Inhalt

  1. Titel
  2. Zu diesem Buch
  3. Widmung
  4. 1
  5. 2
  6. 3
  7. 4
  8. 5
  9. 6
  10. 7
  11. 8
  12. 9
  13. 10
  14. 11
  15. 12
  16. 13
  17. 14
  18. 15
  19. 16
  20. 17
  21. 18
  22. 19
  23. 20
  24. 21
  25. 22
  26. Epilog
  27. Die Autorinnen
  28. Die Romane von L. H. Cosway und Penny Reid bei LYX.digital
  29. Impressum

L. H. COSWAY UND PENNY REID

Irish Players

Mitten ins Herz

Roman

Ins Deutsche übertragen von
Annika Klapper und Robert Lehnert

Zu diesem Buch

Eigentlich wollte Lucy nie wieder nach Irland zurückkommen und sich ein neues Leben in New York aufbauen. Seit sie das Angebot bekam, den angesagtesten Celebrity-Blog der Stadt zu übernehmen, genießt sie ihre neugewonnene Freiheit weit weg vom Ruhm ihres großen Bruders, Rugby-Superstar Ronan Fitzpatrick, in vollen Zügen. Doch um den Saison-Auftakt der Nationalmannschaft kommt sie auch dieses Jahr einfach nicht herum. Dabei hasst Lucy Rugby über alles. Aufgewachsen in Ronans Schatten kann sie sich wirklich Schöneres vorstellen, als ihn zu seinen öffentlichen Auftritten im Blitzlichtgewitter zu begleiten – bis Sean Cassidy ihre volle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Der Rugby-Spieler ist nicht nur charmant und attraktiv zum Niederknien, sondern auch der Einzige, der dem Rugby-Zirkus um ihn herum nichts abgewinnen kann. Aber leider gibt es niemanden auf der Welt, der für Lucy so Tabu sein könnte wie Sean Cassidy. Seit er Ronan in aller Öffentlichkeit die Verlobte ausgespannt hat und die Fitzpatricks wochenlang nicht mehr aus den negativen Schlagzeilen herauskamen, lassen die beiden Konkurrenten keine Gelegenheit für öffentliche Machtkämpfe aus. Aber Sean kennt auch Lucys dunkles Geheimnis, und wenn sie verhindern will, dass das Ansehen ihrer Familie erneut in den Dreck gezogen wird, muss sie unbedingt mehr über die Dinge herausfinden, die Sean Cassidy vor der Welt verheimlicht …

In zufälliger Reihenfolge gewidmet: Yoga, Hunden,

die dir an den Beinen rumrammeln, ohne dich vorher

auf einen Drink einzuladen, und den knackigen Hinter-

teilen von Rugbyspielern auf der ganzen Welt.

Und der Stadt Tulsa in Oklahoma, in der eine zweite

Liebesgeschichte das Licht der Welt erblickte.

1

Frieden kommt von innen.
Suche ihn nicht im Äußeren.

Lucy Fitzpatrick (vielleicht auch Buddha)

Lucy

»Haut« ist ein seltsamer Farbton für einen Nagellack.

Bis zu einem gewissen Grad verstehe ich Schwarz (für die Goths) und selbst Grau, aber Hautfarbe? Das ist ja so, als würde eine Rothaarige ihre Haare rot färben.

Sinnlos.

Ich schaute mir die Farbauswahl in der Kosmetikabteilung des örtlichen Kaufhauses an und versuchte, dem Drang zu widerstehen, den so herrlich verführerischen Nagellack in Kanariengelb in meiner Handtasche verschwinden zu lassen. Den brauchst du nicht. Den brauchst du nicht. Materielle Objekte sind vergänglich. Die Freude, die sie erzeugen, ist nur kurzweilig und leer … Komischerweise funktionierte mein Mantra ausgerechnet in dem Augenblick nicht.

Ihr habt wahrscheinlich schon kapiert, was mein Geheimnis ist. Ich litt an einer Sucht … oder besser gesagt an einem Zwang.

Ich stahl. Ich klaute in Läden. Und beim bloßen Anblick von Artikeln, die klein genug waren, um sie in einer Hand- oder Jackentasche zu verstecken, fingen meine Fingerspitzen heftig an zu kribbeln.

Das war abscheulich, ich wusste das und kämpfte tagtäglich mit meinen Schuldgefühlen. Dabei hatte ich mich so gut geschlagen bei dem Versuch, damit aufzuhören. Ein besserer Mensch zu werden. Vor sechs Monaten war ich nach New York gezogen, um dort einen neuen Job als Promi-Fotografin-Schrägstrich-Bloggerin-Schrägstrich-YouTuberin anzutreten, und hatte mir fest vorgenommen, mit dem Klauen aufzuhören. Das war meine Chance auf einen Neubeginn. Und in der ganzen Zeit hatte ich kein einziges Mal gestohlen. Der Big Apple bekam von meinem Tick, in Läden etwas mitgehen zu lassen, nichts mit. Und jetzt stand ich hier und brannte darauf, dieses blöde Fläschchen Nagellack einzustecken.

Ich kannte den Grund für mein Verhalten, er begann mit einem J. J für Jackie Fitzpatrick: meine Mutter, der Ursprung all meiner Minderwertigkeitskomplexe. Es war Sommer, und ich war nach Hause gekommen, nach Dublin, um meinen Bruder und seine Verlobte zu besuchen und ein paar Freunde zu treffen. Das Problem war nur, ich hatte eingewilligt, bei meiner Mutter zu wohnen. Ich war gerade mal einen Tag zurück, und schon gingen die üblichen Kommentare los.

Wann findest du endlich einen Mann und wirst sesshaft?

Diese Schlabberhosen schmeicheln deiner Figur in keiner Weise.

Mit dir auszugehen, wenn du dich so anziehst, ist unglaublich peinlich.

Hast du mal drüber nachgedacht, mit mir zum Brazilian Waxing zu gehen? Männer mögen es gern glatt. (Bei dem Kommentar bin ich rot wie eine Tomate geworden.)

Kannst du bitte was mit deinem Haar machen? Wenn ich all diese Farben nur sehe, bekomme ich schon Kopfschmerzen.

Selbst wenn es in vielerlei Hinsicht falsch war, verschaffte mir das Stehlen die nötige Erleichterung, die ich brauchte, um mit der konstanten Kritik meiner Mutter umzugehen. Eigentlich bin ich da per Zufall draufgekommen. Eines Tages habe ich mit ihr telefoniert, während ich grad in einem Bistro saß, und sie hat mir so lange zugesetzt, bis ich zu gestresst war, um ans Bezahlen zu denken. Als ich schon längst wieder aus dem Lokal raus war und merkte, dass ich, wenn auch unabsichtlich, die Zeche geprellt hatte, fühlte ich mich seltsam erleichtert. Von da an war der Zwang immer größer geworden, bis ich ihn nicht mehr im Griff hatte … und nun geriet das Ganze wieder außer Kontrolle.

