KONRAD KLEK

Johann Sebastian Bachs
geistliche Kantaten erklärt

Band 1
Choralkantaten

Evangelische Verlagsanstalt
Leipzig

KONRAD KLEK,

Dr. theol., Jahrgang 1960, studierte Evangelische Theologie und Kirchenmusik und ist Professor für Kirchenmusik am Fachbereich Theologie sowie Universitätsmusikdirektor in Erlangen. Neben Noteneditionen hat er zahlreiche Publikationen zu Kirchenmusik und Hymnologie in Geschichte und Gegenwart vorgelegt, darunter Werkbesprechungen zu Bachs Messen und Passionen im Bach-Handbuch des Laaber-Verlags.

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Gesamtgestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

ISBN 978-3-374-04213-5

www.eva-leipzig.de

Inhalt

Cover

Titel

Konrad Klek

Impressum

Einführung

Johann Sebastian Bachs Choralkantatenzyklus 1724/25

Die Werküberlieferung und Bachs spätere Ergänzungen zum Choralkantatenzyklus

Bachs Lebensmotto in separat überlieferten Liedtextkantaten

Hinweise zu Methode und Darstellung der Kantatenauslegung

Glossar

Kantaten
Die im Zyklus 1724/25 komponierten Kantaten

BWV 20 O Ewigkeit, du Donnerwort 1. So nach Trinitatis

BWV 2 Ach Gott, vom Himmel sieh darein 2. So nach Trinitatis

BWV 7 Christ unser Herr zum Jordan kam Johannisfest 24. Juni

BWV 135 Ach Herr, mich armen Sünder 3. So nach Trinitatis

BWV 10 Meine Seel erhebt den Herren Mariae Heimsuchung 2. Juli

BWV 93 Wer nur den lieben Gott lässt walten 5. So nach Trinitatis

BWV 107 Was willst du dich betrüben 7. So nach Trinitatis

BWV 178 Wo Gott der Herr nicht bei uns hält 8. So nach Trinitatis

BWV 94 Was frag ich nach der Welt 9. So nach Trinitatis

BWV 101 Nimm von uns, Herr, du treuer Gott 10. So nach Trinitatis

BWV 113 Herr Jesu Christ, du höchstes Gut 11. So nach Trinitatis

BWV 33 Allein zu dir, Herr Jesu Christ 13. So nach Trinitatis

BWV 78 Jesu, der du meine Seele 14. So nach Trinitatis

BWV 99 Was Gott tut, das ist wohlgetan 15. So nach Trinitatis

BWV 8 Liebster Gott, wann werd ich sterben 16. So nach Trinitatis

BWV 130 Herr Gott, dich loben alle wir Michaelisfest 29. September

BWV 114 Ach lieben Christen, seid getrost 17. So nach Trinitatis

BWV 96 Herr Christ, der einge Gottessohn 18. So nach Trinitatis

BWV 5 Wo soll ich fliehen hin 19. So nach Trinitatis

BWV 180 Schmücke dich, o liebe Seele 20. So nach Trinitatis

BWV 38 Aus tiefer Not schrei ich zu dir 21. So nach Trinitatis

BWV 115 Mache dich, mein Geist, bereit 22. So nach Trinitatis

BWV 139 Wohl dem, der sich auf seinen Gott 23. So nach Trinitatis

BWV 26 Ach wie flüchtig, ach wie nichtig 24. So nach Trinitatis

BWV 116 Du Friedefürst, Herr Jesu Christ 25. So nach Trinitatis

BWV 62 Nun komm, der Heiden Heiland 1. Advent

BWV 91 Gelobet seist du, Jesu Christ Christfest 25. Dezember

BWV 121 Christum wir sollen loben schon Christfest II 26. Dezember

BWV 133 Ich freue mich in dir Christfest III 27. Dezember

BWV 122 Das neugeborne Kindelein So nach Weihnachten

BWV 41 Jesu, nun sei gepreiset Neujahr 1. Januar

BWV 123 Liebster Immanuel, Herzog der Frommen Epiphanias

BWV 124 Meinen Jesum lass ich nicht 1. So nach Epiphanias

BWV 3 Ach Gott, wie manches Herzeleid 2. So nach Epiphanias

BWV 111 Was mein Gott will, das gscheh allzeit 3. So nach Epiphanias

BWV 92 Ich hab in Gottes Herz und Sinn Septuagesimae

BWV 125 Mit Fried und Freud ich fahr dahin Mariae Reinigung 2. Februar

BWV 126 Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort Sexagesimae

BWV 127 Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott Estomihi

BWV 1 Wie schön leuchtet der Morgenstern Mariae Verkünd. 25. März

Exkurs: Die choralbezogenen neuen Sätze der Johannes-Passion 1725 Karfreitag

Zum Choralkantatenjahrgang später hinzugefügte Kantaten

BWV 4 Christ lag in Todesbanden Ostersonntag

BWV 128 Auf Christi Himmelfahrt allein Himmelfahrt

BWV 68 Also hat Gott die Welt geliebt Pfingstmontag

BWV 137 Lobe den Herren, den mächtigen König 12. So nach Trinitatis

BWV 129 Gelobet sei der Herr Trinitatis

BWV 112 Der Herr ist mein getreuer Hirt Misericordias Domini

BWV 140 Wachet auf, ruft uns die Stimme 27. So nach Trinitatis

BWV 177 Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ 4. So nach Trinitatis

BWV 9 Es ist das Heil uns kommen her 6. So nach Trinitatis

BWV 58 Ach Gott, wie manches Herzeleid So nach Neujahr

BWV 14 Wär Gott nicht mit uns diese Zeit 4. So nach Epiphanias

Nicht dem Choralkantatenjahrgang zugeordnete Kantaten

BWV 80 Ein feste Burg ist unser Gott Reformationsfest

BWV 117 Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut ohne Bestimmung

BWV 192 Nun danket alle Gott ohne Bestimmung

BWV 97 In allen meinen Taten ohne Bestimmung

BWV 100 Was Gott tut, das ist wohlgetan ohne Bestimmung

Die besprochenen Kantaten – in alphabetischer Reihenfolge

Weitere geplannte Bände

Einführung

Johann Sebastian Bachs Choralkantatenzyklus 1724/​25

Mit dem ersten Sonntag nach Trinitatis am 30. Mai 1723 hatte Bach seinen Dienst als Thomaskantor in Leipzig angetreten. Nun lieferte er Sonntag für Sonntag und an den diversen zusätzlichen Feiertagen eine Kantate als »Music«. Da beide Leipziger Hauptkirchen zu bedienen waren, gab es eine ausgeklügelte Regelung: Diese Musik zum Evangelium (über das auch gepredigt wurde) wechselte im vormittäglichen Hauptgottesdienst von Sonntag zu Sonntag zwischen Nikolaikirche und Thomaskirche, bei den Hochfesten hatte die Nikolaikirche als Sitz des Superintendenten Vorrang, sodass beim Christfest am 25.12. in St. Nikolai die Kantate erklang, am 26.12. in St. Thomas und am 27.12. wieder in St. Nikolai. Zum Ausgleich wurde an allen Festtagen (auch Neujahr, Epiphanias, Marienfeste etc.) die Kantate nachmittags im Vespergottesdienst der anderen Kirche nochmals geboten. (In diesem Gottesdienst gab es kein Abendmahl, gepredigt wurde zur Epistellesung.) Nur am dritten Feiertag, den es auch an Ostern und Pfingsten gab, erfolgte nachmittags keine Aufführung mehr.

