Informationen zum Buch

»Zurück in Berlin« Ein großer verschollener Nachkriegsroman.

Zwischen Stunde null und Wirtschaftswunder: Ein jüdischer Exilant kehrt nach Berlin zurück, um sich seiner Vergangenheit zu stellen. In der zerstörten, doch lebendigen Stadt erwartet ihn eine Aufgabe, mit der er nicht im Geringsten gerechnet hat.

Der Londoner Eric Devon heißt eigentlich Erich Dalburg und wuchs in Berlin-Grunewald auf. Während des Zweiten Weltkriegs musste der junge jüdische Widerständler alles zurücklassen. Nur seine Frau Nora, eine Britin, und eine befreundete amerikanische Journalistin wissen von seinen deutschen Wurzeln. Sie überzeugen ihn, gemeinsam nach Berlin zu fahren. Zögerlich lässt sich Eric auf die Reise ein, und schon bald stehen die drei vor seinem Elternhaus. Bewohnt wird es von einer Tante, die Eric für mitschuldig am Tod seines Vaters hält. Doch er muss sein Bild von der Vergangenheit revidieren und sich eigene Fehler eingestehen. Geschenkt wird ihm ein neuer Anfang dort, wo er ihn am wenigsten erwartet hätte: in seiner Familie, in Berlin.

»Welch eine Reise in die Zeit: dieser amerikanische Blick auf das westliche wie östliche Berlin der späten 50er Jahre. So aufmerksam und klug, dass uns unsere eigene Geschichte zwischen Trümmer- und Wirtschaftswunderzeit mit ihren Nöten, Freuden und Möglichkeiten neu entgegenkommt. Frisch. Jenseits der deutschen Klischees. Bereichernd. Ein Gewinn.« Ulrike Draesner

Verna B. Carleton

Zurück
in Berlin

Roman

Herausgegeben und mit einem Nachwort von Ulrike Draesner

Aus dem Amerikanischen übersetzt
von Verena von Koskull

Für Sophie und meine deutschen Freunde

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Vorwort

Teil eins: Fährt hier jemand nach Deutschland?

Eins

Zwei

Drei

Teil zwei: Berlin – der Bär tanzt nicht mehr

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Teil drei: Durch Deutschland nach Berlin

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Anhang

Ulrike Draesner
Landschaften des Verlustes, Landschaften der Wiederkehr

Über Verna B. Carleton

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Vorwort

Zurück in Berlin ist nicht als Bericht über Deutschland gedacht, und wer darin nach Erklärungen für die vielschichtigen Probleme sucht, vor denen das Land heute steht, wird das Buch enttäuscht zur Seite legen. Mein Anliegen war allein, so wahrheitsgetreu wie möglich die Suche eines Deutschen nach seiner verlorenen Identität sowie die Schwierigkeiten zu beschreiben, denen er sich bei der Rückkehr aus dem Exil ausgesetzt sieht. Um die Anonymität meiner Figuren zu wahren, habe ich sämtliche Namen und bestimmte Aspekte der Hintergrundhandlung abgewandelt. Sollte es Familien mit den Namen Dalburg, von Ludowitz oder Ahrenfeld geben, ist dies allein dem Zufall geschuldet.

Es ist mir ein Bedürfnis, mich bei jedem meiner Freunde inner- und außerhalb Deutschlands für Ermutigung und Zuspruch beim Verfassen dieses Buches zu bedanken. Zurück in Berlin hätte ohne das Vertrauen und die unermüdliche Unterstützung der Personen, deren Geschichten hier erzählt werden, nicht geschrieben werden können. Ich kann nur hoffen, den in mich gesetzten Erwartungen gerecht geworden zu sein.

London, 1959

V. B. C.

Teil eins
Fährt hier jemand nach Deutschland?

Eins

Vor wenigen Stunden erst hatten wir Fort Lauderdale in Florida verlassen, um unter einer erbarmungslosen tropischen Sonne über ein gleißendes Meer zu treiben, als ich den Devons zum ersten Mal begegnete.

Die Caribe, ein schmutzig weißer, in die Jahre gekommener Überseedampfer, der unter italienischer Flagge die Route Southampton–Genua–Venezuela bediente, gehörte zu der Sorte Schiff, die man nur im äußersten Notfall besteigt. Ich wollte den Sommer in Europa verbringen, und die einzige Überfahrt, die sich zur Hauptreisezeit in jenem Juli 1956 hatte auftreiben lassen, war eine Passage auf diesem schwerfälligen, gerade noch seetüchtigen Dampfer. Bevor ich an Bord ging, war die Caribe bereits einige Tage über eben jene liebliche See geschippert, der sie ihren Namen verdankte, um holländische Passagiere auf Curaçao aufzunehmen, Briten in Jamaika, Südamerikaner und Spanier sowie Vertreter allerlei anderer Nationen in La Guajira. Eine hitzige Krisensitzung der Vereinten Nationen war nichts gegen das vielsprachige Stimmengewirr des Speisesaals.

Inmitten dieses lärmenden Trubels wirkte das stille britische Paar gänzlich verloren und fehl am Platze. Dicht nebeneinander kauerten die beiden auf einer Bank des Oberdecks und starrten beklommen auf das winzige Schwimmbecken, das zu dieser Stunde von einem Schwarm kreischender Kinder mit Beschlag belegt war. Als ich mich näherte, blickten sie unvermittelt auf, dankbar für jede Art von Ablenkung.

»Schrecklich überlaufen, nicht wahr?«, sagte die Frau. Über ihr spitzes, blasses, ein wenig schüchternes Gesicht huschte ein Lächeln.

»Grauenhaft«, entgegnete ich. »Sind Sie schon lange an Bord?«

»Vier Tage. Wir haben in Kingston eingeschifft. Im Reisebüro hieß es, der Dampfer sei wunderbar, genau das Richtige, um sich zu erholen – geruhsam und so fort, aber –«

»Das hat man mir auch weisgemacht.« Ich dachte daran, welche Herrlichkeit ich mir ausgemalt hatte: eine lange, beschauliche Reise über den Atlantik, bequem ausgestreckt im Liegestuhl, das Rufen der Möwen im Ohr. »Und jetzt sitzen wir auf einer Art Auswandererschiff, das Arbeiter zwischen Europa und Südamerika hin- und herschippert.«

»Unter haarsträubenden Bedingungen«, sagte sie ungehalten. »Sie müssen sich mal das Loch namens Dritte Klasse ansehen, in das man die armen Jamaikaner pfercht, die in England schuften sollen. Wie Vieh – und das bei dieser Hitze!« Sie zögerte, als wollte sie ihrem Mann Gelegenheit geben, sich einzumischen. »Sobald ich wieder zu Hause bin, schreibe ich einen Leserbrief an die Times. Die Zustände sind empörend.«

»Und das Essen?«

»Grässlich. Alles, was nicht gebraten ist, schwimmt in Öl.« Diesmal klang sie halb entschuldigend, als gehörte es sich nicht, sich zu beklagen, wenn es anderen so viel schlechter ging. Das zitronenklare Licht an Deck ließ ihre Augen in den sanften Tönungen eines Zobelfells schimmern wie ihr glattes, zu einem straffen Chignon geknotetes Haar. Von ihrer zart sommersprossigen Haut stieg ein Hauch Fliederduft auf.

