2Die Turbulenzen von Globalisierung und Wissensgesellschaft führen die Demokratie als nationalstaatlich organisierte Form politischer Steuerung an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit. Die Überforderung von Wählern und Gewählten durch hochkomplexe Probleme fördert Populismus und politische Apathie. Helmut Willke analysiert in seinem neuen Buch die Steigerungsmöglichkeiten in den konstitutiven Komponenten des Demokratiemodells und leitet daraus ein Konzept komplexer Demokratie ab. Die Herausforderung besteht darin, das Parlament als Souverän mit einer Reihe kompetenter Fachinstitutionen zu kombinieren, um eine bessere, wenn auch prekäre Balance von Legitimität und Effizienz zu erreichen.
Helmut Willke ist Professor für Global Governance an der Zeppelin Universität Friedrichshafen. Zuletzt erschienen im Suhrkamp Verlag: Dystopia. Studien zur Krisis des Wissens in der modernen Gesellschaft (stw 1559), Heterotopia. Studien zur Krisis der Ordnung moderner Gesellschaften (stw 1658) und Demokratie in Zeiten der Konfusion (stw 2131).
Dezentrierte Demokratie
Prolegomena zur Revision
politischer Steuerung
Suhrkamp
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eISBN 978-3-518 74528-1
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Einleitung
1. Entzauberung der Demokratie
1.1 Der Zauber der Expertise
1.2 Der Zauber des Globalen
2. Dezentrierung der Demokratie
2.1 Auffächerungen der Legitimität
2.2 Differenzierung der Partizipation
2.3 Unschärfen der Transparenz
2.4 Welche Gesetze herrschen?
Die Herrschaft kognitiver Normen
Exkurs: Finanzsystemregulierung
2.5 Legitimation durch Effektivität
Exkurs: Selbstbehauptung der Politik
3. Komplexe Demokratie – ein neues Haus
für die dezentrierte Demokratie
3.1 Das Oberhaus
3.2 Das Unterhaus
4. Politische Steuerung in der dezentrierten Demokratie
4.1 Eine systemische Fundierung politischer Steuerung
4.2 Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell
5. Die Demokratie der Gesellschaft
Literatur
Demokratie war immer schon ein schwieriges Konzept. Als Herrschaftsmodell musste sie von Anfang an widersprüchliche Forderungen und Ansprüche verknüpfen und sah sich daher der Gefahr ausgesetzt, das »demokratische Dilemma«[1] einseitig aufzulösen: Entweder durch Reduktion auf das normative Modell der reinen Gleichheit (»eine Person, eine Stimme«) oder durch eine Expansion zur Beliebigkeit reiner Faktizität formaler Demokratie, hinter der sich jede Art von Pervertierung realer Einflussmöglichkeiten verstecken konnte.
Nach mehr als zwei Jahrtausenden Geschichte der Demokratie und mehr als zwei Jahrhunderten moderner Praxis der Demokratie hat sich die Grundkonstellation nur wenig verändert. Immer noch wird Demokratietheorie vornehmlich aus der Innensicht des politischen Systems betrieben, so als setzte nicht längst schon die (nationalstaatlich organisierte) Gesellschaft als System selbst die Prämissen möglicher Gesellschaftssteuerung. Die Politik ist nur ein Teilsystem unter anderen und muss sich auf die Unerbittlichkeit funktionaler Interdependenzen in einer funktional differenzierten Gesellschaft einstellen. Aus einer gesellschaftlichen und gesellschaftstheoretischen Perspektive geht es darum, die Innensicht der Politik, ihren historischen Egozentrismus, aufzuheben im nächsten Entwicklungsschritt eines dezentrierten Formats der Demokratie.
Was heißt »dezentriert«? Diese von Jean Piaget geborgte Begrifflichkeit[2] zielt darauf, den Übergang eines Systems von einer selbstbezogenen Identität und Selbstbeschreibung zu einer umweltbezogenen Form der Identität und Selbstthematisierung zu beschreiben. In der Entwicklungspsychologie Piagets geht es um die Überwindung des kindlichen Egozentrismus zugunsten einer Identität-in-Umwelt, die durch Reifung, Lernen und Interaktion geformt wird. Das Kind beginnt, sich an eine Umwelt anzupassen – Akkomodation –, die nun als relevant wahrgenommen wird. Sicherlich lässt sich dieses komplexe Modell nicht ohne weiteres auf 8die Demokratie übertragen, aber die Grundidee der Dezentrierung soll im Folgenden in einer systemtheoretischen Färbung genutzt und ausgearbeitet werden. Dies erscheint auch deshalb möglich und naheliegend, weil eine ganze Reihe von systemtheoretischen Argumentationen und Konzeptionen auf die Beschreibung einer dezentrierten Gesellschaft zielen, die ohne Zentrum und Spitze auskommen und deren Politik sich in den Kontext einer dynamischen Umwelt einfügen muss,[3] so dass am Ende eine »reflektierte Autologie«[4] möglich und notwendig erscheint.