Das Verlangen nach Erleichterung gewann gegen meine Skrupel. Ich schnappte mir den Nagellack, ließ ihn unauffällig in meine Tasche fallen und wandte mich zum Gehen. Gerade marschierte ich Richtung Ausgang, da rief mich eine Stimme zurück: »Hey, warten Sie!«

Mein Herz raste, und Hitze brannte auf meinen Wangen. Ich war erwischt worden. Das war nicht das erste Mal, aber trotzdem wurde es dadurch nicht weniger peinlich oder angsteinflößend. Weil mir nichts anderes übrig blieb, drehte ich mich um und schaute in zwei erwartungsvolle braune Augen. Sie gehörten einem jungen Typen, etwa in meinem Alter und offenbar Angestellter des Kaufhauses. Ich wartete auf das übliche Prozedere. Er würde mich bitten, wieder hineinzukommen, damit er meine Tasche durchsuchen könnte, und dann kämen all die Erniedrigungen und Schamgefühle. Das hatte ich verdient.

»Lucy? Lucy Fitzpatrick?«, fragte der Mann zögernd.

Ich sah mich um. Woher kannte er meinen Namen? »Äh, ja.«

Er lächelte. »Ich bin Ben. Ben O’Connor. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, erinnerst du dich? Ich hab in Geschichte neben dir gesessen.«

Jetzt, wo ich ihn mir näher ansah, erkannte auch ich ihn. Hatte ich ihn nicht mal um seinen Anspitzer gebeten? Dass ich mich an ihn erinnerte, überraschte mich, denn normalerweise hatte ich ein Gedächtnis wie ein Sieb. Manchmal musste ich sogar Tricks anwenden, um mich an die Namen von anderen zu erinnern. Als ich zum Beispiel Broderick kennengelernt hatte, meinen neuen Freund in New York, stellte ich ihn mir immer mit einem braunen Hut mit Helikopterflügeln auf dem Kopf und in einem langen Trenchcoat vor. So gelang meinen grauen Zellen die Assoziation mit Inspector Gadget, der im Kinofilm von Matthew Broderick gespielt wird, und ich vergaß nie wieder seinen Namen.

»Oh ja«, sagte ich und lächelte, während ich innerlich bangte. Hatte er gesehen, dass ich den Nagellack eingesteckt hatte? »Jetzt erinnere ich mich. Ist ’ne Weile her. Wie geht’s dir denn so?«

»Sehr gut«, antwortete er begeistert, und ich bemühte mich, ebenso begeistert zu klingen.

»Toll. Das freut mich.«

Er nickte und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ja.«

Darauf folgte ein paar unangenehme Sekunden lang Schweigen, und ich wäre am liebsten abgehauen. Ben war zwar freundlich und schien wirklich ein netter Kerl zu sein, aber ich schob immer noch Panik wegen des Nagellacks. Dieses bescheuerte, verlockende Kanariengelb aber auch. Wie hätte ich denn so einer Knallfarbe widerstehen können? Wie denn bitte?

»Du hast dich ganz schön verändert«, sagte Ben schließlich.

Ich lachte nervös. »Zum Guten oder zum Schlechten?«

Er zuckte mit den Achseln. »Einfach verändert.«

»Muss an der Geschlechtsumwandlung liegen, für die ich mich entschieden habe«, sagte ich und zuckte zusammen. Wenn ich nervös war, machte ich immer blöde Witze.

Ben lachte zwar aus Höflichkeit, aber es war klar, dass er das nicht lustig fand. Das konnte ich ihm nicht verübeln. Manchmal war ich einfach echt schräg. Er räusperte sich. »Also, du weißt ja, dass ich ein riesiger Rugbyfan bin, oder?«

Die Frage ließ mich ein wenig zusammensacken. Für einen Moment hatte ich angenommen, er würde sich an mich ranmachen, aber nein, hier ging es natürlich um Ronan. Ich liebe meinen Bruder wirklich über alles, aber sein Erfolg als Profirugbyspieler bedeutet auch, dass manche Leute nur mit mir befreundet sein wollen, weil ich zum Teil dieselbe DNA habe wie er. Das ist irgendwie frustrierend. Trotzdem versuchte ich, positiv zu bleiben. Negative Vibes mit positiven Vibes zu bekämpfen ist der Schlüssel zu einem glücklichen Leben, und mit einer solchen Berühmtheit verwandt zu sein bringt schließlich auch viele Vorteile mit sich. Wann immer es geht, versuche ich mich darauf zu konzentrieren. Außerdem bin ich von Grund auf eine glückliche, quirlige Person, wenn ich nicht gerade unter der Fuchtel meiner Mutter stehe.

»Ach, bist du das? Ist ja cool.«

Ben nickte. »Meinst du, du könntest mich auf die Gästeliste der Party heute Abend setzen? Ich würde da so gern hin und die Mannschaft treffen. Im Ernst, damit würdest du mir meinen größten Wunsch erfüllen.«

Die irische Mannschaft hatte gerade das letzte Spiel dieser Saison absolviert, und heute Abend wurde dieser Anlass gebührend gefeiert.

»Ähm, also ich weiß wirklich nicht, ob ich das kann, Ben. Die Party fängt schon in wenigen Stunden an«, sagte ich ihm aufrichtig.

Auf einmal änderte sich seine Miene. Er wirkte nicht mehr schüchtern und freundlich, sondern zynisch, ja sogar aufgeblasen. Mit finsterem Blick kam er einen Schritt auf mich zu. »Du setzt mich auf die Liste, oder ich sag meinem Manager, dass du grad Nagellack geklaut hast.«

Mein Herz pochte, und ich schluckte hastig, so sehr erschütterte mich seine abrupte Verwandlung.

Mein Blick wanderte zu dem älteren Herrn, der am Service-Desk stand. Es war lächerlich, aber mir war nach Heulen zumute. Manchmal war ich so furchtbar naiv und leichtgläubig. Ben war kein netter Kerl, sondern jemand, der mich zu erpressen versuchte. Ich heulte zwar nicht los, hätte es aber am liebsten getan.

»Okay, schön. Ich sorge dafür, dass dein Name auf der Liste steht.«

Dann wandte ich mich zum Gehen.

»Mit Begleitung?«, rief Ben mir nach. Negative Gedanken drohten mich zu überwältigen, aber ich schob sie beiseite, wiederholte im Stillen ein paar Zeilen aus dem Daodejing, das ich häufig zum Meditieren benutzte. Ah, schon besser. Jetzt war ich ruhiger.

