Manfred Ehmer

Das Corpus Hermeticum

Weisheit, die aus dem Ewigen fließt

Inhaltsverzeichnis

Der Gnostische Yoga des Westens

Erkenne Dich selbst!

Die hermetische Literatur

Grundgedanken der Hermetik

Der Mystagoge Hermes Trismegistos

Der Urgott Thot

Der griechische Hermes

Hermes – eine historische Person?

Hellenistische Theosophie und Gnosis

Das geistige Klima Alexandrias

Der antike Logosgedanke

Die frühchristliche Gnosis

Die gnostische Pistis Sophia

Die Chaldäischen Orakel

Der Mystiker Poseidonios

Hermetik, Alchemie und Theosophie

Von der Hermetik zur Alchemie

Mysterien der Tabula Smaragdina

Die Hermetik in der Renaissance

Die Hermetik in der Freimaurerei

Die Hermetik in der Theosophie

Die Bedeutung der Hermetik heute

Das Corpus Hermeticum

Poimandres

Der unbewegte Beweger

Das Heilige Wort

Das Kelchgefäß

Der verborgene Gott

Über das Gute

Gnostische Bußpredigt

Es gibt keinen Tod

Geist und Wahrnehmung

Ein Schlüssel für Tat

Worte des Weltgeistes

Über den Geist im Menschen

Über die Wiedergeburt

Ein Brief an Asclepius

Asclepius an König Ammon

Ein Gespräch mit dem König

Worte eines Harfenspielers

Der Dialog Asclepius

Prolog

Über den Menschen

Über den Ursprung des Bösen

Über den Kult der Götter

Epilog

Das Buch Kore Kosmou

Aus dem Buch Kore Kosmou

Aus demselben Buch

Worte der Isis an Horus

Über Wiederverkörperung

Hermetische Astrologie

Über die Dekanate

Über die Planeten

Aufstieg in die Achte Sphäre

Literaturverzeichnis

Kommentare

Der Gnostische Yoga des Westens

Erkenne Dich selbst!

Nach Prof. J. Quispel, Utrecht, sind die hermetischen Schriften nur verschiedene Variationen zu dem Thema „Wer sich selbst erkennt, der erkennt das All“. Die Weihinschrift des Apollotempels von Delphi – gnothi seauton, Erkenne Dich selbst – scheint auch der kategorische Imperativ der Hermetik gewesen zu sein.

Diese war nämlich, gleich dem Neuplatonismus und anderen spätantiken Gedankengebäuden, nicht intellektuelles Philosophieren, sondern ein Erlösungsweg, der die Befreiung der menschlichen Seele aus der irdischen Wandelwelt und ihre schlussendliche Vereinigung mit dem göttlichen All-Geist anstrebte. So kann man die Hermetik den Gnostischen Yoga des Westens nennen. Als ein Weg der Selbst-, All- und Gott-Erkenntnis ist sie fester Bestandteil einer geheimen abendländischen Mysterientradition.

Es mag vielleicht etwas verwundern, dass hier von einem Yoga des Abendlandes die Rede ist. Mit „Yoga“ meinen wir hier allerdings nichts spezifisch Indisches, überhaupt nichts Östliches, Orientalisches, auch nicht irgendein System von Sitzhaltungen, Atemübungen und Körperstellungen. Dies sind nur die äußerlichen, exoterischen Seiten des Yoga. In Wahrheit heißt Yoga das Einswerden mit Gott und ist insofern etwas durchaus Überzeitliches, Allgemeines, ein Gemeingut aller Völker und Kulturkreise. Das Sanskrit-Wort yoga ist verwandt mit dem lateinischen jugum und bedeutet „Joch“. Und „Joch“ heißt so viel wie „Verbindung“. Yoga möchte die unmittelbare, direkte Verbindung des Menschen zu Gott herstellen, und diese Verbindung ist ja der Kern und die Essenz jeder Religion überhaupt. Darum ist Yoga die Tiefendimension der Synthese, die allen Religionen zu eigen ist. Es hat schon immer einen abendländischen Weg des Yoga gegeben. Es war dies der Weg der Alchemisten, Mystiker, Rosenkreuzer; der Weg des heiligen Grals, des Gralsrittertums als esoterische Schulung. Auch der ägyptische Pfad der Einweihung war reinster, ursprünglicher Yoga.