In seinem ersten Leipziger Amtsjahr bemühte sich Bach, neben ambitionierten Neukompositionen möglichst viele seiner bereits vorliegenden Kantaten einzubringen, neben in Weimar seit 1714 in vierwöchigem Turnus komponierten Werken (z. T. in Erweiterungen) auch Sätze aus Köthener Kantaten, die der Umtextierung bedurften, da sie zur Fürstenhuldigung oder zum Neujahr – Staatsakt konzipiert worden waren. Entsprechend vielfältig ist das Spektrum der bis Trinitatis 1724 in Leipzig aufgeführten Kantaten. Wen Bach bei den Neukompositionen, Erweiterungen und Parodierungen als Partner für die Verfertigung der Kantatentexte hatte, ist ungeklärt. Die von Bach zum Druck gebrachten Texthefte mit jeweils fünf bis sieben Kantatenlibretti enthalten keine Autorenangaben. Die Librettisten lassen sich nur über anderweitige, namentlich gekennzeichnete Publikationen derselben Texte verifizieren, wie das etwa bei den Weimarer Libretti der Fall ist (S. Franck).

Mit Beginn seines zweiten Amtsjahres am 1. Trinitatissonntag 1724 startete Bach ein ambitioniertes Projekt, das in dieser Dimension einzigartig bleiben sollte. Jetzt entstand Sonntag für Sonntag eine neue Kantate nach bestimmtem Muster. Man spricht vom Choralkantatenjahrgang, da die Grundlage für das Libretto ein »Choral« bildet – heute spricht man vom Kirchenlied. Die Rahmenstrophen des Liedes werden mit Text und Melodie stets beibehalten, wobei Bach den Eingangssatz als groß angelegte Choralbearbeitung gestaltet und ans Ende in der Regel einen schlichten vierstimmigen Choralsatz stellt. Bei den Binnensätzen, die der modernen Kantatenform gemäß als Rezitative und Arien gestaltet sind, liegen meistens Lied-Umdichtungen vor, die sprachlich und inhaltlich Akzente setzen, weitere biblische Verweise integrieren und speziell Motive aus dem Evangelium des Tages aufgreifen. Dabei können einzelne Liedverse oder sprachliche Wendungen zitierend integriert werden. Ein spezielles, zeitweise bei Rezitativen praktiziertes Verfahren ist das der Tropierung, wo zu den originalen Liedstrophen zeilen- oder blockweise Ergänzungen des Librettisten hinzu treten. Hier ist Bach musikalisch gefordert, die Liedmelodie mit einzuflechten, während sonst bei Rezitativen und Arien kein Melodiebezug erforderlich ist. Gelegentlich kann eine Binnenstrophe auch unkommentiert als »Choral« stehenbleiben, dann ist eine Choralbearbeitung mit »Cantus firmus« fällig.

Ohne enge Zusammenarbeit zwischen Librettist und Komponist ist ein solches Projekt nicht denkbar. Viele Entscheidungen bei der Textgrundlage haben direkte musikalische Folgen, sofern sie die Liedmelodie ins Spiel bringen. Bereits die Liedwahl für die jeweilige Kantate wird in Absprache erfolgt sein, da die »Choräle« ja wesentlich durch ihre Melodie geprägt sind. Besondere Herausforderung war für Bach, im stets ambitioniert ausgearbeiteten Eingangssatz die moderne Form des Konzertsatzes mit der an einen »Cantus firmus« gebundenen Choralbearbeitung zu verknüpfen. Dass Bach auch inhaltliche Interessen an bestimmten Liedern eingebracht hat, ist wahrscheinlich.

Versucht man, bei der Liedauswahl hymnologische Tendenzen zu eruieren, lässt sich klar benennen: Martin Luther als Liedautor hat absoluten Vorrang. Acht der zunächst 40 Kantaten, also ein Fünftel, haben Lutherlieder zur Grundlage. Schon an Position 2 und 3 finden sich Lutherlieder – zum Evangelium des ersten Sonntags gab es einfach keines, sodass in beiden Kirchen programmatisch Luther am Anfang steht. Auch die festlich herausgehobene Zeit, Advent und Christfest, steht im Zeichen Luthers (1. Advent, Christfest I und II). Hier ist zudem von Bedeutung, dass alle drei Lieder Übertragungen älterer Vorlagen sind und so die ökumenische Dimension der gemeinsamen kirchlichen Singtradition verkörpern. Zum Ende des Zyklus gibt es an Mariae Reinigung und Sexagesimae nochmals eine Luther-Konzentration, die Passionsaufführung am Karfreitag 1725 endet mit Luthers Christe, du Lamm Gottes und an Ostern erklingt noch (zum Abendmahl) eine frühere Liedtextvertonung von Luthers Christ lag in Todesbanden.

Diesseits von Luther gibt es keine Schwerpunkte. Die anderen Liederdichter sind überwiegend nur einmal vertreten. Nur der Dichterfürst Johann Rist ist mit zwei Liedern dabei (1./​14. Sonntag nach Trinitatis) und eher zufällig Bartholomäus Ringwaldt (10./​11. Sonntag nach Trinitatis), da Nimm von uns Herr damals fälschlich als Ringwaldt-Lied galt. Anders als in der Literatur oft zu lesen spiegelt die Liedauswahl nicht den Kanon der altreformatorischen Lieder, wie er sich vom Babstschen Gesangbuch 1545 her ausprägt hatte. Das Spektrum reicht bis zu »Neuen Liedern«, sogar mit pietistischem Hintergrund (22./​23. Sonntag nach Trinitatis, Epiphanias). Interessant ist zudem um Neujahr die Konzentration von Dreiertakt-Melodien, wie sie der lutherischen Orthodoxie verdächtig waren. So ist auch melodisch das ganze Spektrum präsent von altem Hymnus (Nun komm der Heiden Heiland) über phrygische Luthermelodie (Aus tiefer Not) bis zu modern gefälliger Durmelodie (Ich freue mich in dir) und eben Dreiertakt (Liebster Immanuel). Das Choralkantatenprojekt widmet sich dem Kirchenlied also geradezu enzyklopädisch: Luther – auf der Basis seiner vorreformatorischen Grundlagen und die vielfältigen Folgen bis zur Gegenwart. Während das ab 1725 in Leipzig maßgebliche, neue Dreßdnische Gesangbuch mit 102 Paul Gerhardt-Liedern einen klaren neuen Schwerpunkt setzt, ist von solcher Gewichtung bei diesem Zyklus nichts zu erkennen.

