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Lucian Hölscher

Die Entdeckung
der Zukunft

 

 

 

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Inhalt

Einleitung

ERSTER TEIL
Auf dem Weg zur Moderne

Der mittelalterliche Zukunftshorizont und sein Ende

Die Entstehung des modernen Zukunftsbegriffs

ZWEITER TEIL
Die Periode der Entdeckung 1770 – 1830

Die geschichtsphilosophische Erschließung der Zukunft

Der unabsehbare Fortschritt und seine Grenzen

Die Zukunft im Spiegel des Altertums

Nationalstaatliche Zukunftsmythen

DRITTER TEIL
Die Periode des Aufbruchs 1830 – 1890

Der demokratische Aufbruch in die Zukunft um 1830

Die Zukunftsentwürfe der frühen Sozialisten

Die Anfänge der empirischen Zukunftsforschung in den Sozialwissenschaften

Die kommende sozialistische Revolution

Der sozialistische Zukunftsstaat

VIERTER TEIL
Die Periode des Höhepunkts 1890 – 1950

Die neue Qualität der Zukunft

Der Aufschwung des Zukunftsromans

Kosmologische Zeithorizonte

Die Technisierung der Zukunft

Die Ästhetik der Zukunft

Architektur und Städtebau

Die neue Gesellschaft

Die alternative Moderne

Der große Krieg

Die Weimarer Republik: Vielerlei politische Zukünfte

Alterndes Volk

Der Mythos vom Tausendjährigen Reich

Das Dritte Reich und die faschistischen Diktaturen

Der Niedergang des sozialistischen Zukunftshorizonts

FÜNFTER TEIL
Die Periode der Transformation seit 1950

Europa nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Futurologie und die Grenzen des Fortschritts

Gesellschaftliche Reaktionen

Das Jahr 2000 und die Zukunft der Zukunft

 

Nachwort zur 2. Auflage

ANHANG

Anmerkungen

Auswahlbibliographie

Abbildungen

Namensregister

Sachregister

Einleitung

Was sind und wozu dienen Zukunftsvorstellungen?

Zukunftsvorstellungen sind, wie jeder aus seiner eigenen Erfahrung weiß, äußerst luftige Gebilde. [1] Sie sind unbeständig, lösen sich oft ebenso plötzlich wieder auf, wie sie entstanden sind. Oft entwerfen wir sie überhaupt nur, um auf eine mögliche Gefahr hinzuweisen, eine falsche Entscheidung zu verhindern, und wollen schon morgen, wenn die Gefahr vorüber ist, nichts mehr von ihnen wissen. Oft legen wir uns beim Blick in die Zukunft auch gar nicht auf eine bestimmte Vorstellung fest, sondern halten bald die eine, bald die andere Entwicklung für möglich. Schließlich bilden wir uns zu unendlich vielen Vorgängen auch überhaupt keine Zukunftsvorstellungen oder erst von einem bestimmten Zeitpunkt an – und können uns dann manchmal später kaum noch erklären, wie uns das frühere Vorstellungs»loch« damals gar nicht auffallen, geschweige denn stören konnte. Zukunftsvorstellungen sind also alles andere als stabile, feststehende Größen.

Zukunftsvorstellungen sind ferner Zwitter zwischen Realität und Fiktion. Sie können weder als bloße Erfindungen noch im einfachen Sinne als historische Realitäten betrachtet werden. Einerseits sind sie zwar beides zugleich, nämlich mentale Gegebenheiten, die unser Denken und Handeln auch dann beeinflussen, wenn sie nicht eintreten. Und als solche sind sie natürlich historiographisch ebenso ernst zu nehmen wie andere historische Fakten auch. Andererseits unterscheiden sie sich aber auch von beiden: von bloßen Erfindungen, wie sie in Romanen vorkommen, schon allein dadurch, dass sich der Gegenstand ihrer Imagination im Rückblick durchaus als reales Ereignis bzw. Zustand herausstellen kann – dann nämlich, wenn sich die Erwartung oder Voraussage als zutreffend erweist. Bertrand de Jouvenel beschreibt sie deshalb als »futuribles«, als mögliche Zukunftsereignisse. [2] Von vergangenen Ereignissen und Zuständen andererseits trennt sie nicht nur der Zeitpunkt, sondern auch die gesamte logische Konzeption der Geschichte: In der Vergangenheit gilt nämlich die eindeutige Alternative, dass sich etwas entweder ereignet hat oder nicht. Die vergangene Welt lässt sich in faktische und fiktive Ereignisse unterteilen. Die zukünftige Welt so zu ordnen wäre dagegen sinnlos, denn in ihr können wir eben gerade nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ein Ereignis dem Bereich des Faktischen oder des Fiktiven zuzurechnen ist. [3]

Und dies ist kein nebensächliches, sondern ein wesentliches Merkmal solcher Ereignisse. Denn wüssten wir mit Bestimmtheit, dass sich eine Zukunftsvorstellung tatsächlich auch so realisieren wird wie vorausgedacht, so stellte sich die gegenwärtige Welt von Grund auf anders dar. Wer würde z. B. noch eine Reise antreten, wenn er schon im Vorhinein wüsste, dass er auf ihr verunglücken wird; wer noch an der Börse spekulieren, wenn Gewinn und Verlust schon von vornherein feststünden? Und doch gehen Historiker meist gerade so mit vergangenen Zukunftsvorstellungen um, als ließen diese sich dadurch hinreichend charakterisieren, dass wir sie im Nachhinein als »realistisch« oder »illusionär« bezeichnen: Bismarck erscheint ihnen als weiser Mann, weil er, anders als seine Nachfolger, die Gefahren eines Zweifrontenkriegs zwischen Russland und Frankreich richtig voraussah; Hitler und Napoleon sind ihnen dagegen unkluge Strategen, weil sie die Möglichkeit einer militärischen Eroberung Russlands falsch einschätzten, usw.

In Wirklichkeit trägt diese Art der nachträglichen Abgleichung vergangener Zukunftsvorstellungen mit späteren Ereignissen und Entwicklungen deren tatsächlicher historischer Bedeutung nur ganz unzureichend Rechnung. Zwar gehört auch sie zum kritischen Umgang mit vergangenen Zukunftsvorstellungen. Doch ihre aktuelle Bedeutung für die Zeitgenossen selbst geht weit darüber hinaus:

Sie liegt zum einen auf dem Gebiet der historischen Horizontbildung: Indem wir unsere Gegenwart geschichtlich begreifen, entwerfen wir Zukunftshorizonte, die diese Gegenwart in eine bestimmte historische Perspektive rücken. Wie dies geschieht, zeigt die zeitgenössische Erfahrung: Man denke nur an den Dauerkonflikt zwischen Israelis und Palästinensern, an die divergierenden (optimistischen wie pessimistischen) Zukunftsszenarien, die seit Jahrzehnten aufgebaut werden, um dessen möglichen Ausgang abzuschätzen, und vergleiche ihn etwa – einigen von uns noch erinnerlich – mit den Zukunftsszenarien, die 1989/90 anlässlich der deutschen Einheit aus dem Boden schossen. Dann wird man sehen, wie aus realen Möglichkeiten Illusionen und aus Hoffnungen realistische Erwartungen werden.