Von den drei klassischen Yogawegen Indiens, dem Karma-yoga, Bhakti-yoga und Jnana-yoga ist es der letztere, der die Gottvereinigung durch Erkenntnis anstrebt. Jnana-yoga ist gewissermaßen der „Gnostische Yoga“, weil er das gnosein, das Erkennen höher stellt als die Werke oder die verehrungsvolle Hingabe. Die Bhagavad Gita hat diesen Weg wie folgt dargestellt:

„In dieser Welt gibt es nichts, was so erhaben und rein ist wie transzendentales Wissen. Solches Wissen ist die reife Frucht aller Mystik, und wer auf dem Pfad hingebungsvollen Dienstes fortgeschritten ist, genießt dieses Wissen schon bald in sich selbst.

Ein gläubiger Mensch, der sich dem transzendentalen Wissen gewidmet hat und der seine Sinne unter Kontrolle hat, ist befähigt, solches Wissen zu erlangen, und wenn er es erlangt hat, erreicht er sehr schnell den höchsten spirituellen Frieden.

Unwissende und ungläubige Menschen aber, die an den offenbarten Schriften zweifeln, erreichen kein Gottesbewusstsein; sie kommen zu Fall. Für die zweifelnde Seele gibt es Glück weder in dieser Welt noch in der nächsten.

Wer hingebungsvollen Dienst ausführt, indem er den Früchten seiner Tätigkeit entsagt, und wessen Zweifel durch transzendentales Wissen zerstört worden sind, ist tatsächlich im Selbst verankert. Deshalb wird er von den Reaktionen seiner Tätigkeiten nicht gebunden, o Eroberer von Reichtum. Daher sollten alle Zweifel, die in deinem Herzen entstanden sind, mit der Waffe des Wissens zerschlagen werden. Bewaffne dich mit yoga, o Bharata, steh auf und kämpfe“1

„Transzendentales Wissen“, das höchste zu erlangende Gut, ist nichts anderes als gnosis. Die westliche Hermetik weist nun ebenfalls einen Weg der Erkenntnis auf, und in diesem Sinne könnte man sie den „Gnostischen Yoga des Westens“ nennen. Spricht der indische Text vom gefahrvollen Zweifel, der mit der Waffe des Wissens zerschlagen werden soll, so stellt die Hermetik das Nicht-Wissen um Gott, die agnosis, als das größte aller Übel hin. „Gnosis“ im Sinne der Hermetik ist jedoch alles andere als intellektuelle Verstandes-Erkenntnis; sie geht im Gegenteil immer mit wahrer Herzens-Frömmigkeit einher und ist gleichbedeutend mit Gottseligkeit. Nur eine wahrhaft von Gott entflammte Seele kann solche Art der Gnosis erreichen.

Das Wort „Gnosis“ kommt im hermetischen Schrifttum häufig vor. Üblicherweise versteht man unter diesem Begriff eine bestimmte Anzahl frühchristlicher Mysterienschulen und Kultvereine, die etwa vom 2. bis 5. Jahrhundert n. Chr. am Rande der Großkirche existiert haben. Sie lehrten die Selbsterlösung des Menschen durch Erkenntnis, die Befreiung aus der Gefangenschaft wiederholter Erdenleben und den Aufstieg durch die Planetensphären in die geistige Welt des pleroma. Das besondere Kennzeichen der christlichen Gnosis war jedoch der Dualismus: die materielle Welt glaubte man nicht von Gott, sondern von einem Widersacher Gottes geschaffen, dem Demiurgen, dessen Herrschaftsgewalt man sich zu entziehen suchte.

