Frank Wedekind, geboren am 24. Juli 1864 in Hannover, ist am 9. März 1918 in München gestorben.

Frank Wedekind beendete Frühlings Erwachen. Eine Kindertragödie 1891; 1906 wurde das Stück unter der Regie Max Reinhardts erstmals aufgeführt. Wedekinds flammender Protest gegen das Erziehungssystem und die repressive Sexualmoral des Wilhelminismus vor und nach der Jahrhundertwende ist auch heute noch eines der meistgespielten Stücke. Der Schriftsteller, Schauspieler und Kabarettist brachte auf die Bühne, was zuvor nur von wenigen literarisch offen artikuliert wurde: daß die Unterdrückung des körperlichen Begehrens zu den Tragödien führt, die sein Stück (unter anderem) zum Skandal machten: Abtreibung aus Scham, Selbstmord aus Angst vor schulischem Versagen.

»Wedekind schrieb nicht die Moritat von den ahnungslosen Flegeln und Backfischen, sondern das Trauerspiel vom Erwachen der eigensinnigen Naturkraft in der Kreatur.«

Walter Benjamin

Frank Wedekind

Frühlings Erwachen

Eine Kindertragödie

Geschrieben Herbst 1890
bis Ostern 1891

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 5. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 3142.

© Insel Verlag Frankfurt am Main und Leipzig 2005

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Umschlagabbildung: Arthur Hacker, The Cloud, 1901. Bradford Art Galleries and Museums.

Umschlag: Michael Hagemann

eISBN 978-3-458-74568-6

www.insel-verlag.de

Dem vermummten Herrn
der Verfasser

ERSTER AKT

Erste Szene

Wohnzimmer.

WENDLA: Warum hast du mir das Kleid so lang gemacht, Mutter?

FRAU BERGMANN: Du wirst vierzehn Jahr heute!

WENDLA: Hätt’ ich gewußt, daß du mir das Kleid so lang machen werdest, ich wäre lieber nicht vierzehn geworden.

FRAU BERGMANN: Das Kleid ist nicht zu lang, Wendla. Was willst du denn! Kann ich dafür, daß mein Kind mit jedem Frühjahr wieder zwei Zoll größer ist. Du darfst doch als ausgewachsenes Mädchen nicht in Prinzeßkleidchen einhergehen.

WENDLA: Jedenfalls steht mir mein Prinzeßkleidchen besser als diese Nachtschlumpe. – Laß mich’s noch einmal tragen, Mutter! Nur noch den Sommer lang. Ob ich nun vierzehn zähle oder fünfzehn, dies Bußgewand wird mir immer noch recht sein. – Heben wir’s auf bis zu meinem nächsten Geburtstag; jetzt würd’ ich doch nur die Litze heruntertreten.

FRAU BERGMANN: Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich würde dich ja gerne so behalten, Kind, wie du gerade bist. Andere Mädchen sind stakig und plump in deinem Alter. Du bist das Gegenteil. – Wer weiß, wie du sein wirst, wenn sich die andern entwickelt haben.

WENDLA: Wer weiß – vielleicht werde ich nicht mehr sein.

FRAU BERGMANN: Kind, Kind, wie kommst du auf die Gedanken!

WENDLA: Nicht, liebe Mutter; nicht traurig sein!

FRAU BERGMANN (sie küssend): Mein einziges Herzblatt!

WENDLA: Sie kommen mir so des Abends, wenn ich nicht einschlafe. Mir ist gar nicht traurig dabei, und ich weiß, daß ich dann um so besser schlafe. – Ist es sündhaft, Mutter, über derlei zu sinnen?

FRAU BERGMANN: Geh’ denn und häng’ das Bußgewand in den Schrank! Zieh’ in Gottes Namen dein Prinzeßkleidchen wieder an! – Ich werde dir gelegentlich eine Handbreit Volants unten ansetzen.

WENDLA (das Kleid in den Schrank hängend): Nein, da möcht’ ich schon lieber gleich vollends zwanzig sein …!

FRAU BERGMANN: Wenn du nur nicht zu kalt hast! – Das Kleidchen war dir ja seinerzeit reichlich lang; aber …

WENDLA: Jetzt, wo der Sommer kommt? – O Mutter, in den Kniekehlen bekommt man auch als Kind keine Diphtheritis! Wer wird so kleinmütig sein. In meinen Jahren friert man noch nicht – am wenigsten an die Beine. Wär’s etwa besser, wenn ich zu heiß hätte, Mutter? – Dank’ es dem lieben Gott, wenn sich dein Herzblatt nicht eines Morgens die Ärmel wegstutzt und dir so zwischen Licht abends ohne Schuhe und Strümpfe entgegentritt! – Wenn ich mein Bußgewand trage, kleide ich mich darunter wie eine Elfenkönigin … Nicht schelten, Mütterchen! Es sieht’s dann ja niemand mehr.