Unvermittelt schepperte aus einem neben der Lounge verborgenen Lautsprecher amerikanischer Jazz, dessen hämmernde, ohrenbetäubende Rhythmen das Gewirr aus Stimmen, Kindergeschrei und Motorstampfen noch steigerten.

»Musik vom Band zur Beruhigung unserer Nerven«, erklärte sie und rückte zur Seite, um mir Platz zu machen. »Jeden Vormittag von zehn bis zwölf und nachmittags noch mal.«

»Wie sollen wir das zwei Wochen lang aushalten?« Mir schwante Übles.

»Das haben mein Mann und ich uns auch schon gefragt. Zum Glück gibt es eine Handvoll netter Menschen an Bord, die Englisch sprechen, so können wir wenigstens gemeinsam verzweifeln. Besser, als das Unglück allein zu ertragen, finden Sie nicht?«

Ich schätzte sie auf etwa vierzig, auch wenn ihre melodiöse Stimme jünger klang. Ohne Punkt und Komma sprach sie weiter, und während ich ihren Beschreibungen einiger Mitreisender lauschte, überkam mich der Verdacht, dass sie mich partout davon abhalten wollte, zu gehen, als fürchtete sie sich davor, dann den fremden Sprachen und dem allgemeinen Durcheinander wieder allein mit ihrem Mann ausgeliefert zu sein.

So abrupt, wie die Musik eingesetzt hatte, brach sie ab, nur um sogleich mit einem kubanischen Danzón erneut loszulegen. Aus voller Kehle stimmte eine Gruppe Spanier in das schwungvolle andalusische Volkslied ein und krakeelte mit dem Lautsprecher um die Wette. Wie unter Kreuzfeuer versuchten die Frau und ich, unsere Unterhaltung fortzusetzen, als könnten wir uns hinter einem Schutzwall schwacher Worte vor der nervtötenden Umgebung in Sicherheit bringen.

Sie hießen Eric und Nora Devon (Nora  – nach der Schauspielerin Eleonora Duse, typisch für ihre Mutter), lebten in London, genauer gesagt, in Chelsea, und hatten einige Monate bei ihrer Schwester Cordelia in Jamaika verbracht, deren Mann Zucker anbaute. Erics Bronchitis sei im vergangenen Winter besonders hartnäckig gewesen, nicht zuletzt dank Londons feuchter Kälte und seines Smogs. Sie hatten gehofft, das Tropenklima würde Eric guttun, doch Noras Ton verriet, dass dem nicht so gewesen war. Ihr Mann sei in einem Verlag angestellt, sie arbeite als Kinderbuchillustratorin, nicht weiter erwähnenswert, doch fänden ihre Arbeiten glücklicherweise Anklang.

»Und wohin geht Ihre Reise?«, fragte sie.

Zunächst nach London, sagte ich, dann wolle ich ein wenig durch Europa streifen. Mein Hauptziel aber sei Berlin.

»Berlin?«, wiederholte Nora, als hätte ich vom Mars gesprochen. Hastig blickte sie zu ihrem Mann, der wortlos zugehört hatte. Zum ersten Mal wandte sich Eric Devon mir zu, das hagere Profil verwandelte sich in ein Gesicht mit hoher Stirn, ergrauendem aschblondem Haar und einem wohlgeformten, wenn auch von innerer Anspannung gezeichneten Mund.

»Warum Berlin?«, fragte er. Eine Allerweltserklärung würde er nicht gelten lassen.

Ich entgegnete, dass ich für verschiedene Zeitschriften schrieb und Berlin nun einmal –

»Nein, bitte«, unterbrach er mich. »Erzählen Sie mir nicht, dass Sie für ein Wochenende in die geteilte Stadt fliegen, um eine weitere dieser grausigen kleinen Storys über den Überfluss auf der einen und die verhungernden Menschen auf der anderen Seite abzusetzen.«

»Eric!« Ein scharfer Ton von seiner Frau.

»Tut mir leid.«

»Muss es nicht«, sagte ich. »Ich habe gar nicht vor, über Berlin zu schreiben. Ich möchte es mir nur ansehen.«

»Touristen sind niemals dazu in der Lage, sich ein Bild von den wirklichen Zuständen vor Ort zu machen«, meinte er, als hätte dieser Gedanke etwas Tröstliches. »Die Deutschen werden Ihnen das Blaue vom Himmel herunterlügen: Schon immer seien sie treffliche kleine Demokraten gewesen. Das Elend, das die Nazis über Europa brachten, sei einzig und allein die Schuld einer Handvoll übler Schurken, die nichts mit dem hochgesinnten, von Geistesidealen durchdrungenen deutschen Volk gemein hätten.«

Beunruhigt von der Bitterkeit in der Stimme ihres Mannes, ergriff Nora wieder das Wort.

»Bitte verzeihen Sie, wenn wir unversöhnlich klingen. Aber in England ist der Krieg, anders als in Amerika, noch nicht vergessen.«

»Stimmt. Bei uns fielen keine Bomben. Das ist ein gewichtiger Unterschied.«

»Wieso fahren Sie nicht lieber nach Wien?« Eric erhob sich von der Bank und sah mich an. Eine große, hagere Gestalt in austerfarbenen Bermudahosen und gestreiftem Sporthemd; etwas an ihm erinnerte mich an einen Windhund, ein erwartungsvoll bebendes Nervenbündel.

»Bedaure – ich fahre nach Berlin«, sagte ich.

»Aber warum nur?«, beharrte er. Aus irgendeinem Grund schien diese Frage für ihn von überragender Bedeutung.

»Mag sein, dass Sie das nicht verstehen. Oder vielleicht doch – eben weil der Krieg für Sie noch so gegenwärtig ist. Am Tag meiner Ankunft werde ich mich nach Ostberlin aufmachen, mich vor die Überreste von Hitlers Bunker stellen und meiner deutschen Freunde gedenken, die von den Nazis umgebracht wurden oder im Exil ums Leben kamen und niemals zurückkehren können. In ihrem Namen werde ich rufen: ›Gott sei es gedankt – ich lebe und sehe dieses Tausendjährige Reich in Trümmern!‹«

»Welchen Tisch haben Sie im Speisesaal?« Er klang erregt.

»Nummer vier.«

»Dann sitzen Sie bei den van Nosts. Nette Leute, aber Sie müssen an unseren Tisch wechseln. Sie muss, Nora –« Zuspruch heischend wandte er sich an seine Frau.

»O ja, unbedingt«, drängte sie mit ihrer sanften Stimme. »Sie ahnen gar nicht, wie viel angenehmer die Reise dadurch würde.«

Schon an meinem ersten Abend am Tisch der Devons spürte ich, dass dieses scheinbar glückliche, harmonische Paar in einer Lebenskrise steckte; Menschen, die mit etwas zu kämpfen haben, werden, berührt von einer tröstenden, ihnen in Freundschaft entgegengestreckten Hand, oft auf ganz eigene Weise verwundbar und anlehnungsbedürftig.