An solchen Beispielen lässt sich nachvollziehen, wie sich der Realitätscharakter von Zukunftsvorstellungen mit dem zeitlichen Abstand allmählich verschiebt, den wir zu dem Ereignis haben, das sie auslöste: Je ferner uns das historische Ereignis rückt, desto mehr schwindet das Bewusstsein für die Offenheit der damaligen Situation, desto stärker sehen sich deshalb auch die damaligen Zukunftsvorstellungen in unserem Bewusstsein von der Bezeichnung als ›realistisch‹ oder ›illusionär‹ eingefärbt. Es gehört ein hohes Abstraktionsvermögen gegenüber dem gewandelten historischen Kontext dazu, um auch in späterer Zeit noch an der historischen Offenheit der Zukunft in einem vergangenen Zeitpunkt festzuhalten.

Die Bedeutung vergangener Zukunftsvorstellungen liegt zum andern auf dem Gebiet der Zukunftsgestaltung: Mehr denn je zuvor orientieren sich Politiker, Parteien und Wähler heute bei politischen Entscheidungen an Vorstellungen über den möglichen Verlauf der künftigen Entwicklung. Solche Vorstellungen wurden und werden vielfach in Expertengutachten, Parteiprogrammen, Regierungserklärungen, Enqueten und Denkschriften niedergelegt, sie nehmen breiten Raum in Wahlreden und tagespolitischen Schriften ein, bestimmen aber noch weit mehr unsichtbar im Hintergrund das politische Urteil der Menschen. Häufig handelt es sich dabei gar nicht nur um positive Ziele, sondern auch um die Erwartung negativ bewerteter Ereignisse oder Entwicklungen, die es abzuwehren oder zu verhindern gilt. Natürlich erschließt sich der historische Sinn vergangener Ereignisse nicht allein auf diesem Wege. Immer gehört auch die Kenntnis der mittlerweile eingetretenen Folgen dazu. Doch ohne die Kenntnis der zeitgenössischen Zukunftserwartungen ließe sich das Zustandekommen politischer Ereignisse und Entwicklungen ebenso wenig erklären, wie wenn wir uns dabei ausschließlich auf sie stützen.

So lässt sich zusammenfassend feststellen: Zukunftsvorstellungen strukturieren den Erwartungshorizont einer Gesellschaft. Sie engen die unendliche Offenheit des prinzipiell Möglichen auf wenige (manchmal nur zwei) politisch relevante Möglichkeiten ein. Das bedeutet nicht, dass eine dieser Möglichkeiten dann auch tatsächlich eintritt: Oft geschieht vielmehr etwas Drittes, das womöglich von niemandem erwartet wurde. Aber die Horizontbildung hilft den beteiligten Akteuren und ihren Beobachtern bei der Lagebeurteilung und der Entscheidungsfindung. Kollektive politische Entscheidungen, vor allem solche in demokratischen Gesellschaften, bedürfen einer solchen Verengung des historischen Erwartungshorizonts, um überhaupt getroffen werden zu können.

Zukunftsvorstellungen in der Vergangenheit

Man könnte meinen, wie wir selbst, so hätten auch alle vergangenen Generationen eine Zukunft vor sich gehabt, auf die sie hinlebten: Mögen sie sich bei ihren konkreten Erwartungen auch häufig getäuscht haben, so erwarteten sie doch immer irgendetwas. Doch tatsächlich ist die Zukunft erst spät entdeckt worden. Zwar gab es schon immer zukünftige Ereignisse, die die Menschen erwarteten, aber nicht immer gab es die Vorstellung von einer homogenen, allmählich verfließenden Zeit, in der sich solche Ereignisse vorausschauend ansiedeln ließen. Und bei genauerer Analyse der älteren Quellen ist es oft sogar zweifelhaft, ob es sich vor Beginn der Neuzeit tatsächlich schon um »zukünftige« Ereignisse im modernen Sinne des Wortes ›zukünftig‹ handelte. Das klingt rätselhaft und ist es auch. Denn die Formen, in denen sich die Menschen das zurechtlegen, was wir heute als ›zukünftig‹ bezeichnen, sind zu verschiedenen Zeiten verschieden gewesen. Sie sind auch heute noch für uns zu verworren, als dass wir sie leicht verstehen könnten. Denn bis vor wenigen Jahrzehnten hat sich die historische Forschung noch kaum mit diesem Thema beschäftigt. [4]

Jedenfalls ist die Vorstellung von der Zukunft als einem einheitlichen geschichtlichen Zeitraum, gemessen am Alter der uns bekannten Geschichte der Menschheit, noch relativ jung. Sie bildete sich erst im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts in Westeuropa und hängt eng mit dem neuzeitlichen Konzept der Geschichte zusammen, mit dem es auch, von den Zeitgenossen weitgehend unbemerkt, entstanden ist. Denn es gibt niemanden, der das Konzept der Zukunft erfunden oder entdeckt hätte. Zu selbstverständlich sind den Menschen zu allen Zeiten ihre Zeitvorstellungen gewesen, als dass sie deren Wandel bewusst registriert oder gar konzipiert hätten.

Seitdem die Zukunft allerdings einmal entdeckt worden ist, hat sie auch eine Geschichte. Bei deren Rekonstruktion geht es im Folgenden nicht allein um die Fülle konkreter Zukunftsvorstellungen, die zu verschiedenen Zeiten, bei verschiedenen Menschen und hinsichtlich verschiedener Gegenstände bestanden haben. Zwar wird auch von ihnen zu berichten sein. Aber sie vollständig zu sammeln und in eine geschichtliche Ordnung zu bringen gäbe einen schier unendlichen Stoff. Vielmehr geht es hier in erster Linie um das historische Konzept der Zukunft selbst, um die allgemeinen Strukturen, in denen die Zukunft zu verschiedenen Zeiten entworfen wurde, sowie um den Wandel dieser geschichtlichen Strukturen.

Die historische Beschreibung des Wandels des Zukunftskonzepts basiert deshalb von vornherein auf einer Hypothese, die durch die Darstellung erhärtet werden soll: der Annahme nämlich, dass die Fähigkeit, sich selbst in eine Zukunft hinein zu entwerfen, keine anthropologische Konstante, keine Vorgegebenheit menschlicher Existenz schlechthin ist, sondern eine historisch spezifische Denkform. [5] Wir wissen zwar nicht, wie lange diese Form noch bestehen wird, aber wir können erkennen, wie und wann sie entstanden ist.