Dieser Dualismus ist genau der Punkt, worin die hermetische Philosophie sich grundlegend von jeder christlichen Gnosis unterscheidet: die Hermetik betont immer wieder den All-Einheits-Gedanken, das hen to pan („Eins ist Alles“), das jeden Dualismus von vornhinein ausschließt. In einem hermetisch gedachten Uni versum ist Gottes-Erkenntnis immer auch Kosmos-Erkenntnis; denn der Kosmos stellt selbst etwas Göttliches dar und ist eine Widerspiegelung der oberen geistigen Welt. Die hermetische Theosophie will die geistigen Gesetzmäßigkeiten des Alls sichtbar machen, will aufzeigen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“ – denn nur wer das All erkennt, wird eine Erkenntnis Gottes erlangen. Der Schlüssel zu beidem liegt in der Selbsterkenntnis, die von Novalis (1772–1801) als der wahre „Stein der Weisen“, das die Welt umwandelnde Elixier, gepriesen wird:

Glücklich, wer weise geworden und nicht die Welt mehr durchgrübelt,

Wer von sich selber den Stein ewiger Weisheit begehrt. Nur der vernünftige Mensch ist der wahre Adept – er verwandelt

Alles Leben in Gold – braucht Elixiere nicht mehr.

In ihm dampfet der heilige Kolben – der König ist in ihm – Delphos auch und er fasst endlich das: Kenne dich selbst.2

Der „Stein der Weisen“ ruht als das ewige Rätsel der Seele in uns selbst, und die hermetische Philosophie will dazu verhelfen, diesen lapis philosophorum zu gewinnen. Als ganzheitliches Weltbild möchte die Hermetik auf der Grundlage einer spirituellen Natur- und Kosmos-Erkenntnis den Aufstieg des Menschen zum Gott-Bewusstsein ermöglichen. Zugleich beinhaltet dieses Weltbild die Grundlagen aller okkulten Disziplinen, der Astrologie, der Alchemie und der Magie. Es wird aufgezeigt, wie sich der Mensch von den zwingenden Gestirnseinflüssen befreien kann, wie er sich zum Selbst-Schöpfer und zum Meister seines eigenen Schicksals erhebt. Indem der Mensch seinen Ursprung und seine wahre Menschennatur erkennt, gelangt er auf dem Durchgang durch die Sternensphären zu seinem überkosmischen Ursprung und erlangt damit die Meisterschaft über alle niedere Materie. Das ist der hermetische Pfad, der in der Alchemie das „Große Werk“ heißt und den Dante in seiner Göttlichen Komödie allegorisch als den Aufstieg des Menschen auf den Läuterungsberg und ins Paradies geschildert hat.

Die hermetische Literatur

Unter der hermetischen Literatur verstehen wir nicht, wie weithin üblich, das alchemistische Schrifttum des Mittelalters, sondern den Corpus der aus der Spätantike überlieferten griechischen, lateinischen, koptischen und arabischen Texte religiös-philosophischen und esoterischen Inhalts, die dem mystischen Universalgott Thot-Hermes, auch Hermes Trismegistos genannt, zugeschrieben werden. In diesen Schriften mischen sich orientalische Elemente mit platonischen, aristotelischen, pythagoreischen, stoischen, aber auch jüdischen und gnostischen Gedanken, ohne dass man dies ohne weiteres als bloßen Synkretismus all dieser Strömungen betrachten könnte. In der ausgehenden Antike und im Mittelalter galt Hermes als einer der größten Wissenden aller Zeiten. Seine Weisheit soll angeblich in vielen Büchern niedergelegt worden sein, doch die Angaben hierüber gehen stark ins Legendäre.

Ganz fabelhafte Angaben über die Schriften des Hermes Trismegistos finden sich bei Jamblichus, wonach Seleukos ihre Zahl auf 20.000, Manetho auf 36.525 angab3; letztere Zahl entspricht den Jahren von 25 Sothisperioden. Der Kirchenvater Clemens Alexandrinus spricht von insgesamt 42 Büchern, von denen 36 die gesamte ägyptische Philosophie enthielten und von den Priestern auswendig zu lernen wären; vier von den 36 Büchern seien astronomischen Inhalts und 6 weitere medizinischen Inhalts. Von drei der astronomischen Bücher gibt Clemens den Inhalt an: Beschreibung des Sternhimmels; Sonnen- und Mondphasen; Sternaufgänge. Alte Texte dieser Art mochte es in Ägypten tatsächlich gegeben haben; und sie wurden später auf Geheiß der Ptolemäer ins Griechische übersetzt.