Nach dem Essen, als wir in der rotgepolsterten Lounge Platz nahmen, lernte ich einige der verwandten Seelen kennen, die Nora als Schutz gegen eine nur ihr bekannte Drohung um Eric und sich geschart hatte; einen ironischen, unterhaltsamen französischen Professor namens André Nollet, einen Mann in den Fünfzigern, das wohlfrisierte schüttere Kraushaar akkurat über dem hageren Mönchsgesicht gescheitelt; eine konfuse kleine englische Gouvernante, Miss Leeds, die den Großteil ihrer sechsundsiebzig Jahre im Dienst betuchter Familien in Frankreich zugebracht hatte; schließlich die van Nosts, ein untersetztes stilles Ehepaar aus Holland, das sich verblüffend ähnelte, sie waren beide in mittlerem Alter und hatten die gleichen, in Delfter Blau leuchtenden Augen.

Die nächsten vierundzwanzig Stunden, in denen das Schiff auf Kuba zukroch, um dort abermals anzulegen und weitere Passagiere und Proviant an Bord zu nehmen, diese beklemmend heißen Stunden, die das unablässige Dudeln einer spanischen Gaita auf dem Oberdeck noch unerträglicher machte, schweißten unser Grüppchen zusammen wie eine Schar Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel. Es gelang uns, in einer Ecke der überfüllten Lounge einen freien Tisch zu ergattern, und wir beschlossen, ihn für den Rest der Reise reihum zu verteidigen. Hier legten die Devons Patiencen, die Holländerin häkelte Spitze, Monsieur Nollet korrigierte mit bewundernswerter Konzentration das Manuskript seines neuen Buches über die französische Lyrik des achtzehnten Jahrhunderts, und Miss Leeds schwelgte in Erinnerungen an das Paris zur Zeit von Proust.

Doch selbst wenn wir alle beisammensaßen, war zwischen den Devons und mir eine Art unterschwelliger gegenseitiger Zuneigung spürbar, die uns ein wenig von den anderen absonderte und jeder kleinen Anspielung oder Spitze zusätzliches Gewicht verlieh. Wann immer sich Erics Schwermut lichtete, begeisterten mich sein bestechender Klarblick und sein Scharfsinn, die auf Noras Seite ihr weibliches Gegenstück gefunden zu haben schienen. Offenkundig waren beide äußerst redliche, aufrichtige und vertrauenswürdige Menschen, und es rührte mich, wie sehr sie einander liebten, was sich nicht in Floskeln oder gefühligen Gesten ausdrückte, sondern in ihrer gelassenen Art und Weise, den jeweils anderen vorbehaltlos anzunehmen und sich wortlos zu verständigen. Nora war von Natur aus eher verschlossen, doch das Dahinkriechen der Stunden inmitten der Einsamkeit der hohen See ließ alle Zurückhaltung von ihr abfallen. Kaum fanden wir uns allein, schilderte sie mir mit aller Lebendigkeit Szenen aus ihrem Leben mit Eric, geprägt von den schönen Erinnerungen, die sie über die Jahre gesammelt hatten.

Dem Anschein zum Trotz waren sie alles andere als ein frisch vermähltes Paar; sie hatten gegen Ende des Krieges geheiratet, Nora war dreißig gewesen, Eric fünfunddreißig. Ihr Glück ruhte nicht auf jugendlichem Übermut, sondern auf Reife, Verzicht und Schmerz. Einzig den Grund für den dunklen Schleier, der sich über ihr gemeinsames Leben gelegt zu haben schien, verriet sie mir nicht; es musste etwas sein, das mit Erics Krankheit und der langen fruchtlosen Auszeit zu tun hatte.

Als Kuba, ein schmaler, graugrüner Streifen, am Horizont auftauchte, gingen Eric und ich an Deck, während Nora, vertieft in eine Unterhaltung über holländische Urlaubsorte, mit den van Nosts in der Lounge zurückblieb. Wir lehnten an der Reling, schauten in das schäumende Wasser und kamen auf seelische Krisen zu sprechen. Eric erwähnte eine Bekannte, die versucht hatte, sich in der Themse zu ertränken, und bei ihrer Rettung nichts sagte als: »Ich konnte einfach nicht mehr.«

Er betrachtete ruhig einen vorbeiziehenden Frachter, auf dessen Bug in leuchtend roten Lettern Rotterdam stand. »Nora meint, ich sollte einen Psychiater aufsuchen.«

Der Frachter ließ grüßend sein Horn ertönen.

»Nach Jamaika bin ich nicht der Bronchitis wegen gefahren«, gestand er. »Auch ich hatte einen Zusammenbruch. Das Gefühl, einfach nicht mehr zu können.«

Wie eine dicke, über einen sumpfigen Teich dümpelnde Ente pflügte das schwerbeladene Schiff durch das Wasser und überholte uns.

»Das Gefühl kennt vermutlich jeder«, sagte ich. »Aber dann geht das Leben weiter – wenn man alles sorgfältig durchdacht und geordnet hat.«

»Sie halten es doch auch für besser, mit seinen Problemen allein fertigzuwerden?«, fragte er angespannt.

Es komme auf den Menschen und die Umstände an, antwortete ich mit aller Vorsicht. Es sei nicht leicht, in Augenblicken der Verzweiflung klare Gedanken zu fassen, da könnten ein Psychiater, ein psychologisch geschulter Berater oder ein geduldiger, liebevoller Freund eine ungeheure Hilfe sein. Einen schnellen Ausweg gebe es nicht, zumal nicht, wenn man einsam vor sich hin brüte.

»Wie dem auch sei«, entgegnete er, nachdem die Gischt unter uns mehrmals hochgeschlagen und wieder zerflossen war, »ich habe beschlossen, meine Probleme mit mir allein auszumachen. Dabei kann mir keiner helfen.«

Er hatte sich entschieden, das verstand ich wohl, und so leicht würde ihn nichts von dem einmal gewählten Weg abbringen. Ich bezweifelte, dass er mir noch mehr über sich anvertrauen würde, nicht einmal in der Abgeschiedenheit dieses Schiffes, oder dass ich jemals dahinterkäme, was Eric Devon wirklich verfolgte und warum seine Frau bisweilen kurz davor war, in Tränen auszubrechen, wenn sie von ihm sprach.

Eine Stunde später legten wir in Havanna an. Dort ereignete sich etwas völlig Unerwartetes, einer jener scheinbar belanglosen Zufälle, die, wie in einer Kettenreaktion, eine weit in die Zukunft reichende Folge von Ereignissen in Gang setzen.

Herr Emil Grubach aus Köln ging an Bord der Caribe.