Gegen den hier genutzten sprachgeschichtlichen Zugriff könnte man einwenden, dass es neben dem sprachlich expliziten auch einen weit älteren impliziten Bezug auf Zukünftiges gibt, der sich jenseits aller sprachlichen Artikulationen im Handeln der Menschen selbst zeigt. Der mittelalterliche Kaufmann, der sein Schiff übers Meer schickte, damit es ihm nach verstrichener Frist Waren aus Übersee bringt; der antike Bauingenieur von Dämmen gegen kommende Fluten, sie mussten das Zukünftige, das sie erhofften oder fürchteten, nicht aussprechen: In ihrem Handeln war es immer schon impliziert. Das ist wohl wahr und soll hier nicht bestritten werden. Doch unabhängig davon, dass alles Denken und Handeln von Menschen faktisch in der Zeit stattfindet, ist die Fähigkeit, dieses in die Zukunft und in die Vergangenheit hinein zu entwerfen, doch eine historisch spezifische Denkform. So bleibt in den genannten Beispielen auch unklar, wie das Zukünftige vorgestellt wurde, solange in den Quellen nicht Fristen genannt, Maßnahmen terminiert, Gefahren beschrieben werden. Zu dem allen ist Sprache nötig, in der die intentionale Bezugnahme des Handelnden auf Zukünftiges allererst hergestellt werden kann. Solange die sprachliche Artikulation in den Quellen fehlt, sieht sich der moderne Historiker genötigt, den intentionalen Bezug der einstigen Akteure projektiv mit seinen eigenen sprachlichen Mitteln herzustellen.

Wir werden uns in dieser knappen Darstellung auf Weniges beschränken müssen: Fast unberührt bleibt z. B. die Vielzahl der Konzepte, mit denen sich vormoderne und außereuropäische Gesellschaften ihre je eigene Vorstellung von zukünftigen Dingen gebildet haben. Manche Sprachen wie etwa das Deutsche verfügten im Mittelalter noch nicht einmal über die Zeitform des Futur, um von zukünftigen Dingen zu sprechen. Nur um die Neuartigkeit des neuzeitlichen Zukunftskonzepts anzudeuten, werden deshalb in den ersten Kapiteln, mehr fragend als beschreibend, die Zukunftsvorstellungen mittelalterlicher Gesellschaften kurz in den Blick treten. Doch auch im Hinblick auf die letzten drei Jahrhunderte kommt es dieser Studie vor allem darauf an, anhand einer Reihe prominenter und gesellschaftspolitisch einflussreicher Zukunftsentwürfe einige bemerkenswerte Züge herauszuarbeiten, die den Wandel des neuzeitlichen Zukunftskonzepts bis heute bestimmen:

Dabei wird sich erstens herausstellen, dass die gesellschaftliche Beschäftigung mit der Zukunft nicht zu allen Zeiten und auf allen Feldern des Wissens mit gleicher Intensität betrieben wurde. Es gab Zeiten und auch Themen verstärkten Interesses für das, was die Zukunft an neuen Zuständen, Ereignissen und Erfahrungen im guten wie im bösen Sinne bringen würde, sowie Zeiten und Themen, in bzw. bei denen man der Zukunft gegenüber gleichgültiger war, ja sogar solche, in und bei denen eine ausgesprochene Abneigung gegen ihre Voraussage vorherrschte. Und es ist sonderbar zu beobachten, wie sich in den letzten beiden Jahrhunderten einerseits das Spektrum der Aufmerksamkeit für die Zukunft der Dinge kontinuierlich ausweitete, sich andererseits Zeiten der Zu- und Abwendung von der Zukunft in rhythmischen Konjunkturen von fast gleicher Länge abgelöst haben. Deshalb gliedert sich die folgende Darstellung in ihrem Hauptteil seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert in vier größere Epochenabschnitte von jeweils etwa 60 Jahren oder zwei Generationen.

Zweitens wird sich zeigen, dass die Zukunft als gesellschaftlicher Erwartungszeitraum im Laufe der Zeit sowohl Phasen der Erweiterung als auch solche der Verengung durchlaufen hat: Das heißt, bald schien sich die Zukunft den Zeitgenossen extrem zu verkürzen, der Zeitablauf zu beschleunigen, bis hin zur Erwartung einer nahen kosmischen, religiösen oder sozialen Katastrophe, bald aber auch enorm zu erweitern. Die zeitliche »Tiefe« dieses geschichtlichen Erwartungszeitraums – bei der Vergangenheit würden wir von deren »Alter« sprechen – variierte dabei immer spezifisch zum Gegenstand, auf dessen Wandel sich die Erwartung richtete. Sie fällt auch heute noch gewöhnlich größer aus, wenn wir gesellschaftliche Institutionen im Vergleich zur Lebenserwartung des Einzelnen betrachten, noch größer hinsichtlich des Wandels menschlicher Kulturen, von Wetter, natürlichen Ressourcen und der Gestalt unserer Erde überhaupt oder schließlich gar hinsichtlich der Zukunft des Weltalls insgesamt.

All diese gegenstandsspezifischen Erwartungszeiträume haben sich im Laufe der Zeit stark verändert und werden sich aller Voraussicht nach auch in Zukunft weiter verändern. Der Zeithorizont des naturwissenschaftlichen Weltbilds etwa war, wie noch im Einzelnen zu zeigen sein wird, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einer fast kontinuierlichen Expansion begriffen, er scheint seit einiger Zeit jedoch eher zu stagnieren. Dies gilt auch für viele gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch in Zeiträumen von Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden entworfen wurden, während heute oft schon der Zeitraum des kommenden Jahrhunderts kaum noch überschaubar erscheint. Der Erwartungszeitraum einer Gesellschaft erstreckt sich also je nach dessen Gegenstand in eine unterschiedliche Tiefe, doch die verschiedenen Erwartungszeiträume stehen dabei auch in zeittypischen Zusammenhängen miteinander.

Drittens schließlich ist nicht zu übersehen, dass die Erforschung der Zukunft im Laufe vor allem der letzten fünfzig Jahre immer komplexer, und das heißt sowohl sachlich detaillierter als auch methodisch aufwendiger, geworden ist. Seit dem Zweiten Weltkrieg wird die Erforschung der Zukunft immer aufwendiger und methodisch reflektierter betrieben. Die Zukunftswissenschaft ist ins Zentrum der gesellschaftlichen Wissensorganisation überhaupt getreten. Diese historische Überblicksdarstellung ist selbst ein Teil ihrer selbstreflexiven Wende geworden, deren Rückwirkung auf die Gestaltung von Natur und Gesellschaft es zu bedenken gilt. Das bedeutet nicht, dass wir heute tatsächlich mehr über die Zukunft wissen als früher. Denn die Menge existierender Prognosen nimmt zwar ständig zu, aber viele erweisen sich als falsch und werden immer wieder durch neue ersetzt. Zudem wandeln sich mit den prognostizierten Zuständen und Ereignissen auch die Parameter unserer Prognosen, d. h. die ihnen zugrunde liegenden Daten, Fragestellungen und Werturteile, und entwerten auch damit einen Großteil derselben.