Vermutlich bildete das 200-Jahr-Jubiläum des evangelischen Gesangbuchs im Jahr 1724 den für die Öffentlichkeit plausiblen Kontext für dieses Projekt, das ästhetisch eigentlich gegen den Zeittrend stand, der bei Kantaten auf die aus der Oper stammenden modernen Sprach- und Musikformen setzte (Rezitativ/​Arie). Mit den ersten Gesangbüchern des Jahres 1524, in denen über 20 Lutherlieder dominierten, war die Flut der protestantischen Lieddichtung in Gang gekommen. Reformationsjubiläen (z. B. 1717) hatten in Sachsen besondere identitätsstiftende Relevanz, da die Herrscherfamilie um der polnischen Königskrone willen 1697 zum Katholizismus konvertiert war. Zum Jubiläum 200 Jahre Einführung der Reformation in Leipzig 1739 sollte Bach dann Clavierübung III. Theil vorlegen, höchst komplexe Choralbearbeitungen für Orgel, in der Liedauswahl an Luthers Katechismus orientiert.

Auffallend ist, dass bei vielen Liedern des Choralkantatenzyklus die zeitgenössischen Gesangbücher eine Verwendung am hier bestimmten Sonntag nicht vorsehen in ihren Liedregistern. Von 40 Liedern ist bei 17, also fast der Hälfte, »eigenwillige Zuordnung« zu konstatieren. Die Liedauswahl setzt also inhaltlich eigene Akzente.

Die Unvollständigkeit des »Jahrgangs« hat viele Bachforscher beschäftigt. Statt nach einem vollen Jahr, also mit dem Trinitatissonntag, endet mit Mariae Verkündigung am 25. März Bachs regelmäßige Choralkantatenproduktion. Fünf Tage später am Karfreitag bringt er noch eine Variante der Johannes-Passion zur Aufführung, die mit choralbezogenen Rahmenchören deutlich den Bezug zum Zyklus herstellt. An Ostern erklingt noch die frühe Mühlhäuser Vertonung von Luthers großem Ostergesang, aber nicht mehr als »Hauptmusic«. Die Kantaten ab jetzt haben wieder zeittypische Libretti unterschiedlicher Herkunft als Textgrundlage.

Da spätere Choralkantaten oft reine Liedtextvertonungen sind, wurde vermutet, Bach sei der auf die Umdichtungen spezialisierte Librettist abhanden gekommen. So wurde in den Leipziger Sterberegistern geforscht und mit Andreas Stübel, ehemaliger Thomasschul-Konrektor, ein »passender« Sterbefall ausfindig gemacht (H. J. Schulze). Dieser Theologe starb am 31. Januar 1725 nach nur wenigen Tagen Krankheit. Er könnte demnach die Libretti für die noch folgenden fünf Kantaten vor seiner Erkrankung vorgelegt haben, zumal sie in dieser Größenordnung als Textbuch vorab gedruckt wurden. Da er dann nicht mehr zur Verfügung stand, musste Bach für die Kantaten ab Ostern sich anders orientieren. Gegen diese Hypothese spricht entschieden, dass Stübel bereits 1697 seines Amtes enthoben worden war wegen abseitiger Ansichten über das Weltende, die er auch in späteren Jahren weiter äußerte. Zeitereignisse deutete er apokalyptisch, identifizierte etwa den in Sachsen einbrechenden Schwedenkönig als »König vom Aufgang der Sonne« (Offenbarung 16,12). Eine untadelige Reputation erwarb er sich vielmehr durch altphilologische Editionen, Schulbücher und Lexika. Die theologische Qualität, die untadelige Orthodoxie und auch der seelsorgerliche Predigtcharakter der Choralkantatenlibretti stehen dem deutlich entgegen.

Dass dieser Zyklus gezielt auf 40 Kantaten angelegt worden sein könnte und gar keinen Torso darstellt, ist bisher nicht erwogen worden, lässt sich aber durchaus plausibel machen. Die letzte neue Choralkantate erklang am 25. März 1725, vier Tage zuvor beging Bach seinen 40. Geburtstag. So könnte dies ein dezidiertes »Projekt 40« zur Vollendung des 40. Lebensjahres sein! Da für Bach biblische Bilder und Symbole essentiell waren, wird ihm die biblische Bedeutung der 40 unmittelbar vor Augen gestanden haben: 40 Jahre Israel in der Wüste, 40 Tage Versuchung Jesu durch den Teufel, daher 40 Tage Fastenzeit vor Ostern, in Leipzig als Bußzeit profiliert durch das Schweigen der Kantatenmusik. Die bis zu dieser Bußzeit reichenden 40 Choralkantaten wären demgemäß als Bußakt zu deuten, mit welchem Bach zu seinem 40. Geburtstag als Sünder vor Gott tritt und um Gnade bittet, der er im Glauben durchaus gewiss sein kann. Der persönliche Ansatz von Bachs Kantatenschaffen erhellt ja bereits daraus, dass er den Zyklus nicht wie sonst bei Barockkomponisten üblich, mit dem Kirchenjahr am 1. Advent beginnt, sondern mit seinem eigenen Leipziger »Jahrgang«–Beginn am ersten Trinitatissonntag.

Die inhaltlichen Akzentsetzungen des Zyklus korrelieren mit der Bußakt – Hypothese. Die Kantatentexte artikulieren in vielen Varianten die Anfechtung der Gläubigen durch ihre eigene Schuld wie durch die Gottwidrigkeit der Welt, um in gut lutherischer Stoßrichtung unablässig und überdeutlich den Trost im Trostwort Jesu als »sola gratia« (»allein aus Gnaden«) zuzusprechen und Geduld als dem entsprechende christliche Tugend anzumahnen. Viele der Kantaten repräsentieren lutherische Bußpraxis in Sündenerkenntnis, Schuldbekenntnis, Verkündigung des Heils allein in Christus, Bitte um Gnade. Das zeigen exemplarisch die vier ersten Kantaten, bei denen Bach im Eingangssatz den Cantus firmus vom Sopran über Alt und Tenor in den Bass wandern lässt und sie so musikalisch markiert als Eröffnungsportal zum Zyklus.

Kantate 1 (BWV 20) – schonungslose Gerichtspredigt, Entlarvung des Menschen als Sünder.

Kantate 2 (BWV 2) – Bitte der Gemeinde um Erbarmen Gottes in der Anfechtung durch falsche Lehre, Mahnung zur Geduld in Kreuz und Not.

Kantate 3 (BWV 7) – Taufe als Thema des Johannisfests mit der Pointe: Menschen, glaubt doch dieser Gnade, dass ihr nicht in Sünden sterbt.

Kantate 4 (BWV 135) – Lied zum ersten Bußpsalm mit der Pointe Tröste mir, Jesu, mein Gemüte respektive mein Jesus tröstet mich (erste Kantate mit liturgisch »eigenwilliger Zuordnung«).