Was immer die Legende über die Bücher des Hermes Trismegistos sagen mag – tatsächlich erhalten geblieben ist ein Corpus authentischer hermetischer Schriften religiös-philosophischen und esoterischen Inhalts in griechischer, lateinischer und koptischer Sprache. Dieses Schrifttum geht ganz offenkundig nicht auf einen Verfasser zurück, sondern wurde von mehreren unbekannten Autoren geschrieben, wenngleich Hermes Trismegistos dabei stets als Verfasser genannt wird. Zum Corpus der hermetischen Schriften zählen wir folgende Texte:

(1) Ein in griechischer Sprache abgefasster Corpus von 15, nach Reitzensteins Zählung 18 Dialogen, der mit dem Poimandres-Dialog beginnt und unter dem Namen Corpus Hermeticum bekannt geworden ist;

(2) Einen lateinisch abgefassten Dialog unter dem Titel Asclepius;

(3) Die von Stobaeus unter dem Titel Anthologia gesammelten Exzerpte, darunter als längstes und bedeutendstes das fragmentarische Buch mit dem Titel Kore Kosmou, ein fiktiver Dialog der Isis mit ihrem Sohn Horus;

(4) Die hermetischen Texte aus dem Papyrusfund gnostischer Originaltexte von Nag Hammadi, Mittelägypten, in koptischer Sprache abgefasst, darunter vor allem der Traktat Über die Achtheit;

(5) Die arabischen Hermetica, entstanden in der Frühzeit des Islam, vor allem das Schreiben An die menschliche Seele;

(6) Als früher alchemistischer Text, ursprünglich wohl auch in Arabisch geschrieben, die berühmte Tabula Smaragdina.

Das Corpus Hermeticum ist eine handschriftlich überlieferte Sammlung, oft nach der ersten darin enthaltenen Schrift auch Poimandres genannt, die wir vermutlich Michael Psellos zu verdanken haben; in diesem Zusammenhang verdient auch die Aussage des Kirchenlehrers Cyrill Beachtung, dass die Bücher des Hermes Trismegistos „in Athen geschrieben worden seien“. Das Corpus Hermeticum ist eine Sammlung von 15, nach Reitzensteins Zählung 18 kurzen Dialogen mystischphilosophischen Inhalts. Da der Alchemist Zosimos, der dem 4. Jahrhundert n. Chr. anzugehören scheint, das ganze Corpus unter dem Titel Poimandres kennt, so wurde es – wohl in neuplatonischen Kreisen – sicherlich schon gegen Ende des Altertums zusammengestellt. Von allen hermetischen Schriften ist das Corpus Hermeticum, das eindeutig den Geist einer spätantiken, alexandrinisch-hellenistischen Gnosis atmet, philosophisch das bedeutsamste; es dürfte nach E. Zeller keiner früheren Zeit als „den letzten Jahrzehnten des dritten Jahrhunderts n. Chr.“4 angehören.

Das Corpus Hermeticum enthält eine Kosmologie (vor allem im Poimandres-Dialog), eine Anthropologie und einen Seelen-Erlösungsweg, eine Bekehrungspredigt, zahlreiche Lehrgespräche, mehrere Hymnen mystisch-religiösen Inhalts, daneben aber auch eher philosophische Dialoge im Stil Platons. In den Dialogen treten als Gesprächspartner Hermes, That und Asclepius auf, die beiden letzteren aber bloß als Fragende; Tat (wohl hergeleitet von Thot) scheint der leibliche Sohn des Hermes Trismegistos zu sein, der von diesem in die Grundthemen der hermetischen Philosophie eingeweiht wird. Aber die stark an Platon erinnernde Sprache, auch die Übernahme einiger seiner Philosopheme, wie insbesondere der „Ideenlehre“, darf nicht den Eindruck aufkommen lassen, das Corpus Hermeticum sei ein philosophischer Text im schulmäßigen, akademischen Sinne. Wir haben es hier vielmehr mit einem nur äußer lich gesehen philosophischen (und auch das nur an einigen Stellen), im Wesenskern aber eindeutig „mystischen“ Text zu tun. Es handelt sich um die kanonische Schriftensammlung einer mystisch-gnostischen Geheimreligion. Obgleich im hellenistischen Ägypten des 3. nachchristlichen Jahrhunderts entstanden, trägt das Corpus Hermeticum doch nirgendwo Spuren ägyptischer Götterlehre; das Ägyptische dient fast nur als Einkleidung und symbolische Ausschmückung. Am ehesten findet man Ägyptisches im Dialog Asclepius, obwohl selbst dort die Götternamen hellenisiert werden.

