Über Heike Specht

Heike Specht, geb. 1974, studierte Germanistik und Geschichte in München. Sie promovierte über die Familie Lion Feuchtwangers und arbeitete mehrere Jahre als Verlagslektorin, heute lebt sie als freie Autorin und Lektorin in Zürich. Bei Aufbau lieferbar »Lilli Palmer. Die preußische Diva« und »Curd Jürgens. General und Gentleman« (Oktober 2015).

Informationen zum Buch

Lilli Palmer war mehr als eine Schauspielerin. Ihr turbulentes Leben hätte für drei gereicht, ihre Talente ebenfalls: Als Schauspielerin, Malerin und Autorin machte die Tochter eines jüdischen Arztes zunächst im Exil, dann im Nachkriegsdeutschland Karriere. Heike Specht schildert das Leben einer außergewöhnlichen Frau, die zur Legende wurde.

Ein Leben wie eine Achterbahnfahrt: Als Tochter eines jüdischen Arztes muss Lilli Palmer vor den Nazis fliehen, tingelt in Paris zunächst durch die Nachtclubs, bis sie, an der Seite ihres Ehemannes Rex Harrison, nach Hollywood geht und mit Gary Cooper, Jean Gabin und Clark Gable dreht. Nach großen Leinwanderfolgen schließlich der Absturz nach einer öffentlich gewordenen Affäre ihres Ehemannes. 1952 wagt sie, wovor viele ihrer jüdischen Leidensgenossen ein Leben lang zurückscheuten: Sie kehrt ins Land der Täter zurück und wird zum Star des deutschen Nachkriegsfilms. Zu ihren bekanntesten Filmen gehören »Mädchen in Uniform« mit Romy Schneider sowie die Thomas-Mann-Verfilmung »Lotte in Weimar«. Ihre Memoiren »Dicke Lilli, gutes Kind« waren ein Bestseller.

Mit einer umfangreichen Filmographie.

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Heike Specht

Lilli Palmer

Die preußische Diva

Inhaltsübersicht

Über Heike Specht

Informationen zum Buch

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Einleitung
Drei mal drei – Die vielen Karrieren der Lilli Palmer

Momentaufnahme: Waldschule zu Berlin im Frühjahr 1922

Kapitel 1  Eine preußische Familie

Wurzeln in Posen

Kriegskind

Ihres Vaters Tochter

Siegfried und der Drache

Momentaufnahme: Paris im Dezember 1933

Kapitel 2  Im Wartesaal

»Sie wollen dich nicht«

Plötzlich erwachsen

Becoming Lilli Palmer

Momentaufnahme: London im Dezember 1940

Kapitel 3  Eine halbfertige Frau

Eine Geschichte von Liebe und Verrat

Enemy Alien

Rendezvous mit Boa Constrictor

Lachen in einer fremden Sprache

Mrs. Rex Harrison

Momentaufnahme: Hollywood im Frühjahr 1946

Kapitel 4  Stand By Your Man

Der Duft von Orangenblüten

Fritz Langs Kasernenhof

Dolce Vita

Der Tod in Hollywood

Momentaufnahme: Portofino im August 1953

Kapitel 5  Paukenschlag und Feuerwerk

Die Show muss weitergehen

Ein Paar – auf der Bühne und im Leben

Miss Lilli

Frau Palmer

Bell, Book and Kendall

Momentaufnahme: Berlin im Herbst 1955

Kapitel 6  Ein deutscher Filmstar

Auf der Flucht

Hollywood-Glanz in Nachkriegsdeutschland

Displaced Person

Alles auf Anfang

Transit

Momentaufnahme: Fuschlsee im Sommer 1976

Kapitel 7  Hohe Gipfel und tiefe Täler

Flaute

Abgründe

Ost und West

Die neue Freiheit

Epilog

Anhang

Anmerkungen

Filmographie

Personenregister

Dank

Impressum

Einleitung
Drei mal drei – Die vielen Karrieren der Lilli Palmer

Tief unten im Tal glitzert der Zürichsee in der Sonne, am Horizont zeichnen sich majestätisch die schneebedeckten Glarner Alpen ab. An besonders klaren Tagen kann man die imposanten Bergspitzen des Mönchs und der Jungfrau sehen. Die Welt scheint unendlich von hier oben. Ein Gefühl der Freiheit überkommt einen und die Erkenntnis, wie klein und verletzbar der Mensch ist. Die Berge sind so gewaltig, die Natur so ursprünglich. Das alles, der Gedanke drängt sich hier auf, kann auch ganz gut ohne den Menschen existieren.