Er kam nicht allein. Sechsundvierzig weitere Passagiere, zumeist Kubaner, schifften mit ihm ein. Und dann, wir blinzelten alle über die Reling zur Laufplanke hinüber, schnaufte dieses mondgesichtige schwitzende Männchen auf uns zu, das so eindeutig und unverwechselbar deutsch aussah, dass es einer Zeitungskarikatur entsprungen schien.

Die über der Bucht schwebenden, rosig grauen Trutztürme der Festung El Morro waren kaum in der Ferne verschwunden, als Herr Grubach unseren Tisch in der Lounge erspähte, unsere Gruppe unvermittelt in sein Herz schloss und uns überschwänglich begrüßte. Im nächsten Augenblick zog er sich ungebeten einen Stuhl heran, nestelte ein rotgesäumtes Taschentuch hervor, strich sich über die spärlichen Reste seines sandfarbenen Haars und begann, sich wortreich vorzustellen.

Offenbar war Herr Grubach in den Vereinigten Staaten gewesen, um Verwandte zu besuchen, die ihn törichterweise dazu überredet hatten, von Miami nach Havanna zu fliegen, um von dort ein Schiff nach Hause zu nehmen. Ein entsetzlicher Fehler, erklärte er. Havanna sei teuer, dreckig und wimmele nur so von Aufrührern. Nun, das überrasche ihn nicht, Kuba gehöre nun einmal den Kubanern, mithin Südländern, und Südländer seien dreckig, insbesondere die Italiener. Man betrachte nur einmal diesen Dampfer. Um nur einen Tag hatte er einen großartigen deutschen Frachter verpasst, so dass er gezwungen war, einen Platz auf der Caribe zu buchen. Etwas so Grausiges habe er sein Lebtag nicht gesehen. Zentimeterdicker Schmutz auf dem Kabinenboden, besudelte Waschräume. Eben, als er den Speisesaal durchquerte, habe er mit eigenen Augen beobachtet, wie ein Steward die Horsd’œuvres mit schmutzigen Fingern auf die Teller verteilte. So etwas sei in seinem Vaterland gänzlich undenkbar.

Kurioserweise hatten wir uns über genau dieselben Dinge beklagt, doch aus Herrn Grubachs Mund klang es, als richteten sich die Beschwerden nicht gegen dieses eine schlecht geführte Schiff, sondern als sollten alle Südländer und Nicht-Deutsche in Bausch und Bogen verdammt werden. Wie in stummem Einvernehmen hob Monsieur Nollet an, die Crew zu loben, die zwar ungeschickt, jedoch überaus sympathique sei; Miss Leeds konstatierte mit zittriger Stimme, das Bad in ihrem Gang sei makellos; ich warf ein, dass die Ursprünge der modernen Zivilisation an der Küste des Mittelmeeres lägen, und die van Nosts pflichteten mir bei.

Nur die Devons gaben keinen Laut von sich.

Herr Grubach gehörte nicht zu jenen, die sich kampflos geschlagen geben; mit einem Lächeln, das die kleinen gelben Zähne entblößte, forderte er uns heraus.

»Fährt hier jemand nach Deutschland?«, fragte er.

»Ich«, platzte es aus mir heraus, ehe ich es mir anders überlegen konnte.

»Deutschland wird Ihnen gefallen«, sagte Herr Grubach. Alles sei tadellos sauber. Es mache ihn krank, in andere Länder zu reisen, die Leute seien so schlampig – ja, selbst in Paris.

Monsieur Nollet gähnte hinter nervös vorgehaltenen Fingern.

Die folgende Stunde über schwiegen wir verstört, während Herr Grubach schilderte, wie erfolgreich sich das neue Deutschland aus der Asche der Zerstörung erhebe. In endlosen Kolonnen zögen die Schleppkähne wieder über den sagenhaften Rhein; glitzernde Wolkenkratzer überragten den einstigen Trümmerhorizont von Köln, Frankfurt und Westberlin; die Universitäten wimmelten von lebensfrohen Studenten, die Geschäfte von preisgünstigen Waren, in den Konditoreien werde ordentlich Sahne auf die Kuchen geschlagen – wie in der guten alten Zeit.

Einen naiven Augenblick lang fragte ich mich, ob der begeisterte Herr Grubach für ein deutsches Reisebüro arbeitete, doch da erzählte er schon von seinem gutgehenden Elektrogeschäft in Köln und wie wohlhabend seine inzwischen eingebürgerten amerikanischen Verwandten seien. In den Zwanzigern waren sie nach Philadelphia ausgewandert; hier nahm er es mit der Jahreszahl ganz genau, als wollte er uns überdeutlich machen, dass seine Familie nichts mit den unseligen Ereignissen zu tun gehabt hatte, von denen sein Vaterland später überrollt worden war. Kein einziges Mal nahm dieser kleine Deutsche das schmerzliche Wort Krieg in den Mund. Seine lebhaften Schilderungen, die unseren geruhsamen Nachmittag mächtig in Unruhe versetzten, hätten nahelegen können, Deutschland werde nach einer gewaltigen Naturkatastrophe, einer verheerenden Flutwelle oder einem Erdbeben, die Millionen in den Tod gerissen hatten, wieder aufgebaut.

So unvermittelt, wie Grubach zu reden begonnen hatte, so unvermittelt zog er seine Taschenuhr hervor, sagte, es sei Zeit für seine Pillen, stand auf und stolzierte glückstrahlend von dannen, hatte er doch neue Freunde gewonnen. Uns war das Reden vergangen; die Vorstellung eines Deutschlands, das in Millionen von Grubachs wiederauferstand, verschlug uns die Sprache.

Frau van Nost ergriff als Erste das Wort. Mit ihrer angoraweichen Stimme, die für unverhohlene Empörung so gar nicht gemacht schien, sagte sie: »Ich frage mich, ob ich je wieder ohne Grausen und Abscheu mit einem Deutschen werde reden können. Nach allem, was sie uns angetan haben –«

»Jedem von uns«, ergänzte Nollet in geschliffenem Englisch.

»Ich persönlich kann mich über die Deutschen nicht beklagen. Sie waren immer sehr nett zu mir«, fühlte sich die weißhaarige Miss Leeds bemüßigt zu sagen, als sie aus einer ihrer nebulösen Traumwelten zu unserem Gespräch zurückkehrte.

»Nett zu Ihnen während des Krieges?«, fragte Nollet ungläubig und starrte die zerbrechliche alte Dame an.