Der hermetische Dialog mit dem Titel Asclepius liegt uns nur in einer lateinischen Fassung vor, die lange Zeit dem aus Nordafrika stammenden römischen Autor Apuleius (geb. um 125 n. Chr.) zugeschrieben wurde. Dem Kirchenlehrer Lactantius war jedoch um das Jahr 310 n. Chr. noch das griechische Original bekannt. Es ist zu vermuten, dass der ganze, in drei Teile gegliederte Dialog in den Jahren zwischen 270 und 300 n. Chr. entstanden sein muss. Der Verfasser ist unbekannt; es könnte sich aller Wahrscheinlichkeit nach um einen Ägypter – möglicherweise gar um einen Priester – mit hellenistischer Bildung und einigen Kenntnissen der griechischen Philosophie gehandelt haben. Der ganze Dialog gliedert sich in drei Teile: 1. Vom Menschen; 2. Vom Ursprung des Bösen; 3. Vom Kult der Götter. Der Dialog Asclepius war im Altertum auch unter dem Namen logos teleios – die „Krönungsrede“ des Hermes Trismegistos – bekannt; es handelt sich dabei um eine sehr vertrauliche Unterredung, die Hermes mit seinem Lieblingsschüler Asclepius sowie mit Ammon und Tat geführt hat. Die Reden des Asclepius-Dialoges verstehen sich also als geheime Tempellehren.

Zu nennen wäre noch das hermetische Buch Kore Kosmou, das in griechischer Sprache abgefasst und unter den Stobaeus-Fragmenten zu finden ist. Johannes Stobaios war ein Schriftsteller des 5. Jahrhunderts n. Chr. aus der Stadt Stoboi in Makedonien; seine Anthologie in 4 Büchern berücksichtigt nach Sachkapiteln die griechische Literatur von Homer bis zum 4. Jh. n. Chr. als Sammlung von Auszügen von etwa 500 Dichtern und Prosaikern. In dieser Sammlung befindet sich neben Texten von Neupythagoreern und Neuplatonikern eine stattliche Anzahl von hermetischen Fragmenten, die sonst nirgendwo erhalten geblieben sind. Die Anthologie des Stobaeus hat lange Zeit nachgewirkt, so auf den Patriarchen Photios und auf die führenden Geister der Renaissance. Unter den Texten dieser Sammlung sticht der Dialog Kore Kosmou besonders hervor. „Kore Kosmou“ bedeutet „kosmische Jungfrau“: die Allgöttin Isis ist damit gemeint, die ihren Sohn Horus in die Geheimlehren des Hermes einweist. Den Mittelpunkt des Textes bildet ein gnostisch oder orphisch anmutender Sündenfall-Mythos, der den Sturz der Seelen aus den Regionen des Himmels in die Elementarwelt veranschaulicht.

Unter den bahnbrechenden Papyrusfunden gnostischer Originaltexte nahe des Weilers Nag Hammadi finden sich im Kodex VI auch bisher unbekannte hermetische Texte, allesamt in koptischer Sprache: 1. ein Dialog zwischen Hermes und Tat über die Achte oder die Fixsternsphäre, Über die Achtheit; 2. ein hermetisches Gebet, das uns auch in griechischer Fassung vorliegt, bekannt als Papyrus Mimaut, und in lateinischer Übersetzung den Schlussteil des Asclepius bildet; 3. Schließlich ein in die koptische Sprache übersetzter Passus aus dem Asclepius. Die Funde von Nag Hammadi werfen ein völlig neues Licht auf die Hermetik. Sie weisen einen engeren Bezug zur Magie und zur kultisch-liturgischen Praxis auf und lassen insgesamt eine größere geistige Nähe zur Gnosis erkennen, als man bisher angenommen hatte.