Die Idee einer dezentrierten Demokratie ist nicht ohne Vorgänger und Vorbilder.[5] Die in den folgenden Kapiteln ausführlich behandelten wichtigsten Referenzen sind Luhmann, Habermas, Dahl und Rosanvallon, die aus sehr unterschiedlichen Positionen heraus doch alle darin übereinstimmen, dass die neue Qualität gesellschaftlicher Komplexität dazu zwingt, die Architektur der Demokratie für den Fall hochkomplexer Gesellschaften neu zu überdenken und zu bestimmen. Was nach ihren Vorarbeiten nun ansteht, ist allerdings keine Fortsetzung, sondern eine Radikalisierung, die der Radikalität der gegenwärtigen Herausforderungen der Demokratie entspricht. Während alle genannten Referenzautoren, und Luhmann in besonderem Maße, sozietale Komplexität als die prägende Herausforderung der postkonventionellen Demokratie verstehen, geht es auf dieser Basis (und in diesem Sinn auf der Schulter von Riesen[6]) jetzt um etwas Umfassenderes. Es geht um eine Revision der Demokratie unter dem Eindruck der beiden prägenden Umbrüche der gegenwärtigen Epoche: zum einen der Entzauberung des Nationalstaates[7] im Gefolge einer sich vertiefenden Globalisierung; und zum anderen der Entzauberung der In9dustriegesellschaft durch eine sich deutlicher in Position bringende Wissensgesellschaft.[8]
Die intendierte Radikalisierung wird die Demokratie als Steuerungsregime moderner Gesellschaften zwar hinterfragen, aber nicht in Frage stellen; sie wird die Demokratie zwar in ein dezentriertes Gefüge auflösen, aber ihren Kern nicht antasten. Es gilt ohne jeden Vorbehalt die Aussage, dass Demokratie als die beste verfügbare Steuerungsform moderner, funktional differenzierter Gesellschaften alternativlos ist; zugleich ist ihre gegenwärtige Form den Herausforderungen einer globalisierten Wissensgesellschaft jedoch nicht gewachsen. Damit gerät die Argumentation in ein gefährliches Fahrwasser. Für demokratische Fundamentalisten ist jede Kritik an der Demokratie schon Majestätsbeleidigung.[9] Auf der anderen Seite kann unter dem Eindruck der Überfülle an Defiziten, Fehlsteuerungen und fundamentalen Mängeln des Steuerungsmodells »Demokratie« das Kind auch schnell mit dem Bade ausgeschüttet werden, wodurch – insbesondere in einer engen ökonomistischen Sicht – Sinn und Kern von Demokratie verloren gehen.[10] Als Antwort auf diese Gefahren schlage ich eine behutsame Radikalität vor, eine Radikalität also, die den Kerngehalt von Demokratie behütet, die Gestaltung und Architektur der Komponenten, aus denen sich das Kompositum Demokratie zusammensetzt, jedoch radikal erneuert.
Dies ist eine erste wichtige Weichenstellung: Demokratie ist kein eindimensionales, monolithisches Gebilde, das entweder existiert oder nicht, sondern sie besteht aus fünf grundlegenden Bestandteilen: Legitimität, Partizipation, Transparenz, Herrschaft der Gesetze und Effektivität.[11] Eingerahmt sind diese konstituierenden 10Komponenten von zwei Wertentscheidungen: Auf der Ebene der Personen die Entscheidung für die Würde des Menschen und auf der Ebene der Gesellschaft die Entscheidung für die wohlgeordnete Gesellschaft. Bereits bei Thomas Hobbes sind die beiden Ebenen als Gesellschaftsvertrag zwischen Individuen einerseits und als Herrschaftsvertrag der Bürger mit dem die innere Ordnung garantierenden Leviathan andererseits angelegt. Unverzichtbar für jede Demokratie, die diesen Namen zu Recht tragen möchte, ist die Wertentscheidung für die Würde des Menschen,[12] also konkret für Grund- und Menschenrechte. Mit der UN-Menschenrechtskonvention ist hier ein nahezu global gültiges Muster gegeben. Ein größerer Variationsspielraum ist wohl für die schwierige Kategorie der »wohlgeordneten Gesellschaft«[13] anzunehmen.
Unterschiedliche Gewichtungen der Komponenten ergeben unterschiedliche Varianten von Demokratie. Von der direkten über die repräsentative bis zur präsidialen Demokratie, um nur eine Dimension herauszugreifen, gibt es eine große Spannweite möglicher Formen von Demokratie. Ganz analog zur langen Debatte über Varianten des Kapitalismus macht die Vorstellung vieler möglicher Varianten von Demokratie deutlich, dass diese als Steuerungsregime einem historischen Evolutionsprozess ausgesetzt ist, indem sie auf veränderte gesellschaftliche Bedingungen reagiert, und dass darüber hinaus sowohl in der Praxis wie in der Theorie der Demokratie aktiv nach Innovationen und Renovationen gesucht und geforscht wird, um ihre Gestalt den jeweiligen Anforderungen anzupassen.
Nach dem bisher Gesagten erscheint es als wenig aussichtsreich, Demokratie insgesamt und pauschal auf den Prüfstand zu stellen, denn dies provoziert simplifizierende Entweder-oder-Antworten. Einer komplexen Veränderungskonstellation gegenüber ist es angemessener, den Wirkungen gesellschaftlicher Veränderungen zunächst in den differenzierten Komponenten des Konzepts De11mokratie nachzuspüren, um daraus dann den übergreifenden Revisionsbedarf für die Demokratie als Steuerungsregime der Politik abzuleiten.
Wenn die Ausgangslage für eine Revision der Demokratie gekennzeichnet ist durch Postdemokratie,[14] eine postnationale Konstellation,[15] ungleiche Demokratie,[16] reflexive Demokratie,[17] dilemmatische Demokratie,[18] oligarchische Demokratie,[19] komplexes Regieren[20] und viele weitere fundamental kritische Befunde zum Zustand und zu den Bedingungen der Möglichkeit von Demokratie, dann verdichtet sich der Eindruck, dass etwas anderes zur Debatte steht als eine Rückversicherung bei den Klassikern. Vielmehr ist es an der Zeit, neuere Beschreibungen der Welt in den Kategorien von Globalisierung, Wissensintensität, Komplexität und Intransparenz einer Demokratietheorie zugrunde zu legen, die gleichwohl ihre Klassiker schätzt und sie im hegelschen Sinne aufheben muss. Besonders deutlich wird dies, wenn sich der Blick nicht auf Demokratie insgesamt als monolithischen Block richtet, sondern die Verwerfungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen Transformationen auf die tragenden Komponenten von Demokratie bezogen werden. Dies wird im Einzelnen Gegenstand der folgenden Kapitel sein. Eine Leitlinie der Argumentation wird die Umkehrung der fukuyamaschen Sentenz vom Ende der Geschichte sein:[21] Wir stehen am Ende der Kindheit der Demokratie und sehen sie in eine Adoleszenzkrise geraten. Am Ende einer naiven Selbstbezogenheit erleidet sie gegenwärtig die Konvulsionen der Dezentrierung, um vielleicht ihre Geschichte als gereiftes und reflexives Modell beginnen zu können.