Zweite Szene

Sonntag abend.

MELCHIOR: Das ist mir zu langweilig. Ich mache nicht mehr mit.

OTTO: Dann können wir andern nur auch aufhören! – Hast du die Arbeiten, Melchior?

MELCHIOR: Spielt ihr nur weiter!

MORITZ: Wohin gehst du?

MELCHIOR: Spazieren.

GEORG: Es wird ja dunkel!

ROBERT: Hast du die Arbeiten schon?

MELCHIOR: Warum soll ich denn nicht im Dunkeln spazieren gehn?

ERNST: Zentralamerika! – Ludwig der Fünfzehnte! Sechzig Verse Homer! – Sieben Gleichungen!

MELCHIOR: Verdammte Arbeiten!

GEORG: Wenn nur wenigstens der lateinische Aufsatz nicht auf morgen wäre!

MORITZ: An nichts kann man denken, ohne daß einem Arbeiten dazwischen kommen!

OTTO: Ich gehe nach Hause.

GEORG: Ich auch, Arbeiten machen.

ERNST: Ich auch, ich auch.

ROBERT: Gute Nacht, Melchior.

MELCHIOR: Schlaft wohl! (Alle entfernen sich bis auf Moritz und Melchior.)

MELCHIOR: Möchte doch wissen, wozu wir eigentlich auf der Welt sind!

MORITZ: Lieber wollt’ ich ein Droschkengaul sein um der Schule willen! – Wozu gehen wir in die Schule? – Wir gehen in die Schule, damit man uns examinieren kann! – Und wozu examiert man uns? – Damit wir durchfallen. – Sieben müssen ja durchfallen, schon weil das Klassenzimmer oben nur sechzig faßt. – Mir ist so eigentümlich seit Weihnachten … hol mich der Teufel, wäre Papa nicht, heut noch schnürt ich mein Bündel und ginge nach Altona!

MELCHIOR: Reden wir von etwas anderem. – (Sie gehen spazieren.)

MORITZ: Siehst du die schwarze Katze dort mit dem emporgereckten Schweif?

MELCHIOR: Glaubst du an Vorbedeutungen?

MORITZ: Ich weiß nicht recht. – – Sie kam von drüben her. Es hat nichts zu sagen.

MELCHIOR: Ich glaube, das ist eine Charybdis, in die jeder stürzt, der sich aus der Skylla religiösen Irrwahns emporgerungen. – – Laß uns hier unter der Buche Platz nehmen. Der Tauwind fegt über die Berge. Jetzt möchte ich droben im Wald eine junge Dryade sein, die sich die ganze lange Nacht in den höchsten Wipfeln wiegen und schaukeln läßt …

MORITZ: Knöpf dir die Weste auf, Melchior!

MELCHIOR: Ha – wie das einem die Kleider bläht!

MORITZ: Es wird weiß Gott so stockfinster, daß man die Hand nicht vor den Augen sieht. Wo bist du eigentlich? – – Glaubst du nicht auch, Melchior, daß das Schamgefühl im Menschen nur ein Produkt seiner Erziehung ist?

MELCHIOR: Darüber habe ich erst vorgestern noch nachgedacht. Es scheint mir immerhin tief eingewurzelt in der menschlichen Natur. Denke dir, du sollst dich vollständig entkleiden vor deinem besten Freund. Du wirst es nicht tun, wenn er es nicht zugleich auch tut. – Es ist eben auch mehr oder weniger Modesache.

MORITZ: Ich habe mir schon gedacht, wenn ich Kinder habe, Knaben und Mädchen, so lasse ich sie von früh auf im nämlichen Gemach, wenn möglich auf ein und demselben Lager, zusammenschlafen, lasse ich sie morgens und abends beim An- und Auskleiden einander behilflich sein und in der heißen Jahreszeit, die Knaben sowohl wie die Mädchen, tagsüber nichts als eine kurze, mit einem Lederriemen gegürtete Tunika aus weißem Wollstoff tragen. – Mir ist, sie müßten, wenn sie so heranwachsen, später ruhiger sein, als wir es in der Regel sind.

MELCHIOR: Das glaube ich entschieden, Moritz! – Die Frage ist nur, wenn die Mädchen Kinder bekommen, was dann?

MORITZ: Wieso Kinder bekommen?

MELCHIOR: Ich glaube in dieser Hinsicht nämlich an einen gewissen Instinkt. Ich glaube, wenn man einen Kater zum Beispiel mit einer Katze von Jugend auf zusammensperrt und beide von jedem Verkehr mit der Außenwelt fernhält, d. h. sie ganz nur ihren eigenen Trieben überläßt – daß die Katze früher oder später doch einmal trächtig wird, obgleich sie sowohl wie der Kater niemand hatten, dessen Beispiel ihnen hätte die Augen öffnen können.