Gleichwohl gilt vermutlich, dass die Fülle des vermeintlichen Zukunftswissens heute in den modernen Gesellschaften ungleich größer ist als zu irgendeinem früheren Zeitpunkt in irgendeiner Gesellschaft und dass politische Entscheidungsprozesse deshalb heute unter einem unvergleichlich höheren Druck stehen, sich dieses Wissen nutzbar zu machen bzw. sich ihm gegenüber zu behaupten. Dadurch gewinnt das Problem zunehmend an Bedeutung, wie sich moderne Gesellschaften gegenüber solchen »Sachzwängen« den nötigen Handlungsspielraum für freie Entscheidungen verschaffen können, ohne sie irrational zu gestalten.

In dieser Situation ist es nützlich, daran zu erinnern, dass der Begriff der ›Zukunft‹ schon immer doppeldeutig gewesen ist, indem er zwei äußerst heterogene, ja geradezu widersprüchliche Vorstellungen miteinander verknüpft: einerseits die Vorstellung, dass sich die Dinge, die wir erwarten, aus der Vergangenheit und Gegenwart ableiten lassen, andererseits die gerade umgekehrte Vorstellung, dass diese, wie schon das Wort selbst sagt, aus der Zukunft auf uns »zukommen«. Seit ihrer Entdeckung ist die Zukunft deshalb sowohl programmatisch von einem angestrebten Ziel bzw. prophetisch von einem vorausgesetzten Ende der Geschichte her als auch prognostisch von der Vergangenheit und Gegenwart aus entworfen worden.

Immer wieder haben utopische und apokalyptische Zukunftsentwürfe die rationale Erforschung der Zukunft nicht nur durchkreuzt, sondern auch sinnvoll korrigiert. Dabei handelt es sich nicht um einen Überhang archaischer Denkstrukturen, wie man in vermeintlich »aufgeklärter« Perspektive auf die Welt meinen könnte, sondern um ein Erbe der Aufklärung selbst. Bilder vom guten und schlechten Leben, wie sie Ernst Bloch im »Prinzip Hoffnung« (1959) nachgezeichnet hat, scheinen auch heute noch unerlässlich, damit die prognostizierte Zukunft für uns auch künftig akzeptabel bleibt. Beides, Prognose und Programm bzw. Prophetie, gehörte nicht nur von Anfang an zum Konzept der ›Zukunft‹, sondern beide sind in ihm auch zu einer unauflösbaren Einheit verschmolzen.

ERSTER TEIL

Auf dem Weg zur Moderne

Der mittelalterliche Zukunftshorizont
und sein Ende

›Zukunft‹ nennen wir gewöhnlich die vor uns liegende Zeit. Was sie bringen wird, ist eine schwer zu beantwortende, aber nach der Meinung vieler uralte Frage der Menschen. Deshalb erscheint eine historische Darstellung vergangener Vorstellungen von der Zukunft zunächst als eine methodisch zwar schwierige, aber begrifflich einfache Aufgabe. Doch das ist nicht der Fall. Denn erstens verfügten in früheren Zeiten keineswegs alle Gesellschaften über die nötigen sprachlichen Werkzeuge, um überhaupt von der Zukunft zu reden: Das macht die Interpretation der Quellen schwierig. Zweitens ist aber auch unser eigener, neuzeitlicher Begriff der ›Zukunft‹ vieldeutig: Zunächst bezeichnete er überhaupt nur die Ankunft, dann die Bestimmung des Menschen nach seinem Tode, erst dann auch die Zukunft des Menschen hier auf Erden. Und heute spricht man nicht mehr nur von ›der Zukunft‹, sondern in einem noch näher zu diskutierenden Sinn auch von den vielen ›Zukünften‹ einer Gesellschaft.

Eine weitere Schwierigkeit des Zukunftsbegriffs liegt darin, dass wir von der Zukunft sowohl im objektiven Sinne dessen, was tatsächlich geschehen wird, als auch im subjektiven Sinne der Vorstellungen, die wir uns von der Zukunft machen, sprechen können. Im ersten Sinne ist die Zukunft eine Realität jenseits unserer eigenen, zeitgebundenen Existenz, im zweiten ist sie eine bloße Vorstellung, gerade als solche allerdings ein wesentlicher Teil unserer grundsätzlich auf Zukunft ausgerichteten Existenz.

In der folgenden Untersuchung können wir auf keines der beiden Konzepte verzichten: Denn ohne den subjektiven Zukunftsbegriff würden wir die Geschichte um die Dimension des bloß Vorgestellten und Eingebildeten bringen und sie auf das reduzieren, was tatsächlich geschah. Damit verlören wir den Blick für den realen Zusammenhang zwischen menschlicher Voraussicht und historischem Wandel und damit für die realen Folgen unserer Zukunftsentwürfe.

Ohne den Begriff einer objektiven Zukunft hingegen würden wir alle Zukunftserwartungen, und seien sie auch noch so realistisch, zu bloßen Einbildungen degradieren und die Geschichte damit auf eine Folge von Gegenwarten reduzieren. Für eine realistische Betrachtung der Geschichte ist es jedoch wesentlich, die Zukunft nicht nur als gegenwärtigen Entwurf, sondern zugleich auch als antizipierte Realität zu denken. Denn sonst übersähen wir die Tatsache, dass wir das, was kommen wird, bei aller Fehlerhaftigkeit doch auch zum Teil zutreffend voraussagen können.

Wer sich mit vergangenen Zukunftsvorstellungen beschäftigt, stößt also schnell auf eine verwirrende Fülle ganz unterschiedlicher Zukunftsbegriffe. Jede historische Fragestellung birgt deshalb schon eine Vorentscheidung in sich – so auch diejenige, die in diesem ersten Kapitel verfolgt werden soll: Was erwartete die mittelalterliche Gesellschaft von der Zukunft?