Der vorliegende Text steht in einem engen Zusammenhang mit 12meinem Band Demokratie in Zeiten der Konfusion.[22] Dort lag das Augenmerk primär darauf, die Herausforderungen der Demokratie als Herrschaftsform durch Globalisierung und Wissensgesellschaft zu begründen und alternative Formen politischer Steuerung als mögliche Antworten auf diese Herausforderungen zu skizzieren. In diesem Band nun erweitere ich die Perspektive in zwei Richtungen. Zum einen vertiefe ich die theoretischen Fundierungen des Demokratiemodells, um differenziertere Ansatzpunkte für mögliche Revisionen der Demokratie zu gewinnen. Zum anderen ist es nun an der Zeit, konkrete und praktische Konsequenzen aus den Analysen zu ziehen. Ich schlage ein Modell »komplexer Demokratie« vor, in welchem das Parlament als Souverän in einem engen Rahmen bestimmte Problemkontexte an spezialisierte und kompetente Fachinstitutionen – nach dem Muster von Zentralbanken und Verfassungsgerichten – delegiert. Es liegt auf der Hand, dass damit ein prekäres Spannungsfeld zwischen formaler Demokratie und Souveränität des Parlaments einerseits und autonomen, aber demokratisch legitimierten und strukturierten Institutionen andererseits eröffnet ist, welches das klassische Demokratiemodell verändert und herausfordert. Und es liegt ebenso auf der Hand, dass dies kein endgültiges Modell sein kann, sondern bestenfalls ein erster Schritt in ein uns noch unbekanntes Labyrinth.
Der Prozess der Dezentrierung betrifft primär die Rolle der Politik in hochentwickelten Gesellschaften und mittelbar dann die Demokratie als die dazu gehörige Steuerungsform der Politik. Um den Veränderungsdruck zu verstehen, dem sich die Demokratie ausgesetzt sieht, ist es daher notwendig, die Transformation der politischen Systeme der Demokratien in einer globalisierten Welt zu betrachten. Politik erfüllt eine bestimmte Funktion für die Gesellschaft, das ist ihre Existenzberechtigung. In modernen, funktional differenzierten Gesellschaften erfüllt die Politik die Funktion der Herstellung und Durchsetzung der erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen. Die Form, in der diese Funktion erfüllt wird, ist die Demokratie. Auch hier gilt, dass die Form der Funktion folgt: Die Demokratie gibt der Politik die Strukturen, Prozesse und Regeln vor, nach denen politische Entscheidungen zu treffen sind, wenn sie dem Anspruch von Demokratie genügen sollen. Aber es ist der Spiel- und Optionenraum der Politik, welcher die Rahmenbedingungen und Restriktionen bestimmt, innerhalb deren Demokratie sich entfalten kann.
Dieser Optionenraum nationalstaatlicher Politik hat sich seit den 1980er Jahren dramatisch verändert – zum einen durch eine sich vertiefende Globalisierung, globale Vernetzung und Interdependenz; und zum anderen durch eine von Computern, Software, Virtualisierung und Digitalisierung getriebene Komplexitätssteigerung, die vor allem auf einer Intensivierung und Ausweitung der Wissensbasis und des Wissensbedarfs jeder politischen Entscheidung beruht. Diese beiden prägenden Transformationen der gegenwärtigen Epoche sind häufig und ausführlich beschrieben worden,[1] 14so dass sie hier nicht dargestellt werden müssen; die spezifischen Folgerungen für die Architektur von Demokratie stehen allerdings noch aus. Im Zentrum dieser Folgerungen steht hier eine der Entzauberung des Nationalstaates korrespondierende Entzauberung der Demokratie.[2]
Der wichtigste Grund dafür, dass die Demokratie als politische Herrschaftsform einiges an Glanz eingebüßt hat, liegt darin, dass sie ihr Monopol auf Gesellschaftssteuerung verloren hat. So wie relevantes neues Wissen nicht mehr allein im Wissenschaftssystem erzeugt wird, sondern in verteilten Zentren der Expertise (centers of expertise[3]), so sind an vielen Orten der Gesellschaft Steuerungskompetenzen entstanden, die der formalen Demokratie Konkurrenz machen. Der Gesamtprozess wird in der politischen Theorie unter dem Stichwort »von Regierung zu Governance« (from government to governance[4]) abgehandelt. Dieser Diskurs beschreibt im Kern die Ausweitung der Basis für politische Entscheidungen vom engeren Bereich der formalen Politik in verschiedene Felder der Zivilgesellschaft, indem kompetente Organisationen und zivilgesellschaftliche Akteure wie NGOs, soziale Bewegungen, Stiftungen, Forschungseinrichtungen, Think-Tanks etc. die Expertise bereitstellen, die politischen Optionen klären und Entscheidungsprämissen definieren. Wie die Tentakel einer riesigen Krake umgarnen die Ausläufer der Zivilgesellschaft die Politik, welche die angebotene Expertise und Partizipation aufgreift, weil sie gar keine andere Wahl hat.
