ich die Worte meines süßen kleinen Mädchens und legte tröstend eine Hand auf seine Schulter. »Zeus wird wieder gesund. Es geht ihm gut. Es ist alles in Ordnung.«

Er neigte den Kopf in meine Richtung und nickte, als würde er mir irgendwie glauben. Nach ein paar tiefen Atemzügen presste er sich die Finger auf die Augen und schüttelte den Kopf. Er tat sein Bestes, um seine Verlegenheit, seine Scham zu verbergen.

Er räusperte sich und rückte ein Stück von mir ab, und wir blieben auf Distanz, bis der Tierarzt Zeus herausbrachte. Tristan legte die Arme um seinen Hund, der erschöpft war, es aber dennoch schaffte, mit dem Schwanz zu wedeln und seinem Herrchen ein paar Hundeküsse zu geben. Tristan lächelte, und diesmal war es kaum zu übersehen: ein großes, erleichtertes Lächeln. Wenn Liebe im Augenblick existierte, dann in diesem.

Emma nahm meine Hand, und wir gingen ein paar Schritte hinter Tristan und Zeus, als sie aus der Klinik traten.

Tristan wollte mit Zeus in den Armen davongehen. Er hatte kein Interesse daran, mit uns in die Stadt zurückzufahren. Ich wollte ihn aufhalten, doch ich hatte keinen Grund, ihn zu bitten, zurückzukommen. Also schnallte ich Emma in ihren Sitz und zuckte erschrocken zusammen, als ich mich umdrehte und Tristan nur wenige Zentimeter hinter mir stand. Sein Blick fand meinen. Meine Augen weigerten sich, den Blick abzuwenden. Mein Atem stockte, und ich versuchte mich zu erinnern, wann ich zum letzten Mal einem Mann so nah gewesen war.

Er trat noch näher.

Ich rührte mich nicht.

Er atmete ein.

Ich atmete ein.

Ein Atemzug.

Zu mehr war ich nicht imstande.

Unsere körperliche Nähe ließ meinen Magen verkrampfen, und ich war schon bereit, mit einem »Gern geschehen« auf sein »Danke« zu antworten, das sicherlich jeden Augenblick über seine Lippen kommen würde.

»Lernen Sie verdammt noch mal Autofahren«, fauchte er und ging davon.

Kein »Danke, dass Sie die Rechnung übernommen haben«, kein »Danke, dass Sie mich hergefahren haben«, nur »Lernen Sie verdammt nochmal Autofahren«.

Nun gut.

Mit einem leisen Flüstern antwortete ich in den Wind, der gegen meine eisige Haut wehte. »Gern geschehen, Fisch.«