In der zweiten Hälfte der Trinitatiszeit häuft sich die ungewöhnliche Liedauswahl gerade mit weiteren Bußliedern (13./​14./​17. Sonntag nach Trinitatis), aber auch mit Liedern, die dezidiert den (einzigen) Trost im Glauben bekräftigen helfen: Ach lieben Christen, seid getrost (BWV 114, 17. Sonntag nach Trinitatis) schon in der Kopfzeile; mein treuer Heiland tröstet mich (BWV 5, 19. Sonntag nach Trinitatis, Satz 4); Gott ist mein Freund (BWV 135, 23. Sonntag nach Trinitatis, Satz 2) usw.

In Bachs musikalischer Umsetzung wird Heilswidriges stets mit drastischen musikalischen Mitteln gebrandmarkt (Harmonik, böse Sprünge in der Stimmführung), umso deutlicher aber auch der Trost musikalisch bereits erfahrbar, der in den Worten ja erst erbeten wird. Bachs Musik praktiziert darin Luthers »fröhliche Buße«, erschließt unter den Bedingungen des gottwidrigen Lebens »Gnaden=Gegenwart«, wie Bach es in einer Randglosse zu seiner Calov-Bibel benannt hat.

Für ein »Projekt 40« signifikant wäre auch, dass die zweite Kantate BWV 2 (das erste Lutherlied und die erste Kantate in der Thomaskirche) mit dem großen Kyrie-artigen Eingangssatz im Stile antico (typisch für Bußgesänge) genau 400 Takte hat. Dem korrespondiert mit 240 = 6x40 Takten am Zyklusende die Estomihi-Kantate BWV 127 (Sonntag vor der Passionszeit). Deren Eingangssatz spielt als originär Bachsche Formidee Christe, du Lamm Gottes, … erbarm dich unser ein. Am Karfreitag wird dann die Passionsaufführung mit dem expliziten … erbarm dich unser enden. Zudem ist die Estomihi-Kantate mit dieser Bitte um Erbarmen die letzte vor Bachs Vollendung seines 40. Lebensjahres. Den Gegenpol der klangprächtigsten Kantate mit ausladender Trompetteria stellt die Neujahrskantate BWV 41 mit 560 = 14x40 Takten. Anlass des Lobpreises ist hier, dass wir haben erlebet/​die neu fröhliche Zeit, die voller Gnaden schwebet/​und ewger Seligkeit. Das »neue Jahr« ist also als Gnadenzeit qualifiziert. Die Kantate am Tag zuvor endete mit Frisch auf! Itzt ist es Singens Zeit, das Jesulein wendt alles Leid. Man kann dies als spezielle Begründung für dieses Kantaten-Jahr zu Kirchenliedern lesen. Die Singenszeit des Gnadenjahres wird realisiert in 40 Liedkantaten, welche den christlichen Glauben in der Polarität des »simul justus et peccator« (Luther: zugleich gerecht wie Sünder) profilieren.

Wie alle barocke Predigt und Erbauungsliteratur letztlich der »Ars moriendi« dient, der Bereitung zu einem »seligen Sterben«, so kulminiert auch dieser Kantatenzyklus dahingehend. Namentlich im Umfeld des 2. Februar mit dem »Nunc dimittis« des greisen Simeon (und Luthers Lied dazu) als Zentraltext ist das getroste Sterben im Glauben fokussiert. Ungewöhnlich ist die Wahl des Sterbelieds Herr Jesu Christ, wahr Mensch und Gott für Estomihi, und Bach zaubert da bei der Arie Die Seele ruht in Jesu Händen … ich bin zum Sterben unerschrocken eine wahrhaft »zum Sterben schöne« Musik, welche die Hingabe des eigenen Lebens leicht macht. Bemerkenswert ist auch die (einzige) Paul Gerhardt-Liedkantate am Sonntag vor dem 2. Februar. Gegenüber sonst sechs oder sieben Sätzen hat sie neun und weist mit 620 die höchste Gesamttaktzahl auf. Schritt für Schritt erschließt sie, wie man zur Hingabe des Lebens kommen kann, und endet mit der vom Librettisten eingetragenen, expliziten Sterbebitte Amen: Vater, nimm mich an. Weitere Amen-Pointen zeigen die letzten Kantaten (siehe die Einzelbesprechung) bis zum finalen Amen der Passion am Karfreitag, ein deutliches »Finis« zum Choralkantatenprojekt. Biblische Referenz dazu ist das letzte Wort der Heiligen Schrift, Offenbarung 22,20: »Amen, ja, komm, Herr Jesu!«

Einen weiteren Erklärungsmodus für die Einheit dieses Zyklus bieten Zahlenproportionen, welche bei Bachs Instrumentalzyklen ebenfalls eine große Rolle spielen. Auf der evidenten Ebene der Taktzahlen ergibt sich: Die 25 Kantaten bis zum Ende des Kirchenjahres kommen auf 154(11x14)x61 Takte, die 15 Kantaten im neuen Kirchenjahr auf 104(8x13)x61 Takte. Damit zeigt sich die Zahl 61 als essentieller Teiler. Zur Deutung drängt sich Jesaja 61 auf. Der Prophet spricht hier zu Beginn von seiner Sendung »den Elenden zu predigen/​die zubrochen Hertzen zu verbinden/​zu predigen den Gefangenen eine erledigung/​den Gebundenen eine öffenung. Zu predigen ein gnedigs Jar des HERRN/​vnd einen tag der rache vnsers Gottes/​Zu trösten alle Trawrigen« (Luther 1545). Dieses alttestamentliche Trostwort hat höchste christologische Relevanz durch die Zitation in Lukas 4,18 f., wo es Jesus auf sich selbst bezieht: »Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren« (V. 21). Das »gnädige Jahr des Herrn« wäre damit zentrale Metapher für diesen »Jahrgang« als Werkkomplex, in welchem Vergewisserung der Gnade in Christus geschieht und »Erfüllung vor euren Ohren« als musikalisches Ereignis sich erschließt. Ordnet man die Teiler der Takt-Gesamtsumme um, ergibt sich 366(6x61)x43, ersteres Zahl der Tage eines »Schaltjahres« (z. B. 1724), durch seinen Tagesüberschuss allgemein symbolfähig für das »Gnadenjahr«. Und 43 wäre da als Zahlenäquivalent von GNADEN in Anspruch zu nehmen.

Die Werküberlieferung und Bachs spätere Ergänzungen zum Choralkantatenzyklus

Die Choralkantaten sind als »Jahrgang« überliefert in einem Konvolut der Aufführungsstimmen, das bei der Erbteilung 1750 an Bachs Witwe Anna Magdalene ging, die es alsbald an die Thomasschule weitergab als Kompensation für städtische Unterstützungsleistungen. Für Leipzig bedeuteten diese Stimmen über alle kommenden Zeiten einen Fokus der Bach-Erinnerung. Sie ermöglichten frühe Wiederaufführungen in der Vakanz nach dem Tod des Bach-Nachfolgers Harrer bereits 1755, waren im 19. Jahrhundert für die ersten Bach-Handschriftenforscher gleichsam ein Mekka – Franz Hauser z. B. erstellte daraus Partituren, die er seinem Freund Felix Mendelssohn Bartholdy weitergab –, sie bildeten eine solide Basis für die erste Bach-Gesamtausgabe ab 1850 und überstanden schließlich unversehrt alle äußeren Widrigkeiten im 20. Jahrhundert.