»Ausnehmend reizend«, erwiderte sie. »Ich war zu der Zeit die Gouvernante der beiden Kinder des Comte de M. Gewiss haben Sie von der Familie und ihrem Château gehört?«

»Allerdings«, entgegnete der Franzose in missbilligendem Ton. Davon unbeirrt, erging sich Miss Leeds in einer Beschreibung des grandiosen Schlosses sowie seines entzückenden Dorfes. 1940, als die Nationalsozialisten Frankreich besetzten, habe der zuständige Besatzungsoffizier – ein vollendeter Gentleman, der perfekt Englisch und Französisch sprach – der Madame la Comtesse sein tiefstes Bedauern über die Unannehmlichkeiten des Krieges ausgedrückt und ihr versichert, dass es ihrer Familie an nichts fehlen werde. Er habe Wort gehalten. Andere Engländerinnen, ebenso tugendhaft und wehrlos wie sie selbst, seien in Lager gesteckt worden, wo sie Grauenhaftes hätten durchmachen müssen. Sie jedoch habe den gesamten Krieg mit dem Comte und seiner famille im Château unter dem Schutz des deutschen Offiziers zugebracht, der sich als durch und durch ehrenwerter, untadeliger Gast verhalten habe, was beweise, schloss sie triumphierend, dass in jedem Menschen etwas Gutes stecke, man müsse nur bereit sein, danach zu suchen.

»Hatten Sie ein Glück«, rief Frau van Nost und runzelte ihre breite weiße Stirn. »Zu den Holländern waren die Nazis alles andere als nett und anständig. Sie versuchten uns auszuhungern. Raubten, was immer ihnen in die Hände fiel – Lebensmittel, Medikamente, Möbel, Kleidung  –, waggonweise schafften sie das jeden Tag nach Deutschland, während das besetzte Europa dem Tod ins Gesicht starrte. Am Ende waren mein Mann und ich so schwach, dass wir nicht mehr vom Bett hochkamen. Zu Skeletten abgemagert wurden wir am Tag der Befreiung gefunden. Ich wünsche Herrn Grubach persönlich nichts Böses, aber mit seinem Märchen vom armen leidgeplagten Deutschland kann er bei mir nicht landen. Es gibt Dinge, die keiner von uns je vergessen wird. Mein einziger Sohn – er war zwanzig – wurde als Geisel erschossen.«

Vom Deck war das gleichförmige Jammern eines Kindes zu hören, das allein aus Gewohnheit quengelte. Keiner vermochte der Holländerin ins Gesicht zu sehen, die mit erstarrtem Blick zum Loungefenster hinaus auf das blasse Meer sah. In ihren Ohren mochte das Weinen eines anderen Kindes aus einem anderen Leben klingen, das nun für immer vorbei war.

»Wollen wir uns vor Tisch noch ein wenig frisch machen, Eric?« Es war das erste Mal, dass Nora nach diesem langen beklommenen Schweigen etwas sagte.

Als sich Eric mit einer gemurmelten Entschuldigung erhob, erhaschte ich einen gequälten Blick aus seinen blauen Augen, die tiefer eingesunken schienen als sonst.

»Der arme Mann«, sagte Frau van Nost unvermittelt.

Überrascht sah ich sie an. Sie hatte ihre Häkelei wieder aufgenommen und ließ ihre Finger virtuos wie eine Harfenistin über das weiße Garn huschen.

»Devon?«, sagte ich. »Ich frage mich, was mit ihm los ist. Glauben Sie, dass er in Kriegsgefangenschaft war?«

»Nein«, antwortete sie rasch und mit Nachsicht angesichts meiner amerikanischen Ahnungslosigkeit. »Soldaten können über ihre Erlebnisse reden. Doch Männer wie Devon sind zu lebenslangem Schweigen verurteilt. Sie haben entsetzliche Gräuel durchgemacht, aber werden das selbstverständlich niemals eingestehen. Gleich am ersten Tag in Kingston, als mein Mann und ich mit Devon auf die Deutschen zu sprechen kamen und ihm der Hass ins Gesicht geschrieben stand, wusste ich Bescheid, ohne dass er noch etwas sagen musste.«

»Was wussten Sie?«, fragte ich und konnte den Blick kaum mehr von den rhythmisch blinkenden Bewegungen der winzigen Nadel in ihrer Hand lösen.

Wachsam, als sei der Krieg noch in vollem Gange und wir säßen als Verschwörer in einer Amsterdamer Bar, ließ Frau van Nost ihre Augen durch die überfüllte Lounge zu Miss Leeds wandern, die soeben, gestützt auf Nollets festen Arm, davontippelte.

»Britischer Geheimdienst, versteht sich. Etwas sagt mir, dass er verdeckt in Deutschland tätig war«, raunte sie und dann, ein wenig lauter: »Glauben Sie mir, es ist ein Wunder, das überhaupt einer dieser armen Teufel mit dem Leben davongekommen ist.«

Zwei

Je weiter die Caribe vorankam, umso eintöniger kam uns diese schier endlose Reise vor. Tag um Tag glitten wir unter dem beharrlichen Glitzern der tropischen Sonne voran; nicht das geringste Wölkchen, nicht die entfernteste Aussicht auf Regen trübten ihren Glanz in jenem Juli; nachts zogen wir verloren unter einem violettschwarzen Himmel dahin, der das Schiff und seine Passagiere umschloss wie schwüler Samt.

Wir sahen uns auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Das ewige Gleichmaß der Stunden, die nicht verrinnen wollten, das scheppernde Dröhnen aus den Lautsprechern, das Kreischen der Kinder, die inzwischen über sämtliche Decks tobten, die Berge von fettigem Fisch, gebratenen Kartoffeln, welkem Salat und wässriger Eiscreme zermürbten uns und machten jeden von uns gereizt.

Um Nichtigkeiten entbrannten wütende Streitereien, Missverständnisse steigerten sich zu Dramen, läppische Reibereien nahmen das Ausmaß griechischer Tragödien an. Verzweifelt suchten wir im regen Austausch unserer kleinen Gruppe Trost und die Bestätigung, weiterhin zum zivilisierten Teil der Menschheit zu gehören, also durchaus in der Lage zu sein, zwei Wochen Isolation vom Rest der Welt zu überstehen.

Doch schon bald sahen wir uns vor eine Schwierigkeit gestellt, die den größten Teil unserer Tage und sämtliche Aufmerksamkeit für das, was sonst noch an Bord vor sich ging, auf sich zog. Anfangs beobachteten wir es mit Belustigung, dann voller Unbehagen und schließlich mit blankem Entsetzen, wie Herr Grubach in einem regelrechten Feldzug um Eric Devons Achtung und Freundschaft rang. So rosig geschrubbt, als wäre er soeben einer Reklame für Babyseife entstiegen, einen in Havanna erstandenen Gürtel aus glänzendem Krokodilleder eng um den Trommelbauch geschnürt, erschien er jeden Morgen an Deck, stürzte wie eine aus unseligen Gefilden heimkehrende Brieftaube an unseren Loungetisch oder zu unseren Liegestühlen und belagerte uns für Stunden. Niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, er könnte nicht willkommen sein. Auf einen dezenten Hinweis hätte er erwidert, er wolle doch nur angenehm mit uns plaudern. Offensichtlich hielt er uns für die sympathischsten Leute an Bord. Er wollte unser Freund sein. Vor allem aber, aus Gründen, die nur er selbst kannte, wollte er von Eric anerkannt werden.