»Ja, Ben, mit Begleitung.«

Auf dem Nachhauseweg warf ich den Nagellack in eine Sammelbox für wohltätige Zwecke. Ich wusste, dass man so etwas eigentlich nicht spendete, aber ich dachte, die fröhliche Farbe würde einer armen Frau vielleicht ein Lächeln ins Gesicht zaubern. Auf jeden Fall verdiente ich es nicht, ihn zu behalten. Im Grunde behielt ich die Sachen, die ich gestohlen hatte, sehr selten für mich – meistens spendete ich sie oder gab sie Menschen, von denen ich glaubte, sie könnten sie brauchen.

Später am Abend machte ich mich für die Party zurecht. Mein Kleid war aus cremefarbener fließender Spitze, und das Haar klemmte ich mit einer Blütenspange zur Seite. Zusammen mit meinem Bruder, seiner Verlobten Annie und ein paar von Ronans Teamkameraden saß ich in der VIP-Lounge des Klubs. Wir tranken flaschenweise Champagner und sprachen über den Erfolg, den das irische Rugbyteam im vergangenen Jahr gehabt hatte. Meine Mutter war nicht dabei, sondern mischte sich irgendwo unter die anderen Spielermütter, und darüber war ich froh. Ich wollte einfach nur den Abend genießen, ohne mir anhören zu müssen, wie unattraktiv oder peinlich ich war.

Jedenfalls hatten wir alle unheimlich viel Spaß, bis die Tür aufging und Mister Ich-bin-der-Geilste höchstpersönlich reinkam. Falls ihr nicht wisst, wen ich meine: Sean Cassidy, in Rugbyspieler-Kreisen auch Schleimer-Sean genannt. Ich versuche ja – wie gesagt –, immer das Gute im Menschen zu sehen, aber er und mein Bruder hatten nun einmal nicht die beste Beziehung zueinander. Sean hatte nicht nur mit Brona geschlafen, Ronans Exfreundin, auch davon abgesehen war allgemein bekannt, was für ein Arschloch er war.

Eigentlich bin ich ja davon überzeugt, dass in jedem von uns etwas Gutes steckt, aber bei Sean muss ich schlichtweg sagen: Er war einfach kein netter Mensch. Und darauf schien er sogar stolz zu sein, so als würde er es darauf anlegen, dass die Leute ihn hassten.

Die Gespräche verstummten, alle blickten verstohlen zu Sean, der sich zur VIP-Bar begab und lauthals eine Flasche Prickelbrause bestellte. Er nannte das wirklich so, und apropos prickelnd …

Als hätten meine Augen ihren eigenen Willen, wanderten sie über seine breiten Schultern, den muskulösen Rücken hinab bis zu dem zweifelsohne prachtvollsten Prickelpo, der mir je untergekommen ist. Ihr wisst schon, dieser definierte, runde, aber dennoch sehr männliche Allerwerteste, den manche Sportler haben. Tja, Sean Cassidy verfügte eindeutig über solch ein wohlgeformtes Teil, ich konnte nicht anders, als da hinzustarren. Reine, knackige Muskelmasse, einfach zum Anbeißen.

Ich musste leise kichern, als ich merkte, dass ich Seans Hintern beinahe laut kommentiert hätte. Okay, es war amtlich: Ich hatte zu viele Gläser »Prickelbrause« – wie Sean das bescheuerterweise nannte – intus. Er musste mein Kichern gehört haben, denn auf einmal genoss ich seine ungeteilte Aufmerksamkeit. Einen Augenblick lang sah er mich an, zog arrogant eine Augenbraue hoch und wandte sich wieder der Bar zu.

Hach.

Dreißig Sekunden später nahmen alle ihre Gespräche wieder auf und versuchten, Sean zu ignorieren. Ronan hatte mir mal erzählt, Sean sei der Typ Mensch, der sich an Aufmerksamkeit aufgeile, also war es wahrscheinlich das Beste, seine Anwesenheit zu ignorieren.

Es lag allein an mir, dass ich nicht aufhören konnte, ihn anzustarren. Wir hatten nie zuvor miteinander gesprochen. Eigentlich hatte ich ihn lediglich auf Partys wie dieser hier gesehen, oder im Fernsehen, wenn gerade ein Spiel lief. Aber jetzt war er so nah – so nah, dass ich nicht übersehen konnte, wie schrecklich attraktiv er war: strahlend blaue Augen, markantes Kinn, schöne Lippen, gerade Nase.

Schmacht.

Warum bitte mussten die gut aussehenden Typen immer solche Idioten sein?

Sean lehnte an der Theke, entkorkte den Schampus und schenkte sich ein. Mit einem fiesen Grinsen schaute er zu Ronan, hielt das Glas an die Lippen und spreizte dabei den kleinen Finger ab. Er wollte Ronan provozieren, und offenbar klappte es, denn mein Bruder flüsterte Annie leise zu: »Macht der sich über mich lustig?«

Seine Verlobte Annie in ihrem wunderschönen blauen Kleid machte ein besorgtes Gesicht. Schweigend legte sie Ronan eine Hand auf den Oberschenkel, um ihn zu beruhigen.

Sean grinste einfach weiter, und Ronan wurde immer gereizter. Nicht lange, und mein Bruder würde garantiert ausrasten.

»Okay, Cassidy, du hast ganz offensichtlich was zu sagen, also raus damit«, forderte er Sean lauthals auf. »Und lass den Scheiß mit dem kleinen Finger bleiben.«

Seans Lippen zuckten vergnügt, während er mit dem kleinen Finger winkte. »Was denn? Diesen Finger meinst du? Fühlt sich da etwa jemand in seiner primitiven Männlichkeit angegriffen, Fitzpatrick? Oder machen dich ausgestreckte kleine Finger scharf?«

»Komm mir bloß nicht so. Du bist ungefähr so schwul wie ein Snoop-Dog-Video. Und jetzt spuck schon aus, was du sagen willst.«

Sean sah angeödet in Ronans Richtung, dann wandte er sich einem der neuen Spieler zu, einem Amerikaner namens William Moore. Er zeigte mit dem Finger auf William, mit seinem Zeigefinger wohlgemerkt, nicht mit dem kleinen Finger. »Ich weiß, dass du mich durch diesen Hinterwäldler ersetzen willst. Und deshalb lass mich dir frei heraus sagen: Das wird nicht passieren.«

William war ein echter Schrank und kam aus einer Kleinstadt in Oklahoma. Seine Mutter war irischer Abstammung, und früher hatte er in einem semi-professionellen Team in den Staaten gespielt. Im Übrigen war William einer der freundlichsten, wohlerzogensten Männer, die ich je kennengelernt habe, sodass es mich natürlich ärgerte, wie Sean mit ihm umsprang.

Auch alle anderen schien es zu fuchsen; mir fiel auf, wie angespannt einige der Spieler mit einem Mal waren, als würde sich ihnen regelrecht das Fell sträuben. Sean tat sich keinen Gefallen, wenn er William vor versammelter Mannschaft anpöbelte. Alle mochten William.