Die Kompositionspartituren zu diesem »Jahrgang« erbte Bachs Sohn Friedemann, der als Kantor an der Marktkirche in Halle solche Musik gebrauchen konnte. Bekanntlich musste er später seine »Bachiana« zu Geld machen, so dass die Partituren in verschiedene Hände wanderten und sehr unterschiedliche Wege einschlugen. Erstaunlich viele sind erhalten geblieben und heute weltweit verstreut, vieles in öffentlichen Bibliotheken, einiges aber auch in Privatbesitz.

Das Leipziger Stimmenkonvolut enthält außer den 40 Werken des Zyklus von 1724/​25 zehn weitere Kantaten. Neu komponiert als Choralkantaten wurden zunächst relativ zeitnah die beiden mit Trompeten bestückten Lobpreis-Musiken BWV 137 und BWV 129, letztere zu Trinitatis eine Schlussmarkierung des Zyklus als »Jahrgang« im Wortsinn. Beide sind als reine Liedtextvertonungen konzipiert. Erst ab 1731 entstanden weitere Ergänzungen zu Sonntagen im Kirchenjahr, die bisher nicht bedient waren, BWV 112 und BWV 177 als Liedtextkantaten, BWV 140 und BWV 9 mit Textergänzungen, bzw. -umdichtungen eines wieder nicht bekannten Librettisten. Wahrscheinlich im Zuge dieses »Lückenfüllens« hat Bach auch Kantaten hier eingeordnet, die in anderen Zusammenhängen komponiert wurden und teilweise keine Choralkantaten im eigentlichen Sinn sind: die gleich Ostern 1725 als Abendmahlsmusik aufgeführte Lutherliedkantate BWV 4 aus früheren Zeiten, die Pfingstmontagkantate von 1725 mit einer Liedbearbeitung nur im Eingangssatz und die Dialogkantate BWV 58 von 1727, die mit einem Choral jeweils in den Rahmensätzen arbeitet. Die Himmelfahrtskantate von 1725 hat auch eine Choralbearbeitung im Eingangssatz, ist aber nur über die Partitur auf anderem Wege überliefert. Die letzte Ergänzung stellt die zum 30. Januar 1735 komponierte Kantate BWV 14 dar, so dass gut 10 Jahre Kompositionsgeschichte in diesem Kantatenkonvolut versammelt sind. Ein vollständiger »Jahrgang« ist es nicht geworden. Leerstellen bleiben einige Sonntage in der Osterzeit und die jeweils dreifachen Oster- und Pfingstfesttage, wozu jeweils nur eine Choralkantate vorliegt.

Auf der Taktzahlenebene ist zu konstatieren, dass diese ergänzten Kantaten ohne die nicht neu komponierte Osterkantate BWV 4 und ohne die unechten Choralkantaten zu Himmelfahrt und Pfingsten 1725 auf 70x61 Takte kommen, also wieder auf das »Gnadenjahr« bezogen sind. Insgesamt sind es dann 328x61 = 8x41x61 Takte. Mit 41, Äquivalent von JSBACH, kommt so seine persönliche »Gnadenzahl« ins Spiel, die als Umkehrung der BACH-14 die »Umkehr« des Sünders zum Gerechtfertigten markiert.

Bachs Ein feste Burg-Kantate BWV 80 zu »dem Lutherlied«, schon früh im 19. Jahrhundert im Zuge der nationalen Lutherbegeisterung gedruckt und verbreitet, scheint überlieferungsmäßig dagegen nicht mit den Choralkantaten in Verbindung gestanden zu haben. Hier hat W. Friedemann Bach mit Bearbeitungen früh für ein Weiterleben gesorgt. Er hatte aber offenbar die Stimmen als Grundlage und nicht die Partitur, weshalb er die Musik nicht mit den Choralkantaten geerbt haben kann.

Dank des Internetportals www.bach-digital.de kann heute alle Welt sich ein Bild machen von den jeweils verfügbaren Quellen. Unter der Signatur D-LEb Thomana sind sämtliche Leipziger Aufführungsstimmen einzusehen, von den Partituren die in deutschen öffentlichen Bibliotheken aufbewahrten. Unter editorischen Gesichtspunkten haben die Stimmen einen Mehrwert, da sie in einem letzten Arbeitsgang von Bach selber aufführungspraktisch bezeichnet wurden. Zudem ginge manche Stimmenzuweisung aus der Partitur gar nicht hervor, etwa das Mitspielen des Cantus firmus im Eingangssatz durch ein Blasinstrument. Für den Werkcharakter ist allerdings die Partitur maßgeblich, speziell für das Erfassen der damit verbundenen Zahlenwerte. Z. B. notierte Bach die Choralsätze stets auf fünf Systemen, den Continuo separat, auch wenn er mit dem Vokalbass identisch ist. Cantus firmus-Instrumente im Eingangssatz wurden dagegen nicht separat notiert und sind so auch nicht Bestandteil des Werks. Manchmal ist Bachs Orthographie der Worte (im Werktitel wie bei der Textunterlegung) erhellend, was in den modernen »Urtext«-Ausgaben nicht kenntlich wird (z. B. »Xst« statt Christ, »Hertz«, »Gedult«). Und die Schlusssignatur »SDG«, »Fine SDG« oder »Fine SDGl« in ihrer jeweiligen Einzeichnung zu betrachten, erschließt Wesentliches von Bachs innerer Haltung beim Komponieren.

Bachs Lebensmotto in separat überlieferten Liedtextkantaten

Neben Ein feste Burg ist unser Gott sind vier weitere Choralkantaten unabhängig vom Leipziger Stimmenkonvolut überliefert, deren liturgische Zuordnung nicht benannt ist. Sie alle zeigen in besonders kunstvoller Ausarbeitung und sorgfältiger Partiturnotation (sofern erhalten) das Profil eines »Vorzeige-Stücks«. Alle sind Liedtextkantaten ohne Umdichtungen. Zweimal wird die beträchtliche Zahl von neun Sätzen (zu neun Strophen) erreicht. Inhaltliche Gemeinsamkeit ist, dass es dezidierte Motto-Lieder sind. Gebt unserm Gott die Ehre/​Was Gott tut, das ist wohlgetan wiederholt sich sogar wörtlich als Refrain. Nun danket alle Gott ist eine »Soli Deo Gloria«-Entfaltung und In allen meinen Taten unterstreicht in Variationen die Glaubenshaltung: Ich will mein Leben in allem Gott überlassen. Inhaltlich nahe steht dem die Kantate Was willst du dich betrüben BWV 107 aus dem Zyklus 1724/​25, dort die einzige reine Liedtextvertonung. Offensichtlich nimmt Bach bestimmte »Choräle« in allen ihren Liedstrophen als Leitfaden für das Leben im Glauben. Mit der wörtlichen Vertonung dieser Motto-Lieder präsentiert er in künstlerischer Ausarbeitung sein Lebensmotto. Dabei spielt das »Soli Deo Gloria« eine zentrale Rolle (vgl. die Einzelbesprechung der genannten Kantaten). So bedeutet die Schlusssignatur bei jeder Kantate tatsächlich viel und ist nicht bloß eine im Barock übliche Floskel. Gerade auch im schonungslosen Reflektieren der eigenen Schuld, im musikalisch drastischen Zeichnen des Getrenntseins von Gott gibt der Mensch Bach als Sünder Gott die Ehre, um dann den Zuspruch der Zeit voller Gnaden (BWV 41,1) mit strahlendem Trompetenglanz laut werden zu lassen und geradezu lärmend vollmundig auszurufen: Dein ist allein die Ehre, dein ist allein der Ruhm! (BWV 41,3)