Was wir über die Zukunftsvorstellungen des Mittelalters wissen, ist noch immer dürftig. [1] Bezogen auf das Leben jedes einzelnen bildete zweifellos das Fegefeuer, eine Zeit der Prüfung und der Läuterung der Seele nach dem Tod, eine höchst wirkungsvolle Zukunftsvorstellung. [2] Darüber hinaus rechneten Christen mit der kommenden Wiederkehr Christi auf Erden, eventuell auch mit einem tausendjährigen Reich, jedenfalls mit dem dann folgenden Endgericht am »Jüngsten Tag«. Aber schon wann dies stattfinden würde, war unklar: vermutlich, so glaubte man, in nicht allzu weiter Ferne, denn sonst müssten die Gestorbenen noch länger bis zur Erlösung warten, und Christus hatte doch angekündigt, er würde schon bald wiederkehren.

Und diesseits dieser letzten Zeit? Es ist auffallend, wie wenig wir aus den Quellen über die innerweltlichen Erwartungen der Menschen im Mittelalter erfahren, und angesichts der Fülle und Vielfalt der überlieferten Quellen dürfen wir den Grund nicht in deren Lückenhaftigkeit suchen. Vielmehr scheint es zweifelhaft, dass die mittelalterliche Gesellschaft überhaupt schon in dem Sinne eine Zukunft vor sich wusste, wie wir dies in der Neuzeit gewohnt sind.

Wie aber ist dies zu denken? Ist es überhaupt vorstellbar, dass Menschen, zu welchen Zeiten auch immer sie leben mögen, keine Zukunft kennen? Welchen Sinn, so könnte man einwenden, hätte dann die Vorsorge für kommende Zeiten, der Bau von festen Häusern, gar von Kathedralen gehabt, an denen man immerhin Jahrzehnte, manchmal sogar über hundert Jahre lang baute? Kurzum, was meint man, wenn man behauptet, die Zukunft sei im Mittelalter eine andere beziehungsweise noch überhaupt nicht in dem Sinne vorhanden gewesen wie in der Neuzeit: und zwar anders nicht nur in den konkreten Vorstellungen, die man sich von ihr bildete – das wäre ja eine triviale Feststellung –, sondern anders im grundsätzlichen Sinne der Vorstellung von einer Zukunft überhaupt, die man vor sich wusste?

Wenn wir von der Zukunft des Mittelalters sprechen, dann soll dies hier also in einem exakten, die temporalen Bewusstseinsformen der Zeitgenossen selbst einbeziehenden Form geschehen. Da ist es dann nicht damit getan, im Sinne anthropologischer Vorannahmen ganz allgemein von der Fähigkeit des Menschen zur Vorsorge zu sprechen, oder auch nur, ihm im Sinne heutiger oder zeitgenössischer Diskurse ein allgemeines Kontingenzbewusstsein zuzuschreiben. [3] Zum Zukunftshandeln wie zum Zukunftsbewusstsein gehören vielmehr unablösbar auch die sprachlichen Zeitformen menschlicher Zukunftsreflexion. Denn Zukunft ist eine Reflexionskategorie, die den zeitlichen Bezug, von dem sie handelt, allererst reflektierend herstellt. [4]

Die Zukunft als Zeitraum

Neu ist in der Neuzeit, das muss hier noch einmal betont werden, nicht in erster Linie die Rede von zukünftigen Dingen überhaupt: Für die Fülle der kommenden Ereignisse gab es schon in den klassischen Sprachen nicht nur konkrete Begriffe (zum Beispiel ›to mellon‹ im Griechischen, ›futurum‹ im Lateinischen) und grammatikalische Formen (das sogenannte ›Futur‹), auch ausgefeilte Techniken der Voraussage (Orakel, Prophezeiungen und so weiter). Neu ist auch nicht das Bewusstsein von der qualitativen Andersartigkeit der Zukunft gegenüber der Vergangenheit, [5] obwohl sich auch dieses erst in der Neuzeit allgemein durchgesetzt hat. Denn bis heute hat sich auch ein Bewusstsein von der strukturellen Gleichartigkeit dessen, was war, und dessen, was kommen wird, erhalten. Neu ist vielmehr die Vorstellung von der Zukunft als einem Zeitraum, in dem sich all diese Dinge ereignen werden beziehungsweise in dem sie als solche vorgestellt werden. Vor Beginn der Neuzeit hingen sie in der Vorstellung der Zeitgenossen einfach nicht in gleicher Weise zusammen wie heute. Sie bildeten kein zusammenhängendes Ganzes, füllten keinen kohärenten Zeit-Raum.

Das erscheint uns heute umso überraschender, als uns die Vorstellung von der Zukunft als Zeitraum ebenso selbstverständlich geworden ist wie diejenige, dass Vergangenheit und Gegenwart, ja die Geschichte insgesamt einen einheitlichen Zeitraum bilden. Deshalb lohnt es sich, den Sachverhalt an einem Beispiel zu verdeutlichen: Augustins berühmter Analyse dessen, was Zeit ist, im 11. Buch seiner »Bekenntnisse«. [6]

Die Zeit, genauer: das Verhältnis von Vergangenem (praeteritum), Gegenwärtigem (praesens) und Zukünftigem (futurum) barg für Augustin ein nur schwer aufzulösendes Problem in sich: Denn, so beobachtete er, was erst zukünftig sein wird, das »ist« doch noch nicht, und das Vergangene »ist« nicht mehr. Aus welchem »Versteck« also tritt das Zukünftige hervor, wenn es gegenwärtig wird, und in welches »Versteck« verschwindet dieses wieder, wenn es vergeht?

Schon die Frage klingt in unseren Ohren befremdlich. Dies liegt daran, dass Augustin noch über keine Begriffe von der Zukunft beziehungsweise Vergangenheit als Zeiträumen verfügte, in denen etwas seinen zeitlichen »Ort« haben konnte. Unter ›futurum‹ verstand er immer nur das einzelne zukünftige Ding oder Ereignis, nie den Zeitraum. Das ist schon daran zu erkennen, dass er häufig auch die Pluralform ›futura‹ verwendete, welche nur im Sinne einzelner zukünftiger Ereignisse sinnvoll ist. Denn der moderne Begriff der ›Zukunft‹ im Sinne eines Zeitraums lässt die Bildung einer Mehrzahl nicht zu. Doch was wir an Augustins Sprachgebrauch beobachten, gilt von den lateinisch schreibenden Autoren des Mittelalters überhaupt: Wann immer in mittelalterlichen Texten von ›futura‹ die Rede ist, sind immer die »zukünftigen Ereignisse« gemeint, nie der Zeitraum der Zukunft als solcher.