MORITZ: Bei Tieren muß sich das ja schließlich von selbst ergeben.

MELCHIOR: Bei Menschen glaube ich erst recht! Ich bitte dich, Moritz, wenn deine Knaben mit den Mädchen auf ein und demselben Lager schlafen und es kommen ihnen nun unversehens die ersten männlichen Regungen – ich möchte mit jedermann eine Wette eingehen …

MORITZ: Darin magst du ja recht haben. – Aber immerhin …

MELCHIOR: Und bei deinen Mädchen wäre es im entsprechenden Alter vollkommen das nämliche! Nicht, daß das Mädchen gerade … man kann das ja freilich so genau nicht beurteilen … jedenfalls wäre vorauszusetzen …… und die Neugierde würde das Ihrige zu tun auch nicht verabsäumen!

MORITZ: Eine Frage beiläufig –

MELCHIOR: Nun?

MORITZ: Aber du antwortest?

MELCHIOR: Natürlich!

MORITZ: Wahr?!

MELCHIOR: Meine Hand darauf. – – Nun, Moritz?

MORITZ: Hast du den Aufsatz schon??

MELCHIOR: So sprich doch frisch von der Leber weg! – Hier hört und sieht uns ja niemand.

MORITZ: Selbstverständlich müßten meine Kinder nämlich tagsüber arbeiten, in Hof und Garten, oder sich durch Spiele zerstreuen, die mit körperlicher Anstrengung verbunden sind. Sie müßten reiten, turnen, klettern und vor allen Dingen nachts nicht so weich schlafen wie wir. Wir sind schrecklich verweichlicht. – Ich glaube, man träumt gar nicht, wenn man hart schläft.

MELCHIOR: Ich schlafe von jetzt bis nach der Weinlese überhaupt nur in meiner Hängematte. Ich habe mein Bett hinter den Ofen gestellt. Es ist zum Zusammenklappen. – Vergangenen Winter träumte mir einmal, ich hätte unsern Lolo so lange gepeitscht, bis er kein Glied mehr rührte. Das war das Grauenhafteste, was ich je geträumt habe. – Was siehst du mich so sonderbar an?

MORITZ: Hast du sie schon empfunden?

MELCHIOR: Was?

MORITZ: Wie sagtest du?

MELCHIOR: Männliche Regungen?

MORITZ: M-hm.

MELCHIOR: – Allerdings!

MORITZ: Ich auch. – – – – – – – – – – – – – – – – – –

MELCHIOR: Ich kenne das nämlich schon lange! – schon bald ein Jahr.

MORITZ: Ich war wie vom Blitz gerührt.

MELCHIOR: Du hattest geträumt?

MORITZ: Aber nur ganz kurz … von Beinen im himmelblauen Trikot, die über das Katheder steigen – um aufrichtig zu sein, ich dachte, sie wollten hinüber. – Ich habe sie nur flüchtig gesehen.

MELCHIOR: Georg Zirschnitz träumte von seiner Mutter.

MORITZ: Hat er dir das erzählt?

MELCHIOR: Draußen am Galgensteg!

MORITZ: Wenn du wüßtest, was ich ausgestanden seit jener Nacht!

MELCHIOR: Gewissensbisse?

MORITZ: Gewissensbisse?? – – – Todesangst!

MELCHIOR: Herrgott …

MORITZ: Ich hielt mich für unheilbar. Ich glaubte, ich litte an einem inneren Schaden. – Schließlich wurde ich nur dadurch wieder ruhiger, daß ich meine Lebenserinnerungen aufzuzeichnen begann. Ja ja, lieber Melchior, die letzten drei Wochen waren ein Gethsemane für mich.

MELCHIOR: Ich war seinerzeit mehr oder weniger darauf gefaßt gewesen. Ich schämte mich ein wenig. – Das war aber auch alles.

MORITZ: Und dabei bist du noch fast um ein ganzes Jahr jünger als ich.

MELCHIOR: Darüber, Moritz, würd’ ich mir keine Gedanken machen. All’ meinen Erfahrungen nach besteht für das erste Auftauchen dieser Phantome keine bestimmte Altersstufe. Kennst du den großen Lämmermeier mit dem strohgelben Haar und der Adlernase? Drei Jahre ist der älter als ich. Hänschen Rilow sagt, der träume noch bis heute von nichts als Sandtorten und Aprikosengelee.

MORITZ: Ich bitte dich, wie kann Hänschen Rilow darüber urteilen!

MELCHIOR: Er hat ihn gefragt.

MORITZ: Er hat ihn gefragt? – Ich hätte mich nicht getraut, jemanden zu fragen.

MELCHIOR: Du hast mich doch auch gefragt.

MORITZ: Weiß Gott ja! – Möglicherweise hatte