Dass die Hermetik mehr ist als bloß eine rein hellenistische Erlösungsreligion, beweisen auch die weinigen uns bekannten Hermetica in arabischer Sprache. Obwohl sich im Corpus Hermeticum noch keine Anzeichen eines eigenen Kultes erkennen lassen, gab es in späterer Zeit offensichtlich organisierte Kultgemeinden gnostischen Charakters, die sich auf die Offenbarungen des Hermes Trismegistos beriefen und heilige Bücher unter seinem und des Agathos Daimon Namen besessen haben. Gemeint ist die mesopotamische Gemeinde der Sabier oder Harraniter, die bis tief in die islamische Zeit hinein bestanden hat. Eine große Rolle spielte Hermes Trismegistos bei den Arabern, die ihn als Verfasser philosophischer, astronomischer und medizinischer Bücher sahen; Masala (um 800 n. Chr.) behauptet, 24 astrologische Werke von ihm zu kennen. Die einzige nichtislamische arabische Handschrift der Leipziger Rats- und Stadtbibliothek enthält im zweiten Teil ein in der Grundtendenz stark asketisches Sendschreiben des Hermes An die menschliche Seele, das schon 1736 die Aufmerksamkeit Reiskes fesselte und 1870 von H.-L. Fleischer in deutscher Übertragung herausgegeben wurde. Als Verfasser vermutet Fleischer „einen mit Gnosticismus, Neuplatonismus, Manichäismus, oder überhaupt orientalischer Theosophie vertrauten Christen; Stil und Sprache bestätigen dies und deuten ausserdem auf Aegypten hin“.5

Einige der arabischen Hermetica wurden schon im Mittelalter ins Lateinische übertragen und z. B. von Albertus Magnus in seinem Speculum astronomicum benutzt, sodass der Name des Hermes als eines großen Weisen der Vorzeit dem Abendland übermittelt wurde. Der bekannteste aller hermetischen Texte arabischer Herkunft ist die sogenannte Tabula Smaragdina, die „Smaragdene Tafel“ des Hermes Trismegistos. Der Sage nach soll sie zuerst von dem Magier Apollonios von Tyana im 1. Jh. n. Chr. aufgefunden worden sein; später gelangte sie in die Hände des Priesterarztes Sergios von Ris-Aina (6. Jh. n. Chr.), der sie aus dem Altsyrischen ins Lateinische übersetzte. In lateinischer Fassung ist sie im Abendland mindestens seit dem 11./12. Jh. bekannt, denn aus dieser Zeit stammt ein in Lateinisch verfasster Kommentar dazu aus der Feder eines Mönchs namens Hortulanus. Die Tabula Smaragdina brachte Hermes den Ruf ein, Begründer der Alchemie zu sein und den magischen „Stein der Weisen“ zu besitzen.

Grundgedanken der Hermetik

Nach den Lehren der Hermetik ist „Gott“ keine von der Welt getrennte, über oder außerhalb der Welt schwebende Wesenheit, auch kein „Erster Beweger“, der die Schöpfung von außen her anstößt, sondern vielmehr eine der Welt immanente, schaffende und bewegende Urkraft, die Alles in sich beschließt und beständig am Sein erhält. Diese immanente Welten-Gottheit wird als das „Gute“ bezeichnet und zugleich als Strahlquelle allen geistigen Lichts. Selbst der Geist, eigentlich ja das höchste Prinzip im Universum, ist nur eine Abstrahlung jenes Gottes, der „Alles in Allem“ ist und insofern Schöpfer und Geschöpf zugleich.

In dieser pantheistischen Sicht des Weltganzen kann es keinen Dualismus zwischen „Gott“ und „Welt“ geben, die gleichsam nur zwei unterschiedliche Aggregatzustände derselben Wirklichkeit darstellen. Ähnlich wie in der Vedanta-Philosophie Indiens herrscht in der Hermetik ein nicht-dualistisches Denken vor; denn Gott ist ja das All in seiner Gesamtheit.

Der All-Einheitsgedanke der Hermetik kommt in einem Symbol zum Ausdruck, das sich in einer Handschrift der Cleopatra über die Goldmacherkunst findet: Ouroboros, der sich selbst in den Schwanz beißende Drache; und darunter steht die Aufschrift hen to panEins ist Alles. Aus dem all-einen Gott ist das All hervorgegangen, und dorthin wird es dereinst wieder zurück kehren. Aller Vielheit, allem Wandel dieser trügerischen Sinnenwelt liegt eine letzte große Einheit zugrunde, in der Welt und Gott – nur scheinbar getrennt – zusammenschmelzen zu einer geisterfüllten Ganzheit. Alles Einzeldasein, in welchen Formen es sich auch kundgeben mag, ist enthalten im Netzwerk der göttlichen All-Einheit, die immer war und ist und sein wird.