»Du bist paranoid«, sagte Ronan. »Niemand will dich ersetzen, Cassidy. Auch wenn wir alle hier dich nur zu gern kopfüber ins Klo stopfen würden, bist du leider durchaus talentiert. Das ist der einzige Grund, warum wir uns mit einem miesen Typen wie dir überhaupt abgeben.«

Sean schien das versteckte Kompliment, das Ronan ihm soeben gemacht hatte, gar nicht zu hören, sondern biss sich stattdessen an der Beleidigung fest. »Ist ja lustig, denn gerade deine Schnitten fanden mich bis jetzt immer unwiderstehlich. Obwohl … vielleicht haben sie bei dir ja einfach nur was vermisst.« Aus schmalen Augen blickte er in Annies Richtung. »Ist nur noch eine Frage der Zeit …«

Ronan stand auf und ging auf Sean los. Annie wollte ihn noch festhalten, aber er war schon zu weit weg. Bevor Sean sich versah, stand Ronan direkt vor ihm und funkelte ihn böse an.

»Wenn du weiter für diese Mannschaft spielen willst, dann solltest du jetzt lieber die Klappe halten.«

Sean starrte ihn nur an, offenbar unbeeindruckt von Ronans Zorn. »Oh, dann darfst du jetzt mitbestimmen, wer spielt und wer nicht? Ich hab da wohl das Memo nicht bekommen, in dem steht, dass du zum Manager befördert wurdest.«

»Hau ab. Und zwar sofort«, befahl Ronan, und sein Kiefer bebte vor Wut. Ich kenne meinen Bruder und weiß, wie schwer es ihm in dem Moment fiel, Sean nicht an die Gurgel zu springen. Er kann sich nur schlecht beherrschen, und Sean Cassidy war ein Experte, wenn es darum ging, andere zur Weißglut zu treiben.

Im nächsten Augenblick waren schon ein paar Teamkollegen aufgestanden, um Sean aus dem Raum zu führen. Er ging zwar, aber nicht ohne ein letztes breites, provozierendes Grinsen in Ronans Richtung. Ronan setzte sich wieder neben Annie, die ihn küsste und ihm etwas ins Ohr flüsterte. Vermutlich sagte sie ihm, er solle sich Seans Bemerkungen nicht immer so zu Herzen nehmen.

Ich weiß, sie meinte es gut, aber zwischen den beiden Männern hatte sich nun einmal ein Riesenhaufen Aggressionen und Feindseligkeiten angestaut – über so was kann man nicht einfach so hinwegsehen. Zugegeben, ich war in dieser Sache nur ein Außenseiter, aber wenn ich eines über Rugby weiß, dann, dass sich dabei alles um Testosteron und das eigene Ego dreht. Und das ist eine üble Kombination.

Nach einer Weile schienen sich alle beruhigt zu haben, auch wenn nach Seans Auftritt die Stimmung nicht mehr ganz so locker und fröhlich wie vorher war. Ich stand auf, um das Badezimmer zu suchen. Als ich etwas später aus der Toilettenkabine trat, erblickte ich Mam am Schminktisch, wo sie ihren Lippenstift auffrischte. Ihre blauen Augen erspähten mich, und sie sah mich mit ihrem typischen Gesichtsausdruck an: kein Lächeln, aber auch kein Stirnrunzeln, sondern irgendwas dazwischen, eine Grimasse, die sie als Lächeln zu tarnen versuchte.

»Wo hast du den ganzen Abend gesteckt? Ich wollte dich mit dem Sohn eines Freundes bekannt machen. Er ist eine echt gute Partie, hat eine eigene Firma und noch einiges mehr.«

»Oh«, sagte ich unverbindlich.

Ich wusch mir die Hände und trocknete sie ab, dann hakte sich Mam bei mir unter. »Komm mit, jetzt können wir ja zu ihm gehen.« Kurz fiel ihr Blick auf meine Haare, woraufhin sie bedauernd seufzte. Ich wusste, dass ihr meine Frisur peinlich war. In gewisser Weise war das einer der Hauptgründe, warum ich meine Haare überhaupt bunt färbte. Aber andererseits auch wieder nicht. Denn ich wollte mich so ausdrücken und verwirklichen können, dass es mich glücklich machte. Und eine Haarfarbe zu haben, die es so in der Natur nicht gibt, machte mich nun einmal glücklich.

Als wir die Toilette verließen, versuchte ich, mich von meiner Mutter loszureißen. »Vielleicht später, Mam. Ich hab Annie versprochen, dass ich gleich wieder zurück bin. Wir haben noch viel wegen der Arbeit zu klären.«

»Wir sind auf einer Party, Lucy. Das kann ja wohl bis morgen warten.«

»Nein, Mam. Kann es nicht. Ich gehe jetzt zu Annie. Ich will den Sohn deines Freundes nicht kennenlernen.«

Von meiner wütenden Absage überrascht starrte sie mich an. Ich war selbst etwas perplex. Oft genug kam ich ihren Wünschen nach, weil ich niemandem auf den Schlips treten wollte. Ein paar Sekunden verstrichen, in denen ich mich fragte, ob sie mich nun anschreien würde oder nicht.

Letzten Endes tat sie es nicht, wahrscheinlich weil so viele Leute in der Nähe waren. Stattdessen setzte sie das falscheste Lächeln auf, das ich je in ihrem Gesicht gesehen habe, und sagte: »Alles klar, Liebling. Dann geh mal zu Annie. Genieß die Feier. Wir sehen uns dann zu Hause.«

Und mit diesen Worten wandte sie sich um und schritt davon. Ich wusste, dass der letzte Satz nicht so nett gemeint war, wie er klang. Sobald ich zu Hause zur Tür reinkäme, würde ich alles abbekommen. Sie würde ihren ganzen Ärger zurückhalten, bis uns niemand beobachtete. Bei dem Gedanken hätte ich am liebsten auf der Stelle etwas geklaut … vielleicht ein paar Champagnerkelche? Die würden doch in meine Handtasche passen, oder?

Herrje, ich war ein Wrack.

Nach einem langen Seufzer ließ ich mich gegen die Wand fallen und zog mein Handy aus der Tasche, um nachzusehen, ob ich irgendwelche Nachrichten erhalten hatte. In der Tat hatte Annie mir geschrieben. Beim Lesen musste ich lächeln, und meine Finger juckten schon ein bisschen weniger.

Annie: Was meinst du – wenn wir Sean und deinen Bruder zusammen in einen Raum sperren, würden sie einander dann umbringen oder sich eher unter Tränen gegenseitig das Herz ausschütten? Wie stehen die Chancen?

Ich schnaubte und tippte schnell zurück.

Lucy: Ich würde 1 000 000:0 tippen, meine Liebe.