Zunehmend angespannt, versuchte Eric sich für diese tägliche Begegnung zu wappnen; manchmal erschien er gar nicht an Deck und zog die stickige Hitze seiner Kabine dem Nervenkrieg in der Lounge vor. Oder er zeigte sich erst, wenn er sicher sein konnte, dass Grubach zu Tisch saß, denn glücklicherweise war der Deutsche der ersten Essenszeit zugeteilt und wir der zweiten. Doch sosehr sich Eric auch bemühte, es war ein ungleicher Kampf: deutsche Hartnäckigkeit gegen britische Höflichkeit.

Eines Nachmittags, als wir bei eisgekühltem Wermut an unserem Loungetisch saßen, blickte Nora auf und sagte verzweifelt: »Da ist er wieder.« Die Devons murmelten eine Entschuldigung, packten ihre Spielkarten und machten sich davon. Ihre Flucht war so offensichtlich, dass selbst Grubach, der sich zielsicher in Noras frei gewordenem Sessel niederließ, etwas bemerkt haben musste.

»Dem geht’s nicht gut«, sagte er und blickte Erics hochgewachsener Gestalt nach, die im Gang verschwand.

»Chronische Bronchitis«, antwortete ich.

Resigniert schenkte André Nollet Grubach einen Wermut ein.

»Wie bedauerlich. Ein so sympathisches Paar. Ich mag die Briten. Auf die kann man immer zählen«, entgegnete Grubach und griff nach seinem Glas.

Nollet und ich warteten, was dieser widersprüchliche Zwerg als Nächstes von sich geben würde.

»Aber die Frau ist mir ein Rätsel«, gestand er. »Warum zerbricht sie sich ständig den Kopf über die Jamaikaner im Zwischendeck? Was die zu essen kriegen, wie beengt die schlafen – sie spricht kaum mehr von etwas anderem.«

Ich rief ihm in Erinnerung, wie grauenhaft er selbst die Zustände auf diesem Schiff gefunden hatte, als er an Bord gekommen war. Unten in der dritten Klasse sei es noch viel schlimmer. Nicht nur Nora Devon, wir alle seien entsetzt, unter welchen Bedingungen die jamaikanischen Arbeiter, Frauen wie Männer, nach England gebracht würden.

Grubachs Verwunderung wuchs. Die buttrig weichen Falten unter seinen dunklen Äuglein zuckten, als sprächen wir eine ihm fremde Sprache.

»Aber denen macht das doch nichts«, sagte er schließlich. »Das sind Neger.«

Achselzuckend erhob er sich und ließ den Franzosen und mich mit einem Schauder zurück, eisiger als der Wermut in unseren Gläsern.

Wenige Tage später passierten wir endlich die Azoren, und die Caribe nahm Kurs auf die spanische Küste. Die glühende Hitze wich einer frischen salzigen Brise, die das gesamte Schiff aufatmen ließ.

Als Eric an jenem Morgen ausgezehrt und erschöpft (das ungenießbare Essen, so Nora) an Deck erschien, nutzte Grubach die Gelegenheit, um sich mit Begeisterung auf ein neues Thema zu stürzen. Jetzt sprach er nicht mehr über Deutschland. England brachte ihn ins Schwärmen. Über die Reling gelehnt, versuchte er den Devons klarzumachen, wie sehr er die Briten seit jeher bewundere, ihre Tüchtigkeit, ihre Zivilcourage und ihre eiserne Standhaftigkeit. Er sprach es nicht aus – das wäre zu plump gewesen –, doch unschwer ließ sich für jedermann heraushören, dass er all das gleichermaßen für deutsche Tugenden hielt.

»Mein Freund«, sagte Nollet besänftigend zu Eric, als Grubach endlich zum Mittagessen entschwunden war, »der Mann will Ihnen nur Komplimente machen. Wie die meisten Deutschen hält er es für das größte Gottesgeschenk, in seinem ruhmreichen Vaterland geboren worden zu sein, doch würde ein unseliges Los ihn dazu zwingen, sich eine andere Heimat zu suchen, fiele seine Wahl auf England.«

»Wenn er wüsste, wie sehr ich ihn verabscheue, würde er nie wieder mit mir sprechen«, gab Eric umgehend zurück. Er war zu aufgewühlt, um sich länger beherrschen zu können, und schilderte uns mit seiner klangvollen, üppig modulierenden, fast schauspielerhaften Stimme, wie er während des Krieges beauftragt worden war, mit einer Gruppe von Psychologen und Militärärzten mögliche Nazispione unter jenen deutschen Flüchtlingen zu entlarven, die der britischen Regierung ihre Dienste anboten. Am tiefsten hatte ihn erschüttert, dass die meisten dieser durch und durch redlichen Emigranten erst geflohen waren, als es ihnen selbst an den Kragen gehen sollte. Während der gesamten ersten Jahre, in denen sich der Nationalsozialismus zunehmend in ein offenes Terrorregime verwandelte und durch SS und Gestapo jeglichen Widerstand erbarmungslos niederknüppeln ließ, hatte die Mehrzahl dieser Deutschen tatenlos zu Hause gesessen, die Augen verschlossen und gehofft, der Alptraum möge vorübergehen und sie verschonen.

Das sei zwar erbärmlich, warf ich ein, doch ausgesprochen menschlich.

»Mag sein«, antwortete Eric. »Aber Sie und Nollet hier kennen die Deutschen nicht so gut wie ich – ihre entsetzliche Kriecherei, ihren Masochismus, ihr nihilistisches Verlangen nach einem starken Führer –«

»Es täte mir leid für Sie, wenn Sie die Deutschen besser kennen würden als ich«, sagte Nollet und ließ seine Fingerknöchel knacken, einen um den anderen. »Ich war ihr Gast – in Buchenwald.«

Erics Augen, in denen der Widerschein des im Meer gespiegelten Mittagslichtes glänzte, flackerten panisch auf wie der Blick eines gefangenen Tiers.

»Zum Glück«, fuhr Nollet so gelassen fort, als legte er einer Gruppe Studenten die feinen Zwischentöne eines Rimbaud-Verses dar, »wurde ich erst im Frühling 1944 geschnappt. Nur deshalb bin ich noch am Leben. Eines Nachmittags, ich saß in einem kleinen Café in der Rue des Écoles, verhafteten mich die Deutschen. Jemand aus unserer Widerstandsgruppe hatte mich verpfiffen, ein von der Gestapo eingeschleuster Spion. Wissen Sie, was ich hinterher am meisten bedauerte?«

Auf dem Deck über uns tanzte eine junge Spanierin im Kreis ihrer singenden und klatschenden Freunde einen Zapateado. Gleichmütig, weder wütend noch verzweifelt, fuhr Nollet fort.

»Während ich die erniedrigenden grausamen Misshandlungen und Folterungen ertrug, bedauerte ich, nicht mehr getan zu haben, um sie zu verdienen. Kühner und gnadenloser hätte mein Widerstand sein sollen. Schließlich ging es darum, einen Feind zu töten und zu sabotieren, der mit jeder Moral und allem Anstand gebrochen hatte. Eines kann man den Deutschen nicht absprechen«, sagte er und blickte Eric fest in die Augen, »ihre Konzentrationslager waren phantastisch organisiert, nicht nur wenn es darum ging, jeden Widerstand zu ersticken, sondern insbesondere auch darin, die Qual eines jeden Opfers so zu verlängern, dass es kurz vor seinem Tod in vollem Umfang begriff, wie unsäglich dumm es gewesen war, sich den Nazis entgegenzustellen.«

»Warum erzählen Sie Grubach nicht, was man Ihnen in Buchenwald angetan hat?«, fragte Eric.