Was treibt diese engere Kopplung von Politik und Zivilgesellschaft an? Die treibenden Faktoren sind, wenig überraschend, die Globalisierung und die Komplexitäten einer Wissensgesellschaft. Am dramatischsten leidet die Demokratie unter dem Bedeutungsverlust der (nationalstaatlichen) Politik in einer globalisierten Welt. Wenn die gewichtigsten Probleme transnationale oder gar globale 15Dimensionen aufweisen und auf der Ebene des Nationalstaates gar nicht mehr plausibel angegangen werden können, weil die Steuerungskompetenz der Politik nur bis zu den Grenzen des Nationalstaates reicht, dann ist die Rolle der nationalstaatlichen Parlamente und Regierungen entsprechend begrenzt, und Problemlösungen sind auf dieser Ebene nicht zu erwarten.[5] Parallel dazu werden politische Entscheidungen und Programme immer stärker von externer Expertise abhängig, weil sich die Begründbarkeit von Entscheidungen in der Wissensgesellschaft von normativen Setzungen auf kognitive Evidenzen verlagert. Um zu überzeugenden Entscheidungen und Programmen zu kommen, muss die Politik die »verteilte Intelligenz« vieler Expertengruppen und Fachgemeinschaften nutzen. Sie macht sich damit abhängig von extern produzierter Evidenz und übernimmt die Rolle, die in der Gesellschaft verteilte Expertise zu den jeweils anstehenden Problemen zu organisieren, zu moderieren und in einen politisch kohärenten Zusammenhang zu bringen.[6]
Mit diesen Veränderungen kommt eine von zwei Seiten forcierte Entzauberung der Demokratie in Gang, die sich als doppelte Dezentrierung beschreiben lässt. Die Demokratie verliert ihre Stellung als Mitte und Zentrum einer Gesellschaft, die ihren Bedarf an kollektiv verbindlichen Entscheidungen von einer als formale Demokratie organisierten Politik bezogen hat. In dem Maße nun, wie Entscheidungsoptionen und Entscheidungsprämissen nicht mehr im politischen System selbst produziert werden, sondern in einem verzweigten Netzwerk gesellschaftlich verteilter Expertise, kommen neue Akteure, Organisationen und Institutionen ins Spiel, die demokratisch akkommodiert werden müssen, damit nicht die Demokratie selbst durch eine neue Diffusität und Unübersichtlichkeit[7] gefährdet wird. Und die Demokratie verliert ihre Stellung als souveräne Entscheidungsinstanz eines Nationalstaates, der seine Angelegenheiten in eigener Machtvollkommenheit regeln konnte, 16nun aber als semi-souveräner Staat in massiven globalen Problemverflechtungen nur noch in internationaler und transnationaler Kooperation und Abstimmung etwas ausrichten kann. Wenn aber die nationalen Parlamente gerade in besonders wichtigen Problemfeldern gar nicht mehr entscheidungskompetent sind, wie soll sich dann eine nationalstaatlich organisierte Demokratie als relevant rechtfertigen?
Diese beiden zunächst nur grob skizzierten Dimensionen der Entzauberung der Demokratie sollen im Folgenden eingehender betrachtet werden.
Bereits 1971 thematisiert Niklas Luhmann unter dem etwas irreführenden Titel der »Weltgesellschaft« eine kategoriale Umstellung des Stils politischer Entscheidungen von einem normativen auf einen kognitiven Erwartungsstil:[8] »Lernen oder Nichtlernen – das ist der Unterschied.«[9] Er argumentiert, dass ein normativer Erwartungsstil bislang dominiert, weil er leichter institutionalisierbar sei als ein kognitiver, und er kommt dann zu dem bemerkenswerten Schluss, dass ein normativer Erwartungsstil zu einer Kombination von Recht und Politik führe, »die gerade in ihrer besonderen Leistungsfähigkeit eine Fehlspezialisierung der Menschheitsentwicklung«[10] sein könnte. Mit Globalisierung und Wissensgesellschaft hat die Menschheitsentwicklung in der Tat eine Wendung genommen, welche die für Demokratie prägende Kombination von Recht und Politik auflöst und eine weiter gehende Entzauberung des normativen Erwartungsstils vorantreibt. Statt formaler Gesetze werden für die Politik Vorhaben, Programme, Investitionen, Anreize und Kampagnen wichtiger und prägender, und der Stil der Durchsetzung von Entscheidungen wandelt sich von hoheitlicher Anweisung zu evidenzbasierter Überzeugungsarbeit, die auf das durch Anreiz und Motivation veränderte Verhalten der Bürger zielt. Hin17tergrund dafür ist eine völlig neue Bedeutung von Expertise für die Begründung und Legitimität politischer Entscheidungen.
Nahezu vierzig Jahre später analysiert auch Pierre Rosanvallon diese Entzauberung unter dem Titel einer »Auffächerung und Ausdifferenzierung«[11] der Demokratie über die durch formale Wahl erzeugte Legitimität hinaus. Er konstruiert einen »demokratischen Dualismus« aus formaler Wahl und einer »Funktionswahl«, welche bei der Besetzung administrativer Ämter die Fähigsten und Besten in Stellung bringen soll.[12] Erweitert man diesen Grundgedanken über die staatliche Administration hinaus auf die Zivilgesellschaft und in den postnationalen Bereich, dann resultiert in der Tat eine »Auffächerung und Differenzierung« der Demokratie, die als Dezentrierung gut beschrieben ist. Rosanvallon geht es primär um eine Erweiterung der Beschaffung demokratischer Legitimität, was ich in Kap. 3.1. ausführlicher aufgreifen werde. Hier ist festzuhalten, dass die Dezentrierung der Demokratie sich unter den Druckwellen von Globalisierung und Komplexitätssteigerung viel umfassender und weitgehender entwickelt, als Rosanvallon annimmt. Nicht nur Legitimität wird differenziert, sondern jede der konstitutiven Komponenten von Demokratie – also auch Partizipation, Transparenz, Herrschaft der Gesetze und Effektivität – erfährt eine »Auffächerung«, die insgesamt zu einer neuen Architektur von Demokratie führt, die als komplexe Demokratie beschrieben werden kann (ausführlich dazu Kapitel 2).