Hinweise zu Methode und Darstellung der Kantatenauslegung

Bachs Kantaten sind schon mehrfach in Gesamtdarstellungen gewürdigt worden. Zu den Standardwerken von Alfred Dürr (dtv/​Bärenreiter), Konrad Küster (im Bärenreiter Bach-Handbuch) und Hans-Joachim Schulze (Evang. Verlagsanstalt) kommen die Booklet-Texte in den verfügbaren Gesamteinspielungen, das Bach-Handbuch im Laaber Verlag, die Werkeinführungen zur Basler Gesamtaufführung (Schwabe Verlag) und vor allem das große Projekt Martin Petzoldts, »Bach-Kommentar« als ausführliche »theologisch-musikwissenschaftliche Kommentierung« (Bärenreiter).

Gegenüber den eher musikologisch orientierten Erläuterungen soll hier entschieden mit M. Petzoldt und im Anschluss an die Anliegen der Arbeitsgemeinschaft für theologische Bachforschung (gegründet 1976) die theologische Akzentuierung bei Bachs Vertonungen erhoben werden. Dazu ist die Präsenz der Kantatentexte wichtig. Bei den Erläuterungen sind Sentenzen oder Worte daraus jeweils in Kursivschrift kenntlich. Sachgemäße Verstehenszugänge sind zu erschließen mit der Intention, Musik wie Text zu profilieren. Die ursprüngliche Funktion der gedruckten Kantatenlibretti als Erbauungsliteratur zum inneren Nacherleben des Gehörten kann so durchaus erneuert werden, zumal heute durch die uneingeschränkte Verfügbarkeit der Musik via CD-Einspielung jenes Nacherleben in ein stetes Miterleben verwandelt werden kann. Die Libretti des Choralkantatenzyklus sind ein geistlicher Sprachschatz von höchster Qualität, starker Bildhaftigkeit, biblischer Tiefenschärfe wie Vieldimensionalität. Zudem ist ihr Sprachgestus predigthaft im seelsorgerlich positiven Sinne, dass hier Gnade zugesprochen wird in immer wieder neuen Variationen, oft in gut fasslichen, griffigen Formulierungen, die man sich merken kann. Manches kann in Verbindung mit Bachs Musik zum »Ohrwurm« werden, der durchs Leben – und Sterben – trägt. (Ein allgemeiner Lesehinweis: vor meint das, was heute für sagt und umgekehrt.)

Gegenüber M. Petzoldts ungemein detailreicher Kommentierung ist hier der Versuch unternommen, jeweils Wesentliches auf den Punkt zu bringen. Die von Petzoldt vorgelegten Materialien werden dankbar »ausgeschlachtet«, vor allem die Bibelstellenverweise zu jeder Verszeile, die theologiegeschichtlichen Hintergrundinformationen und die hymnologischen Angaben zur liturgischen Einordnung der Lieder. Die Erläuterungen zur Musik vermeiden hier namentlich bei den zumeist sehr plastischen Rezitativen ein zu detailgenaues Beschreiben der Verläufe und vom Text motivierten Figuren, wozu Notenbeispiele unerlässlich wären. Wichtig sind grundsätzliche hermeneutische Entscheidungen Bachs, die sich bei jedem Satz an Besetzung, Tonart, Taktart, Diktion der Instrumental- und Vokalstimmen erheben lassen. Der Blick richtet sich dann auf spezifische Akzentuierungen im Satzverlauf, auf die Pointen, die Bach setzt.

In diesen Erläuterungen wird deutlich, dass die Spezifika von Bachs damaligem Instrumentarium und Vokalstimmenbesetzung (nur Männer/​Knaben) wesentlich sind für die Erfassung des Sinngehalts. So sind die Ausführungen hier nur mit klanglichen Realisationen kompatibel, die mit »historischen Instrumenten« und kleiner Vokalstimmenbesetzung arbeiten. Neben den jüngeren Gesamteinspielungen von Koopman, Gardiner und Suzuki und der Teileinspielung von S. Kuijken behält auch die frühere Edition mit Harnoncourt und Leonhardt ihre Bedeutung, da nur hier Knabenstimmen zu vernehmen sind. Der Begriff »Chor« und die verbreitete Satzbezeichnung »(Eingangs-)Chor« wird hier vermieden, da dies heute das mehr oder weniger krasse Gegenüber von Chor und Vokalsolisten einträgt, was bei Bach als Grundstruktur so nicht gegeben ist. Die Eingangssätze der Kantaten zeichnen sich nicht durch großen Chorklang aus, sondern dadurch, dass alle (im Titel jeweils aufgezählten) Ensemblemitglieder miteinander »konzertieren«. Die jeweilige Besetzung ist im Kantatentext bei den einzelnen Sätzen knapp angegeben. Von der Mitwirkung des Continuobass ist stets auszugehen, ebenso die Beteiligung aller am Schlusschoral, »Streicher« meint Violine I, II und Viola. Die fettgedruckten Satzbezeichnungen sind die originalen, allerdings ins Deutsche transformiert (»Arie« statt »Aria«). Ebenso sind die italienischen Bezeichnungen der Instrumente übersetzt.