»Ich wüsste nicht, was zweckloser wäre.« Nollet schmunzelte, der Gedanke schien ihm ein gewisses Vergnügen zu bereiten. »Er würde schwören, die Konzentrationslager und Gaskammern  –  wenn es sie denn gegeben haben sollte, was er bezweifle – seien das Werk einer Handvoll übler Schurken gewesen, die nichts mit dem guten, redlichen Volk der Deutschen gemein hätten. Oder er würde es mit dem honorigen deutschen Herrn halten, der vor kurzem einen Kongress in Paris besuchte und vor einer Gruppe französischer Intellektueller äußerte: ›Sie dürfen nicht vergessen, dass auch die Alliierten ihre Konzentrationslager hatten und mit den ehemaligen Nazis äußerst hart ins Gericht gingen, sie mussten sogar Fußböden schrubben.‹ Man stelle sich das einmal vor!«

Vom oberen Deck erklang Gelächter, die frischen, unbeschwerten Stimmen der Jugend.

»Es interessiert Sie vielleicht«, fuhr Nollet fort, »dass ich im nächsten Winter zu einem Vortrag nach Deutschland eingeladen bin. Ich habe zugesagt. Diese Reise wird in einem hübsch zynischen Gegensatz zu meiner ersten stehen, meinen Sie nicht?«

»Ich an Ihrer Stelle hätte abgelehnt«, entgegnete Eric.

Etwas Entschuldigendes mischte sich in Nollets Lächeln. »Ich tue es meiner Tochter Caroline zuliebe. Sie ist siebzehn. Wir Idealisten halten an dem Glauben fest, dass wir mit gutem Willen neue, bessere Welten für unsere Kinder schaffen können. Wenigstens versuchen wollen wir es.«

Eric hatte sich vorgebeugt und nestelte an einem Stück Draht, das unter der Reling hervorstak.

»Werden Sie nach Buchenwald fahren?«, fragte er.

»Selbstverständlich«, erwiderte Nollet. »Was, meinen Sie, hat mich dort am Leben gehalten? Ich war wie besessen von dem Glauben, dass ich eines Tages zurückkehren, von außen auf diese entsetzlichen Gemäuer blicken und meine Feinde am Boden sehen würde.«

»Dann«, sagte Eric leise und setzte sich in seinem Liegestuhl auf, »haben Sie zu lange gewartet. Sie werden auf ein abermals selbstherrliches und alles andere als zerrüttetes Deutschland stoßen. Und wundern Sie sich nicht, wenn Sie Ihre einstigen Feinde wiedersehen – in Amt und Würden.«

An jenem Abend erschienen die Devons nicht zum Essen, und am folgenden Morgen informierte uns die kleine Miss Leeds, die in der Nachbarkabine wohnte, dass in der Nacht der Arzt gerufen worden sei und Eric Tabletten verschrieben habe, für seine Nerven, wie Nora später auf dem Flur habe fallenlassen.

Als gegen Mittag die hügelige Küstenlinie Spaniens in Sicht kam, wo viele Passagiere von Bord gehen wollten, breitete sich auf dem Schiff hektische Betriebsamkeit aus. Mit dem Gedanken, dass ein kleiner Ausflug an Land Eric guttun würde, stieg ich zur Kabine der Devons hinunter und klopfte. Nora öffnete sofort.

»Wie schön, dass Sie nach uns sehen. Eric«, rief sie mit der resoluten Fröhlichkeit einer gelernten Krankenschwester, die einen schwierigen Patienten betreut. »Eric, wir haben Besuch.«

Eric, der auf dem unteren Bett lag, sprang hastig auf, zog einen Stuhl für mich heran und schenkte mir, als ich mich ihren Highballs nicht anschließen wollte, ein Glas Mineralwasser ein. Obwohl er nicht die geringste Lust hatte, Francos Spanien zu betreten, drängten wir ihn zu einem Bummel durch La Coruña; wir könnten ein paar Mitbringsel kaufen und in einem Café einen Aperitif trinken – nach zwei Wochen auf See sei jede Ablenkung recht.

Endlich willigte er ein, uns zu begleiten, und begann im Widerspruch zu seiner sonst so gefassten Art noch im gleichen Atemzug, sich über die gesamte Reise zu beklagen: ein einziger Alptraum. Obwohl er versuchte, ruhig und gelassen zu klingen, entging mir der gequälte Zug um seine schmale gebogene Nase nicht; seine Hand zitterte, als er nach dem Highball griff.

»Und als wäre all das nicht genug«, schloss er, »taucht auch noch dieser Grubach auf.«

»Wieso bringt dieser Mann Sie so aus der Fassung?«, fragte ich. Seine nervösen blauen Augen wurden im Dämmerlicht der Kabine fast farblos grau. »Oder möchten Sie lieber nicht darüber sprechen?«

»Warum nicht?« Er klang wütend. »Der Kerl ist eine Heimsuchung.«

»Mag schon sein. Aber niemand fühlt sich von ihm so angegriffen wie Sie.«

Zaghaft tastete sich Eric durch das unbehagliche Schweigen, das sich zwischen uns auftat. Es war beinahe peinlich, ihn in seiner Bedrängnis zu sehen, offenbar schien er nicht in der Lage, um die Hilfe zu bitten, deren er so dringend bedurfte. Seine gesamte Erscheinung glich einer stummen Suche nach Verständnis.

»Lassen Sie es mich so sagen«, begann er. »Nicht ein, sondern zwei Kriege haben Millionen von Menschen in diesen Zeiten entsetzliches Leid zugefügt. Doch in den Wahnsinn treiben mich Leute wie Grubach und andere Deutsche, denen man gemeinhin über den Weg läuft, mit ihrer stumpfen Weigerung, auch nur die geringste Verantwortung für die Schrecken zu übernehmen, die sie über die ganze Welt gebracht haben. Nollet hat recht. Man wird verrückt, wenn man mit ihnen spricht. Ständig behaupten sie, die Besetzung Europas, die Lager, die Massenmorde und Plünderungen der Nazis seien das Werk einer Handvoll Rädelsführer, das übrige deutsche Volk nichts als ein unschuldiges Opfer, das Trost und Zuspruch verdiene. Ich verabscheue sie!«

Der rosagestreifte Vorhang vor dem Bullauge flatterte sanft in der Brise vom Hafen; die Schiffsmotoren drosselten.