Eine erste Welle der Entzauberung durchschüttelt demnach die Demokratie dadurch, dass diese gegenüber dem klassischen Modell ihren Anspruch auf hinreichende Intelligenz verliert. Charles Lindblom hat diese Intelligenz brillant als inkrementales Durchwursteln beschrieben, welches als evolutionärer Prozess die Stärke eines kontinuierlichen, kleinschrittigen Lernprozesses hat.[13] Nun stellt sich heraus, dass diese Art der Intelligenz nicht mehr genügt. Für langsame und graduelle Veränderungen der gesellschaftlichen Konstellationen reicht sie hin, bei dynamischen und einschneiden18den Veränderungen ist sie jedoch überfordert.[14] Es geht dabei um die Frage, wie das Steuerungsmodell »Demokratie« sich darauf einstellen kann, dass die Komplexitäten und Intransparenzen der Wissensgesellschaft das Problem der Ignoranz so zuspitzen, dass weder das »Wunder der Aggregation« noch die »kollektive Weisheit« und »kognitive Varietät«[15] großer Gruppen verhindern, dass klassische demokratische Entscheidungsverfahren zu schlechter Politik führen.[16]
Es liegt auf der Hand, dass die Bewältigung dieser Herausforderung darauf zielen muss, dem demokratischen Entscheidungsprozess für ein gegebenes Problem alle relevante verfügbare Expertise zur Verfügung zu stellen und die verfügbare Expertise also nicht auf die im Verhältnis bescheidenen Kompetenzen von Legislative und Exekutive zu beschränken. Genau deshalb greift der Vorschlag von Rosanvallon zu kurz, ein zweites Standbein von (administrativer) Expertise für einen »demokratischen Dualismus« zu nutzen. Tatsächlich geht es um einen weiten Pluralismus von Quellen der Expertise, die genutzt werden müssen, um hochkomplexe und schwierige Probleme angemessen zu behandeln. Das gravierende Problem liegt darin, wie diese diversen Quellen organisiert und in die demokratische Entscheidungsfindung eingespeist werden können. Einen bemerkenswerten Vorschlag hinsichtlich des Verhältnisses von deliberativer Demokratie und Autorität macht Mark Warren, der bemerkt, »dass die Zahl der Entscheidungen, die mit Mitteln der deliberativen Demokratie getroffen werden können, durch Ausmaß und Komplexität der gegenwärtigen Gesellschaften radikal beschränkt ist«.[17] Das nächste Kapitel wird diese Thematik 19entlang der Leitlinie der fünf konstitutiven Komponenten von Demokratie aufgreifen.
Der flächendeckende Zuwachs an spezialisiertem Fachwissen, der moderne Gesellschaften kennzeichnet, ist für die Demokratie Segen und Fluch zugleich. Er ist ein Segen, da ein steigender Bildungsstand der Bevölkerung den Diskurs und die Verständigung über politische Themen erleichtert. Er ist ein Fluch, da die Wissensgebiete auseinanderdriften und immer mehr Bürger in immer mehr Themen und Problemfeldern zwingend zu Laien werden, weil sie nur noch in einigen wenigen Themenfeldern eine adäquate Expertise ausbilden können. Dies wäre unschädlich, wenn die zu verhandelnden politischen Themen die großen normativen Fragen aus den Anfängen der Demokratie geblieben wären. Und soweit es diese Fragen noch sind – Kontrolle illegitimer Gewalt, soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, Krieg und Frieden und ähnliche grundlegende Fragen –, sind sie auch weiterhin der Auseinandersetzung und dem Diskurs der Bürger zugänglich. Aber inzwischen kommen Themen und Probleme auf die Agenda der Politik, die ein erhebliches Maß an Fachwissen erfordern, um überhaupt mitreden zu können. Wenn Bürger vernünftige Wahlentscheidungen treffen sollen, dann setzt dies voraus, dass sie zumindest einigermaßen einschätzen können, worum es geht, was die unterschiedlichen Optionen bedeuten, welche Expertise dazu vorliegt und welche Richtung mit einer bestimmten Option eingeschlagen wird. Bei Themen wie Finanzkrise, Staatsverschuldung, Klimawandel, Energiewende, Migration, Rentensysteme oder Gesundheitssystemreformen sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben. Hier von allgemeinem Diskurs und vernünftigen Wahlentscheidungen zu reden ist Rosstäuschung.