Dass uns Augustins Problem mit der Zeit heute befremdlich erscheint, hat zwar auch noch andere Gründe, von denen im nächsten Kapitel die Rede sein wird. Aber schon der sprachgeschichtliche Befund als solcher reizt dazu, sich zu vergegenwärtigen, wie sich eine Gesellschaft in der Welt orientierte, die noch nicht über die modernen Konzepte geschichtlicher Zeiträume verfügte. Die Konsequenzen sind in der Tat erstaunlich und für das moderne Geschichtsbewusstsein äußerst befremdlich:

So können Ereignisse, die früher einmal stattgefunden hatten, für die Menschen im Mittelalter eigentlich gar nicht an sich, sondern nur in der Erinnerung derer existiert haben, die sie überlieferten. Denn die Vorstellung von der historischen Realität vergangener Ereignisse setzt eben, wie schon Augustin zu Recht bemerkte, die Kenntnis eines Ortes voraus, an dem sie existieren. Nach heutigem Verständnis ist dies der Zeitraum der Vergangenheit, den alle vergangenen Ereignisse miteinander teilen. Ebenso wenig können Menschen, die in keinem konkreten sozialen Zusammenhang zueinander standen, selbst in ihrer eigenen Gegenwart das Gefühl gehabt haben, »gleichzeitig« zu leben. Denn auch die Gleichzeitigkeit setzt die Vorstellung von einem Zeitraum voraus, in dem Menschen miteinander leben und handeln. [7]

Solche Folgerungen sind auch unter sozialgeschichtlichen Gesichtspunkten nicht ganz so unsinnig, wie sie zunächst erscheinen mögen. Denn nur wo Menschen miteinander etwas teilen, ein gemeinsames Schicksal haben, bildet sich empirisch so etwas wie ein gemeinsamer Zeithorizont. Wo sie dagegen, wie vor allem im frühen Mittelalter, noch meist über weite, kommunikativ wenig verbundene Räume verstreut lebten, ist es nicht schwer sich vorzustellen, dass sie das Gefühl hatten, mit anderen Menschen, die jenseits ihres Erfahrungshorizonts wohnten, weder im selben Raum noch in derselben Zeit zu leben. [8] Zwar gab es auch im Mittelalter schon volkreiche Städte und weiträumige Kontakte zwischen Klöstern, Höfen und Handelsniederlassungen. Aber dies reichte zur Entwicklung und vor allem zur Durchsetzung weiträumiger und langfristiger Ordnungskonzepte von Raum und Zeit noch nicht aus. Dies lässt sich zum Beispiel an der verwirrenden Geschichte der christlichen Chronologie ablesen, welche bis weit in die frühe Neuzeit hinein selbst in Westeuropa, dem Herrschaftsbereich der katholischen Kirche, immer neuen Reformen und regionalen Verschiebungen unterworfen blieb. [9]

Im frühen Mittelalter reichte der Blick der Zeitgenossen erst ganz punktuell über die nächste Zukunft hinaus. Ein solches Feld kalendarischer Vorausschau war etwa seit dem 6. Jahrhundert die Festlegung des Ostertermins über den Zeitraum der nächsten hundert Jahre hinaus. Auch astronomische Prognosen zu Sonnen- und Mondfinsternissen griffen schon erstaunlich weit in die Zukunft hinein. Doch dies waren damals noch ganz isolierte Wissensgebiete, die keinen allgemeinen Begriff von der Zukunft als einem universellen Zeitraum freigaben. Eine gemeinsame Zeit- und Raumerfahrung bestand, so muss man daraus schließen, im frühen Mittelalter nur in der konkreten Form sozialer Beziehungen, die einer bestimmten räumlichen oder zeitlichen Ordnung unterworfen waren. Der Zeitraum entstand und »wuchs« gewissermaßen mit ihnen, und zwar als konkretes Geflecht sozialer Beziehungen, nicht als abstraktes Konzept. [10]

Mittelalterliche Epen und Romane unterstützen diese Vermutung: Wer sich im Mittelalter auf Reisen von Ort zu Ort bewegte, scheint mit dem Ort zugleich auch den Zeitraum gewechselt zu haben. Und dieser Wechsel geschah, wie wir bei der Lektüre frühmittelalterlicher Dichtungen mit Erstaunen wahrnehmen, offenbar mit einer Leichtigkeit, die meist nichts von den Mühen und Strapazen ahnen lässt, die nach unseren Maßstäben das Reisen damals eigentlich mit sich gebracht haben muss. In der ältesten uns überlieferten deutschsprachigen Literatur, etwa im »Parzival« Wolframs von Eschenbach (um 1200), überrascht den modernen Leser dieser scheinbar leichte Wechsel von Ort zu Ort immer wieder aufs Neue: Scheinbar mühelos begegnen wir Parzival bald in Frankreich, bald in Spanien oder in England, wie von Zauberhand geleitet, überbrückt er die weiten Distanzen innerhalb und zwischen den Ländern.

Ebenso verwirrend wie die leichte Überwindung räumlicher ist aber auch die Überbrückung zeitlicher Distanzen: Die Dauer von Reisen etwa spielte in der Erfahrungswelt des frühen Mittelalters offenbar eine nur geringe Rolle, jedenfalls erfahren wir von ihr nur dann etwas, wenn sie als Erfahrung für den Gang der Geschichte von Bedeutung ist. Doch auffallender noch ist der scheinbare Sprung zwischen verschiedenen Zeiträumen, in denen ein und derselbe Mensch damals je nach dem sozialen (beziehungsweise mythologischen) Umfeld, in dem er sich bewegte, leben konnte. So bewegt sich Parzival in der Dichtung Wolframs von Eschenbach bald in einer heidnischen Vorzeit, bald in einer christlich geprägten Gegenwart. Die für uns selbstverständliche Einheit von Raum und Zeit zerbröckelt in der Erzählung gewissermaßen unter den Augen des neuzeitlichen Lesers.

Man könnte vermuten, dass dies mit dem mythisch-religiösen Bezugsrahmen der Erzählung zusammenhängt, die vielleicht so etwas wie eine einheitliche Zeitorientierung nicht zuließ. Möglicherweise zerstörte schon im Frühmittelalter die Konfrontation des neuen christlichen mit den älteren heidnischen Kulten tatsächlich das mythologische Raum-Zeit-Kontinuum der heidnischen Götterwelt, wie es in späteren literarischen Verarbeitungen, etwa den »Nebeln von Avalon« von Marion Zimmer Bradley (1982) oder der Parzival-Nachdichtung von Friedrich de la Motte Fouqué (1832), unterstellt wird. Ihnen zufolge haben die Menschen im frühen Mittelalter für eine lange Übergangszeit, in welcher heidnische und christliche Kulte nebeneinander bestanden, in einer Art von Doppelwelt gelebt, in der sie zwischen verschiedenen »Zeiträumen« hin- und herwandern konnten. Möglicherweise ist aber auch dies nur eine moderne literarische Form, sich heute das Unbegreifliche begreifbar zu machen, nämlich die Tatsache, dass das Mittelalter noch überhaupt nicht über ein Raum-Zeit-Kontinuum, sondern nur über die Vorstellung einer auf das Endgericht ausgerichteten Heilsgeschichte verfügte.