»Sie müssen immer nur den schlimmsten Deutschen begegnet sein, Eric«, sagte ich und ergänzte, dass alle meine Freunde als Antifaschisten und Kriegsgegner lieber ins Exil oder in den Tod gegangen waren, als sich mit einem Regime abzufinden, das ihnen genauso wie dem Rest der Welt die Hölle auf Erden bereitete. Doch obwohl sie selbst Opfer waren, übernahmen sie die volle Verantwortung dafür.

Es gefiel mir nicht, wie verkniffen Eric mich anstarrte. Seine Augenlider zuckten, doch jetzt gab es kein Zurück mehr.

»Ich bin nicht der Meinung, dass die Deutschen kein Schuldgefühl kennen«, sagte ich. »Einige meiner deutschen Freunde tragen so schwer daran, dass sie im Exil nicht nur ihre Staatsangehörigkeit ablegten, sondern ihre Namen und Lebensläufe änderten. Ihre gesamte Zeit verwenden sie auf den Versuch, von ihrer tragischen deutschen Vergangenheit loszukommen. Ein Freund in Kanada gibt vor, er sei in Wien statt in München geboren. Eine New Yorker Freundin behauptet, sie stamme aus dem Elsass und nicht aus Frankfurt. In Paris kenne ich jemanden, der –«

Erschrocken hielt ich inne. Eric hatte sein Glas auf dem Tisch abstellen wollen, doch es war auf den Boden gefallen und zersprungen. Wie betäubt starrten wir auf die kleine Pfütze, die sich auf dem grünen Linoleum bildete.

Eric sprach in einem betont beiläufigen Tonfall, doch die Schatten um seine Augen verrieten die Panik in seinem Inneren:

»Seit wann weißt du Bescheid?«

Erst nachdem ich mich nach einer Scherbe vor meinen Füßen gebückt hatte, erwiderte ich seinen Blick. Ich hatte ihm nicht sofort antworten können; zu deutlich war mir bewusst, dass die ans Licht gekommene Wahrheit jedes Wort, das wir von nun an wechseln würden, sowie alles, was zwischen mir und den Devons gewesen war und noch geschehen würde, auf den Kopf stellte.

»Ich hatte keine Ahnung. Du hast es mir soeben selbst verraten, Eric.«

»Ich bin einer dieser Deutschen.« Er sprach laut, tat dies allerdings weder für mich, die ich nun den wahren Grund seines Elends kannte, noch für Nora, die diese Last jahrelang mitgetragen hatte. Vielleicht brauchte er das eigenartige und erschütternde Gefühl, sich selbst dabei zuzuhören, wie diese lange unterdrückte Wahrheit klar und deutlich hervortrat.

»Ich bin so froh, Eric«, rief Nora und blickte ihn an. Ihr trauriges Gesicht hatte sich vor Erregung gerötet. »Endlich hast du es jemandem anvertraut. Vielleicht siehst du jetzt ein, wie unsinnig es ist, sich deshalb zu zerfleischen. Niemanden kümmert, wo du geboren wurdest. Du selbst zählst, nichts sonst. Seit Jahren sage ich dir das.«

Sie wandte sich an mich, die neutrale Beobachterin dieses unglückseligen Kampfes, und ihre ganze Geschichte brach in wirren Anekdoten, Halbsätzen und Episoden aus ihr hervor. Sie war Eric während des Krieges auf der kleinen Gesellschaft eines Journalisten in Kensington vorgestellt worden, der sie beide mochte und meinte, sie sollten einander kennenlernen. Eric sei ein wenig »verschroben«, so seine Warnung im Vorfeld, äußerst zurückhaltend, aber zweifellos brillant, er stamme irgendwo aus dem Norden, keiner wisse Genaueres, auch Angehörige scheine er keine zu haben. Noch dazu war Eric zu dieser Zeit in einer streng geheimen Sache für das Militär tätig, was ihn umso mysteriöser wirken ließ, Nora aber nicht im Geringsten abschreckte. Nach fünf Minuten Unterhaltung gab es auch für sie keinen Zweifel, dass er – Familie hin oder her – ein herzensguter Mensch war. Sie hatten sich vom Fleck weg ineinander verliebt, bald aber musste Nora erkennen, dass Eric größte Angst vor einer Heirat hatte. Auch anderes, worüber er partout nicht sprechen wollte, schien ihn mit Schrecken zu erfüllen.

»Es ist so bedrückend, jemanden zu lieben, der kein Wort über seine Kindheit, seine Eltern oder die kleinen persönlichen Dinge verliert, die zwei Menschen einander näherbringen. Stets stand eine Mauer zwischen uns. Ich wurde ganz krank davon«, klagte sie.

Nora beschloss, die Beziehung zu beenden, war sie doch zu der schmerzlichen Überzeugung gelangt, Eric müsse entweder ein uneheliches Kind sein – was ihr vollkommen gleichgültig gewesen wäre – oder sein Vater habe einen Mord oder ein anderes schweres Verbrechen begangen. Sie hätte ihn dennoch geheiratet, allerdings war ihr seine gnadenlose Stummheit unerträglich; fast schien es, er würde lieber sie, Nora, verlieren als sein Schweigen brechen.

Dann, an einem denkwürdigen Abend nach einer besonders heftigen Auseinandersetzung, die obendrein während eines Luftangriffes stattgefunden hatte, war Eric zusammengebrochen. Schluchzend wie ein verzweifelter kleiner Junge sagte er: »Nora, mein Liebling, ich würde alles darum geben, dich zu heiraten, aber ich kann nicht. Ich bin kein echter Brite. Ich wurde eingebürgert. Als Flüchtling kam ich nach London, und ich will dich nicht in den Alptraum meines Lebens hineinziehen.«

Nora, die sich auf ein schreckliches Geständnis gefasst gemacht hatte, war vor Erleichterung in beinahe hysterisches Gelächter ausgebrochen.

»Da kämpften wir gegen die Nazis«, sagte sie, »und Eric entschuldigte sich dafür, dass er sie schon lange vor uns bekämpft hatte. Ist das nicht absurd?«

»Für Eric offenbar nicht«, erwiderte ich.

Er hatte sich wieder in die untere Koje gelegt und schien zu schlafen, zog sich in den wärmenden Schutz seiner inneren Welt zurück, um uns und seinem Kummer zu entfliehen.

Das Schlimmste sei, schloss Nora, dass Eric noch immer an dieser Farce festhalte. Er lasse nicht zu, dass ihre Familie oder ihre Freunde von seinen deutschen Wurzeln erführen. Sie habe das Gefühl, als seine Ehefrau versagt zu haben.

»In all den Jahren, die ich Eric so sehr geliebt und ihm in jeder Krise beigestanden habe, ist es mir nicht gelungen, ihm so viel Sicherheit zu geben, dass er sich zu sich selbst bekennen kann. Letzten Winter, als er so depressiv wurde, flehte ich ihn an, zu einem Psychiater zu gehen. Er weigerte sich. Seiner Ansicht nach haben nur psychisch Kranke das Recht, die wertvolle Zeit eines Nervenarztes in Anspruch zu nehmen. Kerngesund sei er, behauptete er, einzig das Elend der Welt mache ihm zu schaffen.«