Man kann die Hermetik im wahrsten Sinne als eine kosmische Religion bezeichnen; der Kosmos erscheint in ihr nicht nur als eine „Fülle des Lebens“, sondern als ein großes Lebewesen, ein zeitliches Abbild des Ewigen, ein Gott in der Materie. Da der Kosmos als Abbild Gottes ein „Zweiter Gott“ ist, so kann nichts im Kosmos je zugrunde gehen; es gibt keinen Tod, sondern nur ewige unaufhörliche Metamorphose. Alles im Kosmos zeigt sich dem Hermetiker als energie- und lebenerfüllt, ständig in Bewegung, ständig in Umwandlung begriffen. So ist der Kosmos, besonders insofern er ewig währt, selbst etwas Göttliches. Der Mensch nun, selbst wieder ein Abbild des Kosmos, tritt somit als ein Kosmos im Kleinen, als Mikrokosmos auf den Plan. Er ist, da vom Kosmos gezeugt und geboren, der „Dritte Gott“, der allein das Vermögen besitzt, sich Kraft seines Geistes zum Zweiten und zum Ersten Gott aufzuschwingen.

Der Kosmos wird von Hermes Trismegistos in den Gespächen oft als ein „unsterbliches Lebewesen“, ja als das „Erste unter allen Lebewesen“ bezeichnet, wie es wohl auch jener Naturphilosophie entspricht, die Platon in seinem Timaios-Dialog entfaltet. Man kann die Hermetik als Einheits-Mystik und zugleich als Kosmos-Mystik charakterisieren. Hier besteht ein Hauptunterschied gegenüber den zahlreichen in der Spätantike aufblühenden Richtungen und Schulen der Gnosis, die einem stark dualistischen und kosmosfeindlichen Denken verpflichtet waren. Die Gnostiker sahen den sinnlich in Erscheinung tretenden Kosmos als eine feindliche Macht an, die sie an ihrem Aufstieg zum Licht hinderte; der Hermetiker sieht umgekehrt den All-Einen als den Gott, der sich in Allem und besonders im Kosmos offenbart.

Der Mensch ist in der Sicht der Hermetik ein sterblicher Gott. Dem Agathos Daimon, auch er eine Geistwesenheit und ein Lehrer der Hermetik, wird der Ausspruch in den Mund gelegt: „Die Götter sind unsterbliche Menschen, und die Menschen sterbliche Götter“. Wenn der Mensch in der Hermetik als ein kosmisches Wesen gesehen wird, dann muss die Menschwerdung eng mit der Entwicklung des Kosmos verbunden sein. Schildert die hermetische Kosmogenesis die Entstehung des Kosmos aus dem uranfänglichen Geist-Wort, die Formung der vier Elemente, der Planeten und der Erde, bis zur Bildung tierischer Lebensformen, so behandelt die Anthropogenesis das Geheimnis der Menschwerdung. Es geht in ihr um die Erschaffung des urbildlichen Geistesmenschen, um seine Herabkunft in die stoffliche Erdenwelt, schließlich um die Bildung menschlicher Urtypen und die Geschlechtertrennung.

Die hermetische Anthropogenesis betont den übersinnlich-geistigen Ursprung des Menschenwesens. Die in höchster Schau gesehene Gottheit, der universale Nous, bildet sein eigenes Ebenbild zum Anthropos, zum kosmischen Universalmenschen. Der Anthropos als der urbildliche Geistes-Mensch weilt in der selben Sphäre wie der Demiurg, also oberhalb der Planetensphären; als er aber die aus feurigem Äther gebildeten Schöpfungen des Demiurgen sieht, erwacht in ihm der Wunsch, selbst schöpferisch tätig zu werden. Diesem Wunsch wird von Seiten des Nous stattgegeben; und als der Anthropos auf die weit unter ihm liegende Erde hinab sieht, erblickt er in der Natur ein Spiegelbild seiner eigenen göttlichen Gestalt. Von diesem Spiegelbilde wie magisch angezogen, stieg er – die Planetensphären durchbrechend – zur Natur hinab, mit der er sich innig vermählte. Daraufhin erschuf die Natur in Verbindung mit dem zur Erde hinab gestiegenen Anthropos die sieben menschlichen Urtypen, die als Hermaphroditen noch beide Geschlechter ungeschieden in sich trugen. Erst eine spätere Schöpfungsperiode bringt die Geschlechtertrennung mit sich; und seitdem vermehren sich die Menschen geschlechtlich.