Anders als in allen bisher vorliegenden Werkbesprechungen ist die Dimension der Zahlensymbolik hier nicht ausgeblendet. Im Zuge des Studiums der Werke haben sich so viele einschlägige Phänomene aufgedrängt, dass schließlich jede Kantate komplett durchgezählt wurde. Nur besonders signifikante Ergebnisse fließen hier ein. Die obigen Ausführungen zur Gesamtdisposition des Zyklus mit 61-Gnadenjahrsymbolik sind exemplarisch für die Relevanz dieser Dimension in Bachs eigentümlich vollkommener Musik. In der Darstellung signalisieren Großbuchstaben jeweils die Übertragung des Worts in Zahlensummen nach dem lateinischen Zahlenalphabet A=1, B=2 etc. (I/​J und U/​V sind identisch, sodass gilt Z=24). Ausgehend vom Phänomen, dass BACH=14 und JSBACH=41 ergibt, sind Zahleninversionen theologisch höchst relevant als Umkehrung vom Verderben zum Heil. Mehrfachdeutungen einer Zahl, z. B. 13 als Symbol für Tod (Überschreitung der Zeit) wie für den Messias (12 Stämme Israels bzw. Jünger Jesu plus der dazu Kommende) sind üblich in der Tradition. Hier ist der Bezug zur Thematik des jeweiligen Satzes entscheidend. Als vielfach präsente Schlüsselzahl hat sich 153 ergeben, die Zahl der (nur) mit Jesu worthafter Präsenz gefangenen Fische in Johannes 21,11. Der mit den Tonstufen 1  5–3 (oder in anderer Reihenfolge) dem entsprechende Dreiklang ist ebenfalls Sinnträger und korreliert zudem mit der allgemeinen Dreier-Symbolik zu Gottes Trinität (bildlich dargestellt als Dreieck).

Wie bei K.Küster und im Bach-Handbuch des Laaber-Verlags folgt die Kantatenbeschreibung der Reihenfolge ihrer Entstehung. Unter dem hier vorrangigen inhaltlichen Aspekt ergibt sich so ein Gesamtbild von der theologischen Profilierung dieses »Jahrgangs«. Zudem stehen so zum ersten Mal die Kantatentexte in der Reihenfolge, in welcher sie den Leipziger Gottesdienstbesuchern zu Ohren und vor Augen kamen, um ihr Herz zum Glauben zu bewegen.

Bei den Libretti sind die original übernommenen Liedstrophen fett gedruckt. Liedzitate in den Arien und Rezitativen sind fett markiert, sobald es eine Zwei-Wort-Konstellation ist, wozu auch identische Reimworte am Zeilenende zählen. Eingehendere hymnologische Ausführungen zum Lied und seinem Autor, sowie Erörterungen über die Unterschiede zwischen Liedvorlage und Libretto mussten aus Platzgründen unterbleiben. Dazu sei auf M. Petzoldts »Bach-Kommentar« verwiesen, wo auch die Liedtexte jeweils mit abgedruckt sind. Wenn das Lied im heutigen Evangelischen Gesangbuch (EG) zu finden ist, wird die Nummer genannt. Die Bibelstelle des jeweiligen Sonntagsevangeliums (»Evangelium«) als Bezugspunkt von Kantate wie Predigt findet im Zuge der Ausführungen Erwähnung. Manchmal ist die Abständigkeit zwischen damaliger Deutung und heutigen Zugängen enorm, manchmal aber mag es namentlich der sonntäglichen Erbauung durchaus dienlich sein, das Bibelwort zur Musik der Kantate mit aufzuschlagen. Nicht zuletzt verbindet sich mit diesen Kantatenerläuterungen die Hoffnung, dass Predigerinnen und Prediger hier Anregung finden für die Auslegung der Evangelientexte, für die Kultivierung des in den Choralkantaten präsentierten Liedgutes und für Predigten zu diesen Bachkantaten bei einer Aufführung – wie zu Bachs Leipziger Zeiten – im Gottesdienst.

Die theologische Deutung musikalischer Phänomene, erst recht als »Zahlensymbolik«, ist in den Fachwissenschaften sehr umstritten. Diesbezüglich sind diese Erläuterungen »mutig« oder bisweilen sogar »kühn«. Aus sprachlichen Gründen ist auf vorsichtigere Formulierungen mit Vorbehalt verzichtet worden. Die Leserinnen und Leser mögen die Plausibilität der Deutungen jeweils selbst prüfen.

Vielen Menschen hätte ich zu danken, die mich auf dem lebensgeschichtlich nun schon längeren Weg einer solchen Bach-Deutung bestärkt haben, nicht zuletzt Vokalsolisten und Instrumentalisten aus der Alte-Musik-Szene mit ihrem Vermögen, Bachs Musik in ihrer spezifischen Eigenart zum Sprechen zu bringen. Namentlich gewürdigt sei vom Anfang dieses Weges Wolfgang Kelber (München), dessen Einstudierung des Eingangschors O Mensch bewein dein Sünde groß im Bachjahr 1985 dem Studenten als Chorsänger zur Urerfahrung wurde – und der nun mit (partiellem) Gegenlesen der Texte wieder beteiligt war. Einen indirekten, aber nicht unwesentlichen Anteil am Entstehen dieser Erläuterungen haben die aufmerksamen, vorwiegend »reifen Semester« meiner Kantaten-Vorlesung über mehrere Semester. Ihre Hörer-Treue ist des ausdrücklichen Dankes wert.

Erlangen, im Herbst 2014, Konrad Klek

Glossar

Abruptio

Musikalisch-rhetorische Figur: kurzes Abreißen mit anschließender Pause

Abgesang

siehe Barform

Accompagnato

Bezeichnung für Rezitative, die neben dem Continuo mit weiteren Instrumenten begleitet werden, zumeist mit Streichern, gelegentlich auch mit Bläsern.

Akrostichon

Dichterisches Gestaltungsmittel, beliebt in höfischer Dichtung: Die Anfangsbuchstaben der Strophen sind die Initialen des Widmungsträgers. Bei Gedichten zu Sterbefällen soll so der Name des Verstorbenen ins »Buch des Lebens« eingeschrieben werden (vgl. EG 523). Auch Anfangsworte können einen Sinnzusammenhang über das ganze Lied bilden (vgl. EG 361).

Alla breve

Taktbezeichnung, in der Barockmusik als Modifikation des 4/​4–Taktes derart, dass die Taktdrei keinen Zwischenakzent erhält zugunsten einer stärkeren Takteins. Wörtlich ausgeschrieben verweist es auf das »tempus imperfectum« der älteren Musik (Stile antico) mit zwei (in der Regel langsamen) Grundschlägen pro Takt.

Anapäst

In der Poetik der Versfuß zweimal unbetont, einmal betont; in der Musik rhythmisches Grundmuster zweimal kurz/​einmal lang (z. B. zwei Achtel, ein Viertel).

Battaglia

Musikalisches Schlachtengemälde, im Barock beliebt als Gestaltungstyp auch in anderen Zusammenhängen: Violinen spielen gestoßene 16tel in Tonrepetitionen, fanfarenartigen Dreiklängen oder mit abspringende Wechselnoten.

Barform

Bezeichnung für die häufigste Strophenform bei Liedern: zwei oder mehr Anfangszeilen (»Stollen«) werden melodisch wiederholt, dann folgt der »Abgesang«. »Reprisenbar« ist die Sonderform, dass die letzten Zeilen des Abgesangs wieder mit den Anfangszeilen identisch sind (siehe BWV 92, 111).

Bicinium

»Zwiegesang«, im 16. Jahrhundert beliebt als elementare Gattung von Vokalmusik mit nur zwei Stimmen (ohne Begleitung). Der Begriff wird auch übertragen auf spätere, mit Continuo begleitete Zwiegesänge.