Zugleich aber gibt es in all diesen Problemfeldern Gruppen von Experten und Expertinnen – Fachgemeinschaften –, die über vertieftes Wissen verfügen und zu vernünftigen oder zumindest brauchbaren Entscheidungen kommen könnten. Wenn es gelänge, diese vielfältige Expertise in die politischen Entscheidungsprozesse einzubeziehen, dann wäre dem politisch destruktiven und demoti20vierenden Argument die Spitze genommen, dass die Politik nicht weiß, was sie tut.[18]
Denkt man in diese Richtung, ist folgender Einwand zu erwarten: Auch Experten sind unterschiedlicher Meinung, zu jeder Expertise gibt es eine Gegenexpertise, und auch Experten können insgesamt falschliegen. Wie soll dann die Einbeziehung von Fachgemeinschaften die Qualität politischer Problembehandlungen verbessern? Doch dieser Einwand lässt sich entkräften und sogar in ein positives Argument umkehren: Auch Experten verfügen unter aufgeklärten Bedingungen nicht mehr über Wahrheit, sondern nur noch über vorläufige Konstruktionen, deren Viabilität und Brauchbarkeit sich gerade aus dem für den Fortschritt von Wissen und Wissenschaft elementaren Wechselspiel von Meinung und Kritik, Validierung und Verwerfung, Proposition und Revision ergeben. Wissenschaft und die Produktion von Expertise ist strukturell analog gebaut wie demokratische Politik, nämlich abhängig von Kontroverse, Diskurs, Vernunft und Deliberation. Expertise erbringt genauso wenig einzig richtige und endgültige Entscheidungen wie die Politik; genau deshalb passen sie gut zusammen. Man muss nur Abschied nehmen von endgültigen Wahrheiten und stattdessen akzeptieren, dass Problemlösung unter komplexen und intransparenten Bedingungen bedeutet, sich evidenzbasiert von größeren zu kleineren Irrtümern voranzutasten. Es ist also gar nicht erforderlich, dass Fachgemeinschaften zu abschließenden und einstimmigen Urteilen kommen. Grundlegend ist dagegen, dass ihre Deliberations- und Entscheidungsprozesse so organisiert sind, dass ein rationaler und offener Diskurs stattfinden kann und die mertonschen Grundregeln einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung eingehalten werden.[19]
Ein weiterer Einwand geht dahin, dass unklar und problematisch sei, wer aus welchen Gründen als Mitglied einer bestimmten Fachgemeinschaft angesehen werden soll. Auch dieser Einwand lässt sich entkräften, wenn man die Analogie zu achthundert Jah21ren Erfahrung im Wissenschaftssystem und in der Bildung von wissenschaftlichen Fachgemeinschaften heranzieht. Im Prinzip regulieren diese sich nämlich selbst und rekrutieren Mitglieder nach Erfahrung, Kompetenz und Reputation. Im Kern ist es ein Kooptationssystem, in dem die Mitglieder einer Gemeinschaft darüber entscheiden, wer neu in die Gemeinschaft aufgenommen werden soll. Auch die Gefahren eines Kooptationssystems sind bekannt, wenn auch in der Wissenschaft nicht immer vermieden worden. Solange aber Fachgemeinschaften auf Heterogenität und offenen Diskurs setzen, sind diese Gefahren zu bewältigen und sollten nicht die Vorteile einer Kooptation nach Kompetenz in den Hintergrund drängen. Die Geschichte der Wissenschaft zeigt überzeugend, dass noch jeder Versuch der Abkapselung und Dogmatisierung über kurz oder lang durch Kritik, Paradigmenwechsel und wissenschaftliche Revolutionen zunichtegemacht wurde. Diese Fähigkeit zur Selbstkontrolle und Selbstkorrektur hat der Wissenschaft eine hohe Reputation und Autorität verschafft und sie in säkularen Gesellschaften an die Stelle der alten Autoritäten der Anciens Régimes treten lassen. Diese Autorität der Expertise gilt es nun für die Autorität der Demokratie zu nutzen.
Einen überzeugenden Vorschlag dazu hat Mark Warren gemacht, indem er Autorität im Kontext gesellschaftlicher Komplexität differenziert deutet und an Bedingungen deliberativer Demokratie anschließt. Autorität ist demnach keineswegs eine Bedrohung oder Antithese der Demokratie, sondern dann deren mögliche Stütze, wenn sie adäquat organisiert und begründet ist. Das entscheidende Argument von Warren lautet, dass die auf Expertise basierende Autorität für Laien (also für die Mehrheit der Bürger) keineswegs eine Aufgabe ihrer Urteilsfähigkeit bedeutet, sondern nur eine »begrenzte Suspendierung zugunsten eines Vertrauens (wenn erforderlich), welches durch einen Kontext möglicher öffentlicher Kritik ermöglicht ist«.[20] Ich kann als Bürger/Bürgerin der Autorität von Experten vertrauen, wenn ich prinzipiell die Möglichkeit habe, diese jederzeit kritisch zu befragen, wenn diese auf Kritik antworten müssen und innerhalb der Fachgemeinschaften ein kontinuierlicher Prozess von Kritik und Deliberation etabliert ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn in den Fachgemeinschaften die 22»Koalition der unüblichen Verdächtigen«[21] vertreten ist, also auch engagierte Bürger, Aktivisten, NGOs, lokale Gruppen etc.
Ein dritter Einwand schließlich betrifft die offensichtliche Frage der Ungleichheit der Beteiligung an Fachgemeinschaften. Wenn nicht mehr alle über alles entscheiden, sondern es zu einer Aufsplitterung der Problemfelder und der Möglichkeiten der Beteiligung kommt, dann ist das demokratische Prinzip der allgemeinen und gleichen Wahl verletzt. Dieser Einwand ist berechtigt und kann nur über einen Umweg abgemildert werden. Wie in Kapitel 3 auszuführen ist, läuft dieser Umweg darauf hinaus, dass das Prinzip der allgemeinen und gleichen Wahl für Grundsatzfragen erhalten bleibt und damit die Souveränität des Wahlvolkes bewahrt wird. Die Vertreter der repräsentativen Demokratie, die aus diesen allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen, entscheiden souverän über alle Delegationen von Kompetenzen an Fachinstitutionen, in denen spezialisierte Expertise zum Tragen kommt. Damit ist ein Schritt von ähnlicher Tragweite impliziert wie der Übergang von der direkten Demokratie der griechischen Polis zur repräsentativen Demokratie der modernen Flächenstaaten. Die Demokratie ist mit diesem Schritt nicht ruiniert worden, sondern hat sich neuen Rahmenbedingungen angepasst. Dies lässt erwarten, dass die Demokratie als Form politischer Steuerung auch weiterhin fähig ist, sich veränderten Bedingungen anzupassen, ohne Kernmomente ihrer Identität aufzugeben.