Auch wenn wir nicht im selben Land lebten, waren Annie und ich in den letzten Monaten enge Freundinnen geworden. Ich hatte immer ein offenes Ohr oder einen Ratschlag für sie parat, wenn es um Ronan ging, und sie war meine Mentorin, wenn es darum ging, wie man in New York überlebte. Außerdem arbeiteten wir zusammen an lustigen Blogeinträgen über lächerliche Promis. Wie können zwei Frauen da nicht beste Freundinnen werden? Ich schwöre, fünfundneunzig Prozent unserer Skype-Gespräche bestanden aus Kichern und fünf Prozent aus der eigentlichen Unterhaltung.

Ich steckte mein Telefon wieder ein, drehte mich um und stieß mit jemandem zusammen. Dieser Jemand war groß und männlich und trug einen sehr eleganten Anzug. In Sekundenbruchteilen hatte ich erkannt, wer in diesem Anzug steckte: Sean Cassidy, der mich wütend ansah.

»Pass auf, wo du hinläufst, Mini-Fitzpatrick«, fauchte er mich an. Offenbar stand ich als Ronans Schwester ganz oben auf seiner Hassliste.

Ich hob die Hände hoch und antwortete scherzhaft: »Sorry, Mister Prickels. Ich versuch, das nächste Mal besser aufzupassen.«

Höhnisch wanderte eine Augenbraue nach oben. »Mister Prickels?«

Als mir klar wurde, wie ich ihn gerade genannt hatte, hätte ich beinahe laut losgeprustet. Das lag natürlich an seinem herrlichen Prickelpo, aber das würde ich ihm nie im Leben verraten. Schließlich wollte ich nicht vor seinen Augen knallrot anlaufen.

»Ich hab beschlossen, dich nach deinem Lieblingsgetränk zu benennen, Mister Prickels«, erklärte ich und versuchte, ihm ein Lächeln zu entlocken. Ronan sagte immer, ich sei viel zu nett, das würden andere nur ausnutzen, aber vielleicht war Sean ja gar nicht so fies, wie alle dachten. Vielleicht steckte irgendwo in ihm auch etwas Gutes. Oder vielleicht war ich auch einfach nur angeschickert.

Kurz meinte ich zu sehen, wie seine Lippen amüsiert zuckten, doch dann wurde er wieder feindselig. »Und ich dachte immer, Frauen wie du trinken nur Alkopops und Daiquiris mit bunten Schirmchen.«

Sein Lächeln war genauso arrogant wie sein Tonfall, und er wandte sich schon wieder zum Gehen. Trotzdem hatte sein Konter etwas so Verteidigendes an sich, dass ich ihn für einen Präventivschlag hielt. Sean dachte bestimmt, nur weil ich Ronans Schwester war, würde ich ihn automatisch hassen, und ließ mich deshalb spüren, dass auch er mich hasste. Hmmm …

»Du wirkst angespannt, solltest es mal mit Meditieren versuchen«, schlug ich vor.

Er blieb stehen und dreht sich noch einmal um. »Wie bitte?«

»Yogi-Bhajan-Meditation soll wahre Wunder wirken. Ich persönlich finde Yoga ja super. Ich geh total verspannt und gestresst hin und fühle mich nachher ganz leicht und unbeschwert. Im Ernst, solltest du mal drüber nachdenken. Wirst überrascht sein, wie toll das wirkt.«

Dieser Vorschlag schien Sean sowohl zu verärgern als auch zu verwirren. »Was faselst du da?«

Ich ging ein paar Schritte auf ihn zu, bis ich direkt vor ihm stand. »Da gibt es eindeutig ein paar verdrängte Probleme in deiner Psyche, und du benutzt meinen Bruder als Ventil für deine Aggressionen. Ich wollte nur eine Möglichkeit vorschlagen, wie du mit dieser Wut umgehen kannst. Ach, und weißt du, was noch toll ist bei Stress? Komplette Tiefenentspannung und Entgiftung, wie zum Beispiel in einem Yoga-Seminar. Zufällig nehme ich nächste Woche an so einem Seminar teil, wenn ich zurück in die USA fliege. Das ist beim Squam Lake, ein wunderbarer Ort. Ich freu mich schon riesig drauf. Solltest du auch mal drüber nachdenken.«

Natürlich meinte ich das nicht wirklich ernst, aber ich war angeheitert und in Plauderlaune, und irgendwie tat mir Sean Cassidy leid. Er erinnerte mich an die misshandelten Hunde, die in New York in den Straßen herumlungern und jeden anbellen, weil sie nicht wissen, wem sie trauen können und wem nicht. Okay, das ist ein dämlicher Vergleich. Sean war kein Straßenköter, sondern ein verhätschelter, reinrassiger Zuchtrüde.

Er hörte mir zwar zu, schaute mir aber nicht ins Gesicht. Stattdessen wanderte sein Blick von meinen nackten Armen und Schultern zu meiner Brust. Neben dem Schlüsselbein habe ich diesen kleinen Leberfleck, und er starrte ihn unentwegt an, so als wollte er ihm ganz nah sein und ihn besser kennenlernen.

Woah, damit hätte ich so was von nicht gerechnet, aber als er mich so ansah, wie er mich nun einmal in dem Moment ansah, bekam ich fast am ganzen Leib eine Gänsehaut.

Er machte einen Schritt nach vorn, zu mir, seine Größe und Nähe machten mich ganz schwindelig, und dann sagte er total trocken: »Sind solche Seminare nicht nur eine Ausrede für irgendwelche Hippies, um sich irgendwo in der Pampa zu treffen, Müsli zu futtern und Gruppensex zu haben?«

Sofort war das Kribbeln wie weggeblasen. Ronan hatte recht. Sean war ein Arschloch. Und ich war viel zu weichherzig, wenn ich glaubte, unter seiner glatten, gestylten Oberfläche stecke mehr. Wir stammten aus zwei verschiedenen Welten. Er war im Süden Dublins als Adoptivkind in einer privilegierten Familie aufgewachsen. Ich hingegen stamme aus dem Norden der Stadt, aus der Arbeiterklasse. Meine Mutter hatte früher zwei Jobs gleichzeitig und hat es trotzdem kaum geschafft, uns zu ernähren. Alles an Sean und mir, von unseren unterschiedlichen Akzenten bis hin zu unserer Weltsicht, stammt aus zwei komplett verschiedenen Welten.

»Nein, eigentlich ist das ein Vorwand, um an einen schönen Ort zu fahren, tolle Leute kennenzulernen und den Kopf freizukriegen, aber ich habe nicht damit gerechnet, dass du das verstehst.« Damit machte ich auf dem Absatz kehrt und versuchte, auf einer möglichst geraden Linie zurück Richtung Party zu gehen.

Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber die ganze Zeit spürte ich seinen Blick in meinem Rücken, und womöglich lief ich deshalb schneller, bis ich endlich hinter der Eingangstür zur Lounge verschwunden war. Ich ärgerte mich teuflisch darüber, dass er so eine Wirkung auf mich hatte. Schließlich war ich sonst die Ruhe und Gelassenheit in Person. Aber nein, mit ein paar sorgfältig platzierten Bemerkungen hatte er dafür gesorgt, dass ich ihn am liebsten erdrosseln würde. Jetzt erst verstand ich Ronans Hass auf diesen Typen so richtig.

Ich habe immer versucht zu glauben, dass in jedem das Potenzial stecke, ein guter Mensch zu werden. Aber dieser eine Kerl könnte in der Tat der Gegenbeweis für diese These sein.

Ja, wenn man mich fragte, war Sean Cassidy ohne Zweifel nicht mehr zu helfen.

2

Drei Dinge auf dieser Welt sind sicher:

der Tod, Steuern und die blanke Angst

vor dem nächsten Familientreffen.

Sean Cassidy

Sean

Irgendwann muss mir mal jemand erklären, warum Smartphone-Kameras ein Auslösergeräusch machen. Ich meine, man sieht doch, dass man ein Foto geschossen hat. Es käme ja auch niemand auf die Idee, Salzstreuer mit Soundeffekten auszustatten. Weil man einfach sieht, dass die Salzkörner auf dem Essen landen. Weil man das Salz auf dem Essen schmeckt. Da brauche ich nicht noch eine akustische Information, um auch ja auf Nummer sicher zu gehen.

Obwohl ich wach war, machte ich die Augen nicht auf. Ich konnte hören, dass sie Fotos von mir knipste, und beschloss zu warten, bis sie genug davon hatte. So war es erträglicher für uns beide.

Blieb nur zu hoffen, dass mir kein getrockneter Speichel am Mund klebte und sie mir nicht das Gesicht vollgekritzelt hatte. Aber wenn ich mich nicht irrte, gehörte sie nicht zu dieser Sorte Frauen. Nein, sie war die Sorte Frau, die solche Fotos wie Trophäen sammelte.

Ich spürte, wie ihr noch nackter Körper an meinem entlangglitt und ihre Haare meine nackte Schulter streiften. Dem Winkel ihrer Pose nach zu urteilen, schoss sie jetzt Selfies mit mir … während ich schlief.

Nein, das beunruhigt mich kein bisschen. Ganz normales Verhalten. Posier ruhig mit dem bewusstlosen Mann für Selfies, das ist wirklich nicht unheimlich. Ich wette, die meisten Leute finden es toll, beim Schlafen fotografiert zu werden …

Du arme Irre.

Sie lehnte sich zurück, vermutlich um ihre Trophäensammlung zu bewundern, und setzte sich auf der Matratze auf. So langsam nervte das Klacken ihrer langen künstlichen Nägel auf dem Touchscreen.

Zeit, zu verschwinden.

Ich machte ein Hohlkreuz und streckte demonstrativ die Arme aus, bevor ich die Augen aufschlug, wobei ich achtgab, den Körper neben mir nicht zu berühren. Das sollte ihr genug Zeit geben, das Smartphone zu verstecken, falls sie sich deswegen schuldig fühlte. Als ich schließlich die Augen öffnete, mied ich ihren Blick. Erfahrungsgemäß ist es das Beste, falsche Erwartungen nach einem One-Night-Stand so früh wie möglich in die richtige Richtung zu lenken.

»Guten Morgen, Hübscher.« Sie kroch zurück unter die Bettdecke und streckte ihre Krallen nach mir aus.

Ich warf einen Blick auf ihre Hände. Keine Spur mehr vom Smartphone. Sie musste es im Nachttisch versteckt haben. Das war eine Erleichterung, denn die weniger zurückhaltenden Exemplare ihrer Art verlangten weitere Bilder am Frühstückstisch. Meine Antwort lautete stets Nein. Ich pflegte nicht mit Dienstmädchen am selben Tisch zu speisen.

Als ich letzte Nacht vorgeschlagen hatte, ein wenig zu feiern, hatte nicht der Alkohol aus mir gesprochen, sondern die Kälte. Egal, zu welcher Jahreszeit: In Irland fror ich nachts, wenn ich keinen warmen Körper fand, mit dem ich das Bett teilen konnte.

Die Frau schmiegte sich an mich. Letzte Nacht war ihre Haut weich gewesen, aber nun – am helllichten Tag – kam sie mir vor wie Sandpapier.

Die Kälte war jetzt verschwunden. Ich schälte mich aus der Umklammerung, setzte mich auf die Bettkante und rieb mir den Schlaf aus den Augen. »Wie spät ist es?«

»Kurz nach sieben«, schnurrte sie, während ihre Nägel über meinen Rücken glitten.

»Fass mich nicht ständig an. Wo zum Henker ist meine Hose?«

Mit stockendem Atem zog sie die Hand weg. Als ich nach meiner Hose Ausschau hielt, schwieg sie immerhin.

Sex war der Preis, den ich für eine Nacht voller Wärme zahlte, und das ergab überhaupt keinen Sinn, weil meine Partnerinnen ihre Lust und den Höhepunkt ohnehin jedes Mal vortäuschten, sogar wenn ich sie leckte. Dabei waren sie laut und voller Hingabe und manchmal beeindruckend kreativ. Aber es war eben bloß vorgetäuscht.

Nur einmal wollte ich sehen und hören und spüren, wie eine Frau wirklich kam. Nur. Ein. Einziges. Beschissenes. Mal. Denn allmählich hegte ich Zweifel, ob Frauen überhaupt in der Lage waren, den Höhepunkt zu erreichen, oder ob der weibliche Orgasmus nicht vielleicht bloß ein hartnäckiger Mythos war …

»Sei nicht so ein Arschloch.«

Schade, sie hatte ihre Stimme wiedergefunden.

Wenn ich nicht bald von hier verschwand, würde ich zu spät zum Sonntagsfrühstück mit der Familie kommen. Und wenn ich zu spät zum Frühstück kam, musste ich mir monatelang passiv-aggressive Bemerkungen über meine Unpünktlichkeit dieses eine Mal anhören und war der Familie einen Jahresvorrat an Gefallen schuldig.

»Ich muss mal pinkeln.« Ich stand auf und ging durch die winzige Dubliner Wohnung zu der Tür, die ich für die Badezimmertür hielt. Unterwegs fand ich meine Hose und zog sie an. Ich verschloss die Tür – nur für den Fall, dass die Unbekannte noch mehr Fotos schießen wollte – und erledigte meine Morgentoilette, wobei ich die fremde Zahnbürste mit Listerine durchspülte, bevor ich sie in den Mund steckte.