Die Schwierigkeit der Bewegung durch Raum und Zeit lag für die Menschen im frühen und hohen Mittelalter, so ist zu vermuten, wohl nicht allein in der Größe der räumlichen und zeitlichen Distanzen, sondern auch im Wechsel der sozialen und geistigen Zusammenhänge, die sie zu überwinden hatten. Sollte dies zutreffen, so war in der früh- und hochmittelalterlichen Erfahrungswelt alles »nah«, was irgendwie sozial und geistig miteinander in Kontakt stand, und sei es selbst der ferne Kaiser von Byzanz, und alles »fern«, was wenig miteinander gemein hatte, und läge es auch bloß wie der Wohnsitz des Zauberers Merlin im nahe gelegenen Zauberwald.

Es ist nicht ohne Reiz, solche Raum- und Zeitvorstellungen auf geschichtliche Vorgänge zu übertragen. Was für Vorstellungen, so kann man spekulieren, mögen sich etwa die Normannen von den geographischen Räumen gemacht haben, die sie überwanden, als sie im 9. Jahrhundert zuerst nach Island und dann um das Jahr 1000 nach Grönland und Amerika übersetzten? Wir wissen es nicht, können jedoch annehmen, dass sie sich dabei noch nicht wie die Spanier bei ihrer Entdeckung Amerikas 500 Jahre später auf die Vorstellung von einem kontinuierlichen Raum-Zeit-Kontinuum stützten. Denn sonst wäre wohl schon damals die Revolutionierung der Erdgeographie in Gang gekommen, die zu Beginn der Neuzeit die gesamte Weltanschauung Europas auf neue Grundlagen stellte. Wahrscheinlicher ist, dass die Normannen mit ihren neuen, starken Schiffen in eine Art von räumlichem und zeitlichem Nichts hinausfuhren, gewissermaßen aus der Welt hinaus in eine andere Welt, aus der die Rückkehr ungewiss und jedenfalls zeitlich kaum zu bemessen war.

Doch wie dem auch gewesen sein mag, kaum zu bezweifeln ist, dass sich das uns vertraute Raum-Zeit-Kontinuum in der europäischen Gesellschaft erst seit dem 13. Jahrhundert ausgebildet hat. [11] Das Leben der Menschen wurde jetzt durch eine Vielzahl paralleler Zeitordnungen rhythmisch gegliedert: so zum Beispiel durch die liturgische Zeitordnung der Kirchen und Klöster, die kommerzielle Zeitordnung der Märkte, die Verwaltungszeitordnung der Gerichte, die Unterrichtszeitordnung der Schulen und Universitäten, die naturale Zeitordnung der Feldarbeit und so weiter.

Die sozialen Zeitordnungen verflochten sich dabei offenbar immer mehr mit der Mythologie des Christentums als geistigem Parameter der Weltordnung. Die Bedeutung der religiösen Mythen für die Orientierung in Raum und Zeit wird uns eindrucksvoll durch die frühen chronologischen und kartographischen Aufrisse im Hoch- und Spätmittelalter vor Augen geführt, etwa von der »Historia ecclesiastica gentis Anglorum« (731) des englischen Mönchs Beda Venerabilis, der nach dem Vorbild der Ostertafeln des Dionysius Exiguus (525) als erster Historiker die Jahre mit Christi Geburt zu zählen begann, oder von der Ebsdorfer Weltkarte (Abb. 1), welche wahrscheinlich im 13. oder 14. Jahrhundert entstand. [12] In ihnen wurden nach den antiken Vorläufern zum ersten Mal so etwas wie »christliche« Zeiten und Räume konstruiert, deren realistische Weltkenntnisse allerdings noch überformt wurden von mythologischen Konzeptionen der Welteinheit.

Denn ebenso wie die Chronologie an der Geburt Christi als Ausgangspunkt aller irdischen Zeitrechnung, so richtete sich die Kartographie bis ins Spätmittelalter hinein noch häufig an Jerusalem als dem Mittelpunkt der Erde aus. Wichtig an diesen Weltgeschichten und Weltkarten ist, dass dies geschah, noch bevor man die konkreten Verhältnisse in den einzelnen historischen und geographischen Räumen so genau kannte, dass man die Welt in ihrer zeitlichen und räumlichen Ausdehnung tatsächlich realistisch und gewissermaßen lückenlos darzustellen vermochte. Es belegt die Notwendigkeit eines religiös-mythologischen Parameters für die Darstellung der Welt noch vor deren empirischer Erforschung.

Wie sich seit dem Hochmittelalter das neuzeitliche Raum-Zeit-Kontinuum, also die Vorstellung von einem kohärenten Welt- und Zeit-Raum etablierte, lässt sich auch an der Durchsetzung der Zentralperspektive in der europäischen Malerei seit dem 13. Jahrhundert ablesen. Der geographische Ursprung dieses Prozesses liegt, ebenso wie der anderer großer Erfindungen dieses Zeitraums, etwa der mechanischen Uhr, in dem spätmittelalterlichen Zivilisationsgürtel, der sich von Oberitalien über Nordfrankreich und Burgund bis nach Südengland zog. [13]

Im zentralperspektivisch konstruierten Bild bemaß sich die Bedeutung der dargestellten Gegenstände, anders als in der älteren mittelalterlichen Malerei, in erster Linie nach ihrer Stellung im Bildraum. Das heißt, der im Bild dargestellte räumliche Abstand zwischen den Bildobjekten wurde in ihr zu einem inhaltlich signifikanten Tatbestand: Wie der abgebildete Jäger gegenüber dem abgebildeten Wild, auf das er schoss, so wahrte auch der im Bild dargestellte Herrscher gegenüber dem Gesandten, den er empfing, und der Richter gegenüber dem Angeklagten, über den er zu Gericht saß, erst jetzt eine im Bild abmessbare räumliche Distanz. Diese Distanz wurde dadurch zu einem konstitutiven Faktor für die Beziehung zwischen beiden, so wie sie der Betrachter verstehen sollte. Der soziale Raum, der durch das Wesen der sozialen Beziehung zwischen ihnen konstituiert wurde, wurde aber nur dadurch darstellbar, dass er mit Hilfe der Zentralperspektive als Teil eines unendlichen Raum-Kontinuums dar- und vorgestellt wurde.