Mit dem Verweis auf ihre Steuerungsfunktion kommt in den Blick, dass Demokratie im Laufe ihrer Geschichte einen Funktionswandel durchgemacht hat, der mit veränderten Erwartungen der Bürger an ihre politischen Systeme zusammenhängt. Für Thomas Hobbes und die Phase der Nationenbildung bis hin zu den demokratischen Revolutionen ging es vordringlich darum, das Gewaltmonopol des Staates zu etablieren und die Freiheitsrechte der Bürger zu schützen. In seinem Nachruf auf die liberale Demokratie nennt Macpherson dies die protektive Demokratie.[22] Auf dieser ersten Ebene schafft die Politik für die Gesellschaft eine Ordnung, 23die den Kampf aller gegen alle verhindert und kollektiv verbindliche Entscheidungen erzeugt. Auf dieser Ebene ist es denkbar (und wird dann Praxis), dass in anderen Bereichen der Gesellschaft nicht Ordnung im Sinne von Einheit zwingend ist, sondern Ordnung durch Heterogenität möglich wird – so etwa im Bereich der Religion dadurch, dass im gesellschaftlichen Kontext der Moderne Religion als Privatsache freigegeben und die Trennung von Staat und Kirche erreicht ist; oder im Bereich der Familie dadurch, dass ein gewisses Chaos als Organisationsprinzip der Familienbildung zugelassen wird, indem die Partnerwahl nicht mehr durch Schicht, Stand etc. vorgegeben ist, sondern dem freien Lauf der »Liebe als Passion« (Luhmann) folgen darf.
Die liberalen Industriegesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hatten diese beiden Aufgaben im Prinzip gelöst und sahen sich der neuen Herausforderung gegenüber, die Wohlfahrt und soziale Sicherheit der Bürger – den pursuit of happiness – zu fördern. Die Verantwortung für Sicherheit und inneren Frieden wurde nicht obsolet, aber von der neuen Aufgabe überlagert. Die von der Politik erwartete Steuerungsleistung verlagert sich damit von der Eindämmung illegitimer Gewalt auf die Output-Seite politischer Programme. Der Politik wird eine Mitverantwortung für gesellschaftliche Wohlfahrt, für Wirtschaftswachstum, Arbeitsplätze und soziale Sicherheitssysteme aufgebürdet, ohne dass hinreichend deutlich würde, dass damit sowohl die Politik wie auch die Demokratie prinzipiell überfordert sind. Denn die Politik ist in einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft kein Wirtschaftsunternehmen und kann daher nicht direkt Wohlstand, Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum schaffen, sondern bestenfalls die Rahmenbedingungen dafür verbessern. Dies gilt auch für alle weiteren Politikfelder, die der Politik in modernen Demokratien zuwachsen – von der Gesundheitspolitik über die Familien- und Schulpolitik bis zur Energie- und Finanzpolitik. Autonomie, Eigenlogik und operative Geschlossenheit der betroffenen Funktionssysteme verhindern einen direkten Zugriff und direkte Interventionen der Politik, und dennoch wird diese mit einer Anspruchsinflation der Bürger konfrontiert und schnell für Mängel und Missstände jeder Art verantwortlich gemacht. Dieses Dilemma überträgt sich auf die Demokratie als den Steuerungsmodus der Politik und überlastet beide in gleicher Weise.
24Auswege aus diesem grundsätzlichen Dilemma sind bislang eher Symptombehandlungen und kurzfristiges Krisenmanagement. Besser geeignete Ansatzpunkte wären Verstärkungen von Föderalismus und Subsidiarität, aber die Föderalismusreform in Deutschland ist gescheitert, und Subsidiarität wird nach wie vor auf vertikale Subsidiarität begrenzt. Als umfassendere Auswege aus dem Steuerungsdilemma habe ich eine Ausdehnung der Subsidiarität auf horizontale Subsidiarität und, damit verbunden, Kontextsteuerung als angemessene Form der politischen Steuerung komplexer Gesellschaften vorgeschlagen.[23]
Kontextsteuerung bedeutet eine Kombination aus den Kompetenzen der Funktionssysteme zur Selbstorganisation und Selbststeuerung einerseits und kontextuellen Vorgaben, Rahmenordnungen und Ordnungsparametern durch die mit Kompetenzkompetenz ausgestattete Politik andererseits. Will man Demokratie und Modernität entfalten, dann ist es notwendig, der Komplexität differenzierter Gesellschaften mit adäquat komplexen Verschränkungen der differenzierten Autonomien mit übergreifenden kontextuellen Vorgaben zu begegnen. Eine autoritäre Beschneidung der Eigendynamik und der operativen Autonomie der Funktionssysteme fordert die Regression geradezu heraus, wie das Schicksal der sozialistischen Gesellschaften zeigt. Ein adäquat komplexer Zusammenhang von Autonomie und Kontext für den Fall moderner Demokratien zielt darauf, die Politik zu entlasten und die Selbststeuerungsfähigkeiten der Funktionssysteme zu nutzen.
Die Idee der Kontextsteuerung ist ein Versuch, die prinzipielle Vereinbarkeit von Demokratie und Modernität unter der Prämisse der Aufhebung hoher organisierter Komplexität zu begründen und dabei die Steuerungsexpertise der Funktionssysteme für die übergreifende Aufgabe der Gesellschaftssteuerung zu nutzen. Eine so aufwändige Konzeption wie die Kontextsteuerung kommt überhaupt erst in den Blick, wenn andere Formen der Steuerung komplexer Systeme als ungenügend oder zumindest als suboptimal eingeschätzt werden müssen. Wem pluralistisches »Durchwursteln« im Sinne einer naturwüchsigen Evolution von Gesellschaft ausreicht oder wer sich mit hierarchischer Steuerung durch Bürokratien abfinden kann, der braucht keine Kontextsteuerung.