Ich hatte ein festes Reinigungsritual für den Morgen danach entwickelt: Zahnbürste desinfizieren, Arzneimittelschrank nach Aspirin durchstöbern und mein Gesicht mit der vorhandenen Seife waschen – wenn sie nicht gerade nach Blumen oder Essen roch. Schon allein für die Entdeckungstour durch die Welt der Kosmetikprodukte lohnten sich One-Night-Stands.

Ein halbes Jahr zuvor hatte ich eine Frau flachgelegt und anschließend ihren Gesichtsreiniger benutzt. Fantastisches Zeug. Es war unparfümiert, sanft zu meiner Haut und sorgte doch für porentiefe Reinheit. Wie sie hieß oder aussah, weiß ich nicht mehr, aber dass sie ihr Gesicht mit Simple reinigte, werde ich nie vergessen. Und zwar, weil ich auf dem Nachhauseweg einen Zwischenstopp bei Boots eingelegt und mir einen Jahresvorrat davon gekauft hatte.

»Was machst du da drinnen?« Der warme Körper von letzter Nacht rüttelte an der Türklinke.

Ich ignorierte die Frage und schnupperte an der Seife. Sie roch nach Eiscreme. Unbenutzt wanderte sie zurück in ihre Schale. Wieso wollen Frauen nach Eiscreme riechen?

Wenn ich ein Eis will, schlecke ich ein Eis.

Wenn ich eine Frau will, lecke ich eine Frau.

Sie schnaubte nervös. »Brauchst du noch lange?«

Ich warf noch einen Blick in ihr Arzneischränkchen und fand eine ungeöffnete Probepackung Lotion. Ich riss sie auf, um daran zu schnuppern … Sandelholz. Das war schon besser. Ich tat einen Tropfen auf meine Hand. Er ließ sich gut verreiben und fühlte sich samtweich an. Ich steckte die Lotion ein.

»Hey!« Jetzt pochte sie an die Tür. »Was machst du …«

Noch bevor sie den Satz beendete, riss ich die Tür auf, und sie stolperte erschrocken nach hinten. Das erlebe ich oft, weil ich nun nicht gerade klein bin. Ich bin sogar ziemlich groß. Wie meine Familie nicht müde wird zu betonen, überschreitet meine Größe das angebrachte, vornehme Maß. Ich bin, um mit meiner Tante zu sprechen, ein Hüne.

Aber ich schmeichle mir, außerdem recht wendig zu sein, besonders für meine Größe.

Und von dieser Wendigkeit machte ich nun Gebrauch, als ich um den Körper herummanövrierte, mein Hemd und meine Jacke in der Wohnung aufklaubte und beides vor den Augen der Unbekannten anzog. Ohne noch mehr Zeit mit der Suche nach meiner Krawatte zu verschwenden, sammelte ich meine Schuhe und Socken ein und setzte mich auf eine schäbige kleine Bank neben der Wohnungstür.

Aus dem Augenwinkel sah ich die Unbekannte zaghaft näher kommen; inzwischen trug sie einen Bademantel und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. »Dir hat’s wohl die Sprache verschlagen? Letzte Nacht warst du nämlich noch ziemlich gesprächig.«

»Nein.« Ich war gerade mit der rechten Socke fertig und dabei, mich der linken zuzuwenden.

»Dann ist das also ’ne Abfuhr, hm?«

»Ja.« Ich mochte meine Schuhe. Ich durfte nicht vergessen, mir noch mal das gleiche Modell in Braun zu besorgen.

Sie schniefte. Dann fing sie an zu heulen. Ich verdrehte die Augen. Es kam vor, dass sie heulten. Es kam sogar vor, dass sie wahre Sturzbäche heulten. Aber es kümmerte mich nicht, wie nahe sie am Wasser gebaut waren, besonders, wenn eine halbe Stunde später garantiert ein Foto von einem schlafenden Sean Cassidy auf Twitter erscheinen würde.

Ich stand auf, knöpfte mir das Hemd zu und tastete in der Gesäßtasche nach Portemonnaie und Handy. Alles da.

Dann konnte ich ja gehen.

Ich hatte keine Zeit mehr, um vor dem Frühstück rasch bei der Drogerie vorbeizuschauen und die famose Sandelholz-Lotion zu holen, denn ich musste noch duschen, mich rasieren und mir etwas Passendes anziehen. Aber falls ich den Morgen ohne passiv-aggressive Machtspielchen überstand, würde ich auf dem Heimweg auf jeden Fall eine Flasche mitnehmen.

Ach, wem machte ich eigentlich etwas vor? Fast die ganze Familie verabscheute mich. Ich würde mir so oder so eine Flasche holen.

»Nimm doch bitte Platz, Sean. Zum Stehen bist du entschieden zu groß.« Meine Tante wedelte mit ihrer Serviette in meine Richtung und fügte flüsternd hinzu: »Ein wahrer Hüne.« Dann breitete sie anmutig das Leinentuch auf ihrem Schoß aus. Es war die Art von Anmut, die man jahrelang einstudierte, damit sie absolut natürlich aussah.

Wie mir Tante Cara unzählige Male erklärt hatte, war das Wahren des äußeren Scheins alles.

Gerade stand ich – was ihr aufs Äußerste missfiel – in ihrem Wintergarten am Frühstücksbüffet. Der Servierlöffel in meiner Hand schwebte zwischen der silbernen Warmhalteplatte und meinem Teller. Mein Teller war leer. Ich war nämlich noch nicht einmal dazu gekommen, mir etwas zu essen zu nehmen, weil ich gerade erst vom Tisch aufgestanden war.

»Ich setze mich hin, sobald ich am Büffet fertig bin.« Ich gab mir Mühe, nicht genervt zu klingen. Dass ich Gefühle zeigte, wurde hier nicht gerne gesehen und meiner zweifelhaften Abstammung zugeschrieben.

»Wenn es sich denn gar nicht vermeiden lässt.«

Ich blickte nicht in ihre Richtung, aber vor meinem inneren Auge konnte ich sehen, wie sie hoch konzentriert an ihrem Tee nippte. Dass ich hier herumstand, war vermutlich die größte Unannehmlichkeit, die ihr in dieser Woche widerfahren war.

Alle sechs Cousins und Cousinen waren versammelt, nur Onkel Peter fehlte. In den letzten Monaten hatte er immer häufiger gefehlt, worüber keiner ein Sterbenswörtchen verlor. Das große Schweigen ließ mich vermuten, dass Onkel Peter, der Bruder meiner Mutter, seine Zeit lieber mit seiner anderen Familie auf dem Land verbrachte.

Dass mein Onkel schon seit Jahren Affären hatte, war das am schlechtesten gehütete Geheimnis von Dublins feiner Gesellschaft und hob Tante Cara in diesen Kreisen in den Rang einer heiligen Märtyrerin.