So ist der Mensch in der hermetischen Philosophie ein in die Materie hinab gestiegener Gott; ein zutiefst zwiespältiges Wesen, das sowohl die irdische Stoffesnatur als auch die ewige Geistesnatur als Bestandteile seines Wesens in sich trägt.

Nach der Kosmo- und Anthropogenesis beschreibt die Hermetik den Aufstiegsweg des Menschen zu seinem Ursprung, zum Göttlich-Urbildlichen. Dieser Weg vollzieht sich in drei Stufen: zuerst die Ablegung des physischen Leibes, dann der schrittweise Aufstieg durch die Planetensphären und die Fixsternsphäre, zuletzt das Einswerden des Menschen mit Gott durch Erkenntnis: die Gottwerdung oder Theogenesis. Hermes Trismegistos sagt in den hier wiedergegebenen Gesprächen, es sei Gottes Wille, „dass alles Menschliche sich zum Göttlichen wandeln soll“– das Ziel der Hermetik liegt also in einer Alchemie der Seele, einer Transmutation des Menschen in eine Geistwesenheit. Der aus den vier Elementen gebildete Mensch bleibt zwar unabdingbar an den Schicksalsspruch der Planetengötter gebunden, doch gilt dies nur für diejenigen Menschen, die den „Geist“(im Sinne von Nous) nicht besitzen. „Geist“ im Sinne von „Logos“ – Verstand, Rede – ist zwar allen Menschen von Natur aus eigen, der Nous als das Göttlich-Geistige jedoch nicht. Der Nous ist ein Geschenk Gottes, das nur ganz Wenigen zukommt.

Anders als der Verstand ist der Geist wahrhaft göttlicher Natur; er befreit den Menschen vom Bann der planetaren Schicksalsgötter und öffnet ihm die Tore zum Gott-Wissen. Im IV. Buch des Corpus Hermeticum („Das Kelchgefäß„) ist von einem Kelchgefäß des Geistes die Rede, in dem die zur Gottwerdung Auserwählten getauft werden sollen. Im XIII. Buch („Eine Geheimrede des Hermes Trismegistos an seinen Sohn Tat: Über die Wiedergeburt„) erfahren wir, wie das Mysterium der Wiedergeburt im Geiste vor sich geht. Unter „Wiedergeburt“ verstehen wir in der Hermetik die Geburt aus dem physischen Körper hinaus und in einen unsterblichen Geistkörper hinein; ein so Wiedergeborener wird ein „Sohn Gottes“ genannt, und er trägt das All in sich.

Der Wiedergeborene, der in die Hermetik Eingeweihte, hat das mystische All-Einheits-Bewusstsein erlangt; er ist mit dem Kosmos und insofern auch mit Gott eins geworden. Im Besitz einer geläuterten Geistleiblichkeit steigt der hermetisch Eingeweihte durch die sieben Planetensphären empor, und indem er die Fixsternsphäre durchschreitet, wandelt er sich, wird selbst einer der Götter im All, bis er zuletzt eins wird mit jener Weltengottheit, die als das urewige hen to pan „Eins in Allem“ ist. Diese Selbstumwandlung, die Transmutation vom Menschen zum Gott und All-Einen, ist das Ziel der esoterischen Alchemie; dies bedeutet die Verwandlung von Blei in Gold. So ist die Aufforderung des Alchemisten Gerhard Dorn (16. Jh.) zu verstehen: Transmutemini in vivos lapides philosophicos! – „Verwandelt euch in lebendige Steine des Weisen“. Der vielgesuchte Stein des Weisen – das ist der Mensch selbst: der Nous als die wahre Geistnatur des Menschen!

Thot, Horus und Isis