Cantus firmus

Fachbegriff für die Melodie eines Liedes, die in mehrstimmigen vokalen wie instrumentalen Liedvertonungen hervorgehoben wird durch unverzierte, längere Notenwerte, daher »fester Gesang«.

Colla parte

Die Instrumente verdoppeln die Vokalstimmen, haben keine eigenen Partien.

Continuo

Eigentlich: »Basso continuo«, fortlaufender Bass, Kennzeichen aller Barockmusik als Fundament, das auch die Harmonik bestimmt. In der Partitur als unterstes System notiert, kann die klangliche Realisierung variieren. Bachs Stimmenmaterial enthält in der Regel drei Continuo – Stimmen, eine davon mit Akkordbezifferung (»Generalbass«) und einen Ton nach unten transponiert für die Orgel, die einen Ton höher gestimmt war. Bisweilen gibt es auch bezifferte untransponierte Stimmen für Cembalo oder Laute. Die anderen Stimmen waren für Violoncello und Violone (eine Oktave tiefer, vgl. Kontrabass). Ob in der Regel zusätzlich ein Fagott mitspielte, ist unklar.

Da capo–Arie

Standardform der Arie im Barock mit der Abfolge A–Teil, B–Teil (meist in der Paralleltonart, also Moll statt Dur und umgekehrt), Wiederholung des A–Teils »von vorne«. Ein verkürztes Da capo bringt nur das Instrumentalvorspiel als Wiederholung.

Duett

Arie mit zwei Sängern. Bei Bach lautet die Bezeichnung »Aria Duetto«. Bisweilen steht nur »Aria«.

Exclamatio

»Ausruf«: Musikalisch–rhetorische Figur der Emphase als Sprung nach oben mit über die Quinte hinausgehendem Intervall, vorwiegend kleine Sexte, auch kleine Septime.

Inklusion

Poetisches wie musikalisches Gestaltungsmittel: Anfang und Ende sind gezielt gleich geformt.

Libretto

Die Textgrundlage einer mehrsätzigen Vertonung mit unterschiedlichen Satzformen, zunächst bei Opern, dann auch bei Oratorien und Kantaten. Der Textautor (Librettist) kann vorliegende Dichtungen (Liedstrophen) oder – im geistlichen Bereich – Bibelworte integrieren, wechselt ansonsten zwischen der freieren Form des Rezitativs und der konzentrierten Form der Arie, beides in Reimform.

Magnificat

Begriff für den viel vertonten Lobgesang der Maria Lukas 1,46  55 nach dessen lateinischem Anfangswort. Liturgisch ist dieser Gesang Bestandteil jedes Vespergottesdienstes (in Leipzig der sonntägliche Nachmittagsgottesdienst).

Motette

Gattung der Vokalmusik. Bei Liedvertonungen wird jede Liedzeile den variierenden Worten (und Melodietönen) gemäß separat vertont.

Nunc dimittis

Begriff für den Lobgesang des greisen Simeon Lukas 2,29-32 nach dessen lateinischem Beginn, Vorbild für Sterbelieder, Bestandteil des täglichen klösterlichen Nachtgebets.

Ostinato

Musikalisches Gestaltungsmittel: eine bestimmte melodische und/​oder rhythmische Figur wird »beharrlich« wiederholt. Bei Bach ein häufiges Gestaltungsprinzip im Continuo.

Parodie

Wiederverwertung einer Musik in anderem Zusammenhang durch Umtextierung, ggf. auch weitergehende Umgestaltung, eine im Barock sehr verbreitete Praxis.

Per omnes versus 

Vertonung eines Liedes »durch alle Verse«. Alle Strophen werden vertont, die musikalischen Mittel variieren, aber die Melodie ist als Cantus firmus in der Regel stets präsent; eine Grundform der Kantate, ehe sich ab ca. 1715 die moderne Kantatenform mit Arien und Rezitativen durchsetzte. Bachs frühe Kantate BWV 4 Christ lag in Todesbanden repräsentiert diesen Typus.

Reprise

Wörtliche Wiederaufnahme der Musik vom Anfang.

Ritornell

Das instrumentale Vorspiel einer Arie oder eines Eingangschores, im weiteren Satzverlauf als Zwischenspiel oder Nachspiel erneut eingespielt in modifizierter oder identischer Form.

Siciliano

Barocker Satztyp im 6/​8– oder 12/​8–Takt mit spezifischer Rhythmik (punktiertes Achtel in 3/​8–Gruppe), konnotiert als Hirtenmusik mit der Implikation »Idylle«, aber auch Liebeserlebnis (vgl. BWV 68,1).

Stile antico

Begriff zur Abgrenzung der Barockmusik des Generalbasszeitalters (nach 1600) von der älteren Stilistik der polyphonen Vokalmusik, die stärker horizontal orientiert ist. Bei Neukompositionen als Stilkopie identifizierbar an großen Notenwerten (Halbe als Grundschlag). Zum einschlägigen »Sound« des »Erhabenen«, Altertümlichen tragen oft colla parte spielende Posaunen mit Zink (Sopran) bei.

Stollen

siehe Barform

Tripla

In der Renaissance – Musik die Taktform mit drei Ganzen, spezifischer Ausdruck göttlicher Vollkommenheit und Trinität (Drei – Einigkeit), allgemein auch »tempus perfectum« (vollkommenes Zeitmaß) genannt.

Tropierung

Erweiterung übernommener Texte durch Kommentare, Ergänzungen, zu neuen Gesängen, in der Liturgie oft praktiziert beim stets gleichen »Kyrie eleison«; dann auch allgemeiner Begriff für Zitation mit Kommentierung in künstlerischem Gestalten.

Unio mystica

Vorstellung von der Vereinigung von Gott (Jesus) und Mensch in der Bibel entlehnten Bildwelten (Hochzeit, Einwohnung im Herzen), in der Mystik Leitbild alles religiösen Strebens.

Unisono

Unterschiedliche Stimmen singen oder spielen »im Einklang«, also dieselben Töne oder in Oktavparallelen.

Vox Christi

»Stimme Christi«. Im gesungenen Vortrag der biblischen Lesungen wurden die Jesusworte stets hervorgehoben durch tiefere Stimmlage, bei den Passionslektionen mit mehreren Sängern durch den Bassisten. Auch bei Bach sind Jesus-Worte stets dem Bass zugeweisen.

Die im Zyklus 1724/​25
komponierten Kantaten

BWV 20

O Ewigkeit, du Donnerwort

1. Sonntag nach Trinitatis, 11. Juni 1724, Nikolaikirche

Liedautor: Johann Rist 1642

ERSTER TEIL

1. Oboe I–III, Streicher, Zugtrompete mit Sopran

O Ewigkeit, du Donnerwort,

O Schwert, das durch die Seele bohrt,

O Anfang sonder Ende!

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

Ich weiß vor großer Traurigkeit

Nicht, wo ich mich hinwende.

Mein ganz erschrocken Herz erbebt,

Dass mir die Zung am Gaumen klebt.

2. Tenor