Mit dem Raum- entstand jedoch zugleich auch ein neues Zeit-Kontinuum. Denn durch die Art ihrer bildlichen Präsentation ließ sich eine solche soziale Szene nun gewissermaßen als eine im Augenblick angehaltene Bewegung verstehen. Sie wurde damit zum Ausschnitt aus einem imaginierten Zeitablauf, dessen Totalität sie im wesentlichen Höhepunkt, ihrem kairos, repräsentierte. Zukunft und Vergangenheit ließen sich aus dem dargestellten Augenblick ablesen. Diese »realistische« Auffassung von der bildlichen Repräsentation bewegter sozialer Szenen setzte sich zwar in der europäischen Malerei erst im Laufe der frühen Neuzeit allmählich durch; die theoretische Bedingung ihrer darstellerischen Möglichkeit wurde jedoch schon im Spätmittelalter mit der zentralperspektivischen Konstruktion eines homogenen Bildraums geschaffen.

 

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Abbildung 1 Spätmittelalterliche Weltkarten wie diejenige aus Ebsdorf stellten die damals bekannte Welt noch nicht im modernen Sinne geographisch »korrekt« dar, sondern konstruierten einen mythologischen »Raum« christlicher Weltorienterung, in dessen Mittelpunkt Jerusalem lag.

 

Es wäre wohl eine einseitig materialistische Sicht, solche Darstellungen zeitlicher und räumlicher Verhältnisse als bloßen Spiegel materieller Veränderungen in der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu deuten. Vielmehr gilt ebenso auch das Umgekehrte: Die neue Möglichkeit raum-zeitlicher Situierung im Bild machte auch eine neue Form der raum-zeitlichen Ordnung sozialer Vorgänge möglich. Die Veränderungen in der sozialen Welt selbst und solche in der raum-zeitlichen Vorstellung derselben müssen deshalb in wechselseitiger Abhängigkeit, als zwei Seiten derselben Medaille, gesehen werden. Dies gilt es im Auge zu behalten, wenn wir uns nun den konkreten Zukunftsvorstellungen des Mittelalters selbst zuwenden.

Zukunftsvorstellungen

Angesichts der unendlichen Fülle von Vorstellungen, die sich die Menschen zu allen Zeiten von ihrer Zukunft machen, muss sich die Darstellung auch hier auf sehr allgemeine Überlegungen und Eindrücke beschränken. Auf die Frage, was man in der vormodernen Gesellschaft Europas von der Zukunft hier auf Erden tatsächlich wusste, muss die Antwort zweifellos lauten: im Vergleich zu unserer eigenen Zeit relativ wenig. Zwar glaubten die Menschen subjektiv, weit mehr zu wissen als wir heute. Denn einer vor allem in gelehrten Kreisen verbreiteten Vorstellung vom Ablauf der Weltgeschichte zufolge wurde das, was in der Zukunft geschehen würde, schon durch die Vergangenheit »präfiguriert«, das heißt ideell vorweggenommen. Man stellte sich dabei vor, dass sich alles irdische Geschehen im Grundsätzlichen wiederhole, nur in Einzelheiten waren Abweichungen vorgesehen. Nach heutiger Auffassung irrten sich die Zeitgenossen allerdings über ihre Möglichkeit, die Zukunft vorauszusehen. Tatsächlich waren nämlich die Möglichkeiten, längerfristige Prognosen aufzustellen, noch sehr begrenzt. Die meisten zeitgenössischen Techniken der Zukunftserforschung stützten sich auf eine feste Zuordnung sichtbarer Zeichen wie des Vogelflugs und der Witterung zu bestimmten vorausgesagten Begebenheiten. [14] Auch sie beruhten auf der Annahme einer ewigen Wiederholung des Gleichen.

Das entsprach der alltäglichen Erfahrung. Denn das Leben der Menschen wurde noch in hohem Maße von kreislaufförmigen Prozessen bestimmt: In Kreisläufen vollzogen sich Aussaat und Ernte, die Folge der Kirchenfeste mit ihren feststehenden jahreszeitlichen Gebräuchen, die Folge der Lebensalter und das Zusammenleben der Generationen, die rituellen Regeln des Gebens und Nehmens bei der Eheschließung und der testamentarischen Vererbung, beim Abschluss ebenso wie bei der Verletzung von Verträgen bis hin zur Blutrache. Wie sich eine Ehe anbahnte, wie man dafür sorgte, dass die Ernte möglichst reich ausfiel, all dies und vieles andere war durch Herkommen und alte Erfahrungsregeln festgelegt. Wie in der Vergangenheit würden sich diese Dinge, davon konnte man ausgehen, auch in Zukunft gestalten. Eine Zukunft im modernen Sinne, das heißt im Sinne neuartiger, nicht bloß sich wiederholender Ereignisse, gab der Kreislauf des Lebens in der vormodernen Gesellschaft deshalb kaum frei.

Denn selbst in den großen Weltbegebenheiten ereignete sich, aus der Sicht der Zeitgenossen betrachtet, wenn die Dinge normal liefen, kaum etwas Neues: Der Sohn folgte dem Vater auf den Thron, der neue dem alten Rat in der Herrschaft über Republiken und Städte. Kriege folgten auf Friedenszeiten, Frieden auf Krieg, Reichtum auf Armut, Glück auf Unglück und umgekehrt. Andererseits, wenn die Dinge einmal nicht normal verliefen, so ließ sich ihr Ausgang überhaupt nicht mehr voraussehen, jedenfalls nicht mit den Mitteln gewöhnlicher Erfahrung: Welche Risiken eine unvorhergesehene Krankheit in sich barg, wann und mit Hilfe welcher Mittel die gegenwärtige Teuerung oder Epidemie einmal ein Ende haben würde, dies und vieles andere mehr lag in tiefstem Dunkel. Schicksalsschläge trafen die Menschen deshalb mit einer oft viel elementareren Gewalt als heute. [15] Sie wurden als unvermeidlich empfunden und als Ratschluss Gottes hingenommen.

Doch der Bedarf an Zukunftswissen war gleichwohl gerade im Bereich der außerordentlichen Begebenheiten, die nicht der ewigen Wiederkehr des Gleichen unterlagen, enorm groß. Gestillt wurde er in erster Linie durch Horoskope und Wahrsagungen: Die aus der arabischen Welt übernommene Technik der Horoskope beruhte auf einer Analogisierung von Vorgängen im Makrokosmos der Gestirne mit solchen aus dem Mikrokosmos der irdischen, vor allem der menschlichen Welt. Wahrsagungen dagegen schlossen gemäß einer alten autochthonen Tradition in der Regel aus bestimmten unregelmäßigen Erscheinungen in der Natur wie Blitz und Hagelschlag oder Missbildungen in der Tier- und Menschenwelt, auch aus außergewöhnlichen sozialen Erscheinungen wie Not und Teuerung auf außerordentliche kommende Ereignisse, »Gerichte« und »Offenbarungen« Gottes. Die großen Pestepidemien des mittleren 14. Jahrhunderts etwa wurden in den zeitgenössischen Stadtchroniken von einer großen Anzahl himmlischer Zeichen begleitet, die die Katastrophe ankündigten. [16]