»Die Party gestern war ja mal todlangweilig, Sean. Was für eine Zeitverschwendung. Ich hätte mich nicht von dir beschwatzen lassen dürfen, mitzukommen.« Das war Grady, mein ältester Cousin, und meine Hand schloss sich fester um den Servierlöffel.

Grady ist Bankier, einen halben Kopf kleiner als ich und ein absoluter Vollidiot. Eine Woche zuvor hatte er mich förmlich um Eintrittskarten bekniet. Dann war er mit sechs Freunden statt einem aufgeschlagen, sodass ich alle möglichen Strippen ziehen musste, damit sie alle reinkamen.

Was ich gerne geantwortet hätte: »Kein Wunder. Wer ein so erschreckend unbedeutendes Dasein fristet wie du, kann ja gar nicht anders, als sich jede Nacht zu Tode zu langweilen.«

Was ich tatsächlich antwortete: »Ich fand den Abend auch nicht besonders gelungen.«

Beides stimmte. Aber ich hatte die letzten Worte noch nicht zu Ende gesprochen, als mir unwillkürlich Ronan Fitzpatricks Schwester in den Sinn kam, und die Erinnerung an sie gab mir zu denken. Ich hatte sie Mini-Fitzpatrick genannt, dabei wirkte und benahm sie sich ganz anders als ihr Bruder.

Er war ein Affe – reaktionär und sofort auf Gewalt und Drohungen aus, wenn er sich verteidigen musste. Ich dagegen bevorzugte andere Methoden.

Er hatte nichts Bestimmtes getan, um meinen Hass auf sich zu ziehen. Meist ignorierte er mich einfach. Als der wohl beste Spieler im Team – auch wenn es mich ärgerte, dass der Mannschaftskapitän meine Leistungen als Mittelmaß abtat – hätte ich seine gelegentlichen Sticheleien wohl wegstecken können.

Aber nach all den Jahren in seinem Schatten, all den Interviews, in denen die erste Frage stets lautete: Was ist das für eine Erfahrung, mit Ronan Fitzpatrick zusammenzuarbeiten?, hatte ich ihn einfach gefressen. Ich wollte ihn loswerden.

Und dass ihn außer mir alle Welt liebte, schürte meinen Hass nur noch mehr. Ja, Ronan war ein Primat. Nur war er leider ein äußerst talentierter Primat, der es schaffte, die Herzen anderer für sich zu gewinnen – eine Fertigkeit, die ich mir nie hatte aneignen können.

Doch seine Schwester war anders. Sie erinnerte mich an eine … na ja, an eine Zauberfee: immer gut gelaunt, aufmerksam und außergewöhnlich hinreißend. Nein, hinreißend war nicht das richtige Wort.

Verführerisch.

Verführerisch eigenartig.

Schon besser.

Ein neues Bild erschien vor meinem inneren Auge: Mini-Fitzpatrick, wie sie auf dem Rücken liegt – ihre sinnlichen Rundungen schamhaft von einem Laken verhüllt, der entzückende Schönheitsfleck gerade noch sichtbar, das regenbogenfarbene Haar über ein weißes Kissen gebreitet –, und ich fragte mich, warum ich sie gestern Abend so runtergemacht hatte.

Ich musste an ihre Frisur denken. Ob sie den Teppich wohl passend zum Vorhang gefärbt hatte? Das würde dem Süßigkeiten-Werbeslogan Taste the Rainbow Koste den Regenbogen – eine ganz neue Bedeutung verleihen.

Ziemlich unpassende Gedanken für ein Sonntagsfrühstück mit den lebenden Toten des Cassidy-Clans. Ich zwang mich, das Bild zu verdrängen, und rief mir stattdessen ins Gedächtnis, wie wütend sie kurz vor ihrem Abgang gewesen war.

Dennoch: Für einen kurzen Moment hatte ich fast das Gefühl gehabt, als wollte sie – trotz der üblen Geschichte mit ihrem Bruder – wirklich nett zu mir sein.

Und das gab mir wieder zu denken.

Ich starrte gerade auf die Räucherheringe, als meine Cousine Eilish, die einzige Normale aus unserer Sippe, Grady auf den Zahn fühlte: »Sag mal, hattest du Sean nicht angefleht, dass er dir Eintrittskarten besorgt?«

»Was? Ich doch nicht.« Die bloße Idee schien ihn zu beleidigen.

»Doch, hast du. Du bist ihm letzte Woche immer tiefer in den Hintern gekrochen.«

»Eilish! Was sind denn das für Ausdrücke am Frühstückstisch?« Meine Tante unterstrich ihre Missbilligung mit einem Schnauben.

»Darf ich fragen, Mutter, welches Wort Anstoß erregt hat? War es Hintern

»Können wir derlei Diskussionen bitte unterlassen? Macht sich da wieder einmal Seans Einfluss bemerkbar?«

»Keine Bange, Mutter. Ich habe erst seit zwei Tagen Semesterferien, und seitdem hat Sean kein einziges Mal vorgeschlagen, dass ich über Hintern referiere.«

»Bitte! Nicht dieses Wort!« Diesmal verlieh meine Tante ihrem Kummer Ausdruck, indem sie mit ihrer Teetasse klimperte.

Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Eilish so früh von der Uni kommen würde. Seit sie zehn war, hatte man sie in Internate gesteckt, weil sie ein zu wildes und unkontrollierbares Wesen für jemandem mit dem Temperament meiner Tante war. Doch den Sommer verbrachte sie stets in der Dubliner Familiengruft.

Oh, habe ich Familiengruft gesagt? Ich meinte Villa.

Auf dem Weg zum Frühstückstisch achtete ich darauf, ja nicht mehr zu grinsen, und mied geflissentlich Eilishs Blick. Wenn meine Tante mich jetzt mit einem Grinsen im Gesicht erwischte, würde sie mir das ewig vorhalten.

Während ich mich setzte, fragte Eilish, ob jemand die neueste Reportage über die Flüchtlingskrise gelesen hätte, bekam aber nur eine Rüge zur Antwort, weil sie sich mit den Ellbogen auf den Tisch stützte. Tante Cara ging sogar so weit, sie mehrmals unschmeichelhaft mit einem Nutztier zu vergleichen.

Trotzdem fiel die Schelte nicht allzu heftig aus, und Eilish schien sich nichts daraus zu machen. Aber weil Tante Cara dazu neigte, aus heiterem Himmel beleidigend zu werden, spitzte ich die Ohren für den Fall, dass ich mich schützend vor meine Cousine stellen musste.

Erwartungsgemäß ließ sich keiner meiner restlichen Verwandten etwas anmerken: Theresa machte eine Bemerkung über das Wetter und biss in ihren Buttertoast. Brigid erkundigte sich seelenruhig nach Connors neuem Bentley. Liam schenkte sich, ohne von seiner Zeitung aufzusehen, eine Tasse Kaffee nach.