25Eine autonome Selbstorganisation der gesellschaftlichen Funktionssysteme produziert neben aller Indifferenz und desinteressierten Distanz aufgrund der Interdependenz der Funktionen zugleich auch eine Vielfalt agonaler Logiken, welche die Einheit der Gesellschaft zu zerreißen droht. Hinter der Formel der gesellschaftlich verbindlichen Kontextvorgaben steckt das Problem, dass in einer polyzentrisch organisierten Gesellschaft die Politik ihre Sonderrolle als Instanz der Formulierung und Durchsetzung des gesellschaftlichen Konsenses eingebüßt hat und sich nun von der überbordenden Expertise der verschiedensten gesellschaftlichen Bereiche und centers of expertise abhängig macht. Allerdings gilt auch für die Nutzung dieser verteilten Intelligenz das Modell der Kontextsteuerung: Die Politik verfügt weder über das erforderliche Detailwissen, noch kann sie die vorhandene Expertise auch nur überschauen. Allerdings hat sie die Kompetenz, die kontextuellen Parameter für die Moderation, Koordination und Integration der verteilten Expertise zu setzen und so ihrer Rolle als Hüterin des Gemeinwohls gerecht zu werden.
Wenn gesellschaftliche Einheit sich weder automatisch qua Interdependenz herstellt (wie etwa Durkheim annimmt) noch von einer dezentrierten Politik qua Dezision hergestellt werden kann und wenn dennoch gesellschaftliche Einheit zumindest in dem Sinne als erforderlich erscheint, daß sie die Auflösung der Gesellschaft in freischwebende Funktionsbereiche verhindert, dann läßt sich die Herausforderung an Kontextsteuerung klarer formulieren: 1. Die Einheit moderner Demokratien verliert nicht nur ihren Vorrang gegenüber der Vielfalt ihrer Funktionssysteme, sondern auch noch die Position eines gleichgewichtigen Gegenstücks zu dieser Vielfalt. Die Einheit der Gesellschaft wird zur virtuellen Realität, welche die Optimierung möglicher Varietät und Differenziertheit leitet. 2. Die Bedingungen der Möglichkeit für Vielfalt innerhalb der Einheit avancieren zur Meßlatte für Modernität. 3. Da sowohl in der theoretischen Rekonstruktion wie in der Praxis der Politik die erforderliche Einheit sich gegenüber der zentrifugalen Dynamik der Vielfalt nur dezentral verteilt und nicht-autoritativ herstellen läßt, kann die Verantwortung für die Verbindlichkeit der unabdingbaren Einheit nicht irgendeiner zentralen oder hierarchisch übergeordneten Instanz überantwortet werden. Es bleibt nur der Ausweg, daß die Funktionssysteme selbst für diese Einheit sorgen, um darin zugleich ihre Autonomie und ihre Interdependenz aufzuheben.[24]
26Politische Steuerungsfähigkeit gründet heute schon auf Expertise hinsichtlich der Operationslogiken und Systemdynamiken verschiedenster Politikfelder. Es ist anzunehmen, dass mit einer sich formierenden Wissensgesellschaft sowohl der Bedarf an Expertise als auch deren Verfügbarkeit sowie das komplementäre Nichtwissen zunehmen und die Steuerungsaufgabe schwieriger gestalten werden. Die Demokratie wird sich neu aufstellen und Verbündete finden müssen oder an dieser Aufgabe scheitern.
Weitere erhebliche Veränderungen der Bedingungen, denen Demokratien in der Gegenwart ausgesetzt sind, hängen damit zusammen, dass eine vertiefte Globalisierung die Rolle der Nationalstaaten verändert und insbesondere deren Steuerungsfähigkeit in Frage stellt.
Eine zweite Welle der Entzauberung erschüttert die Demokratie aufgrund ihrer territorial begrenzten Verankerung im Nationalstaat. Seit der Durchsetzung der modernen Demokratie in der Amerikanischen und Französischen Revolution ist die Demokratie ehern an den Nationalstaat gekoppelt. Schon Thomas Hobbes hatte das politische System der sich bildenden Nationalstaaten mit der Funktion beschrieben, kollektiv verbindliche Entscheidungen herzustellen. Für diese Funktion muss also das »Kollektiv«, um das es geht, abgrenzbar und benennbar sein, damit man wissen kann, für wen die Gesetze gelten.[25] Nach wie vor sind die politischen Kollektive durch scharfe Regeln der Staatsangehörigkeit und Staatsbürgerschaft eindeutig definiert, und mithin sind nach wie vor die politischen Systeme der Welt als (im Weltmaßstab segmentär differenzierte) Funktionssysteme auf nationalstaatlich definierte Gesellschaften beschränkt. Alle anderen Funktionssysteme moderner Gesellschaften haben sich allerdings mit zunehmender Globalisierung aus den engen Grenzen des Nationalstaates befreit und zu funktionsspezifischen globalen Kontexten vernetzt – zu einer 27Weltwirtschaft, einem Weltgesundheitssystem, einem globalen Finanzsystem, Wissenschaftssystem, einer Weltkultur und so weiter. Damit entsteht eine elementare Spannung zwischen der globalen Orientierung der lateralen Weltsysteme einerseits und andererseits der national begrenzten Perspektive der Politik als einem Überbleibsel aus der Epoche der Nationalstaaten. Die daraus resultierenden Konfusionen ziehen die Demokratie in Mitleidenschaft und zwingen sie dazu, sich mit einer ganzen Reihe globaler Probleme auseinanderzusetzen, die sich auf nationalstaatlicher Ebene nicht adäquat behandeln lassen.[26]