Als ich im Frühling 2013 das erste Mal nach Goldingen komme, an den Ort, an dem Lilli Palmer nach Stationen in Berlin, Paris, London, Hollywood und New York über 25 Jahre bis zu ihrem Tod gelebt hat, bin ich überwältigt von dem Panorama, das sich mir bietet. Wälder und Wiesen, umrahmt von steilen Bergspitzen. Anfang der sechziger Jahre zog Lilli Palmer mit ihrem zweiten Ehemann Carlos Thompson in den Kanton St. Gallen und verliebte sich auf Anhieb in dieses Stück Land oberhalb des beschaulichen Örtchens Goldingen. Zunächst lebten die Thompsons in einem wunderschönen alten Bauernhaus aus Holz, das seit Jahrhunderten auf dem Grundstück steht und an dessen niedrigen Deckenbalken sich der großgewachsene Argentinier Carlos immer wieder den Kopf stieß.

Als ihre Villa, La Loma genannt, samt Turnplatz und Pool auf dem Bergplateau fertiggestellt war, zogen sie um. Das riesige Haus sah aus, als gehöre es eher ins sonnige Kalifornien als auf einen Berggipfel in St. Gallen. Hier lebte das Paar, hier malte und schrieb Lilli Palmer, hier bereitete sie sich auf ihre Rollen vor. La Loma gibt es nicht mehr, der neue Besitzer des Grundstücks hat sich ein Domizil nach seinen Wünschen an die Stelle bauen lassen. Heute ist Goldingen Einzugsgebiet der stetig wachsenden Stadt Zürich, gut angebunden durch die Bahn und verschiedene Buslinien. Aber in den 1960er Jahren, als das Ehepaar Palmer/Thompson hierherkam, war Goldingen ein kleines, abgeschiedenes und eher ärmliches Bauerndorf.

Die Malerin und Schriftstellerin fand hier Ruhe und Inspiration. Zürich war nicht sehr weit, und auch den Flughafen Kloten erreichte man von Goldingen aus bereits in den sechziger und siebziger Jahren innerhalb etwa einer Stunde. Der Ort war also schon damals nicht aus der Welt, und doch muss das Leben auf La Loma von einer gewissen Einsamkeit geprägt gewesen sein. Mit den Bewohnern von Goldingen hatten Lilli und Carlos nicht viel zu tun. Man grüßte sich, wenn man sich auf der Post oder im örtlichen Laden traf, aber dabei blieb es. Auf La Loma hatte das Paar lediglich Gesellschaft von der Haushälterin Anni, dem Gärtner Antonio und ihren Boxerhunden. Eine Familie aus der Gegend, die Burkarts, lebte mit ihren Kindern auf dem Bauernhof, genannt Giebelhof, der zu Palmers riesigem Grundstück gehörte. Sie bewirtschafteten auch die dazugehörigen Äcker und hielten Milchkühe, die auf den Wiesen ringsum grasten. Die Burkarts waren Lillis und Carlos’ einzige Nachbarn. Das Paar verbrachte also Tage und Wochen in exklusiver Zweisamkeit.

In Interviews betonte Palmer immer wieder, wie sehr sie die Stille, die Abgeschiedenheit am Zürichsee genieße, dass ihr dort nichts fehle. Tatsächlich hegte die Schauspielerin offenbar eine gewisse Vorliebe für Häuser auf einsamen Gipfeln. Auch das Ferienhaus in Portofino, das sie und ihr erster Mann Rex Harrison Ende der 1940er Jahre an der ligurischen Küste hatten bauen lassen, lag hoch über dem Hafen des kleinen Örtchens und war nur über Trampelpfade erreichbar. Dennoch scheint der Schritt, sich als international gefeierte Schauspielerin mitten in den Bergen von St. Gallen niederzulassen, extrem. Was führte Lilli Palmer nach all den Jahren, die sie in den Hauptstädten der Welt verbracht hatte, nach ihren Erfolgen auf den Bühnen des Broadway und des Londoner West End in die wunderschöne, doch menschenleere Schweizer Bergwelt?

Lilli Palmer, die länger in Goldingen lebte als irgendwo sonst, hatte viele Talente und bestritt im Laufe ihres Lebens mannigfache Karrieren. Im Jahr 1932 wurde sie als junge Schauspielerin am Hessischen Landestheater in Darmstadt engagiert. Doch die zarten Anfänge ihrer deutschen Karriere wurden jäh unterbrochen, als Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler wurde und ihre Heimat innerhalb nur weniger Monate in eine nationalsozialistische Diktatur verwandelte, deren diskriminierende Politik gegenüber den deutschen Juden es Palmer unmöglich machte, an eine Zukunft in diesem Land zu glauben. In Paris gelang es der jungen Künstlerin nicht, Fuß zu fassen, dafür schaffte sie es in England. Sie baute sich in den 1930er Jahren eine Karriere als Film- und Theaterschauspielerin auf, die durch die Heirat mit Rex Harrison, der zu diesem Zeitpunkt schon ein Bühnenstar war, noch einen gehörigen Schub bekam. Rex war auch der Grund für die Übersiedlung nach Hollywood im Herbst 1945. Hier begann Palmer noch einmal von neuem, diesmal unter weit günstigeren Bedingungen. Ihre amerikanische Karriere in der Traumfabrik startete verheißungsvoll. Noch erfolgreicher war Palmer wenig später an den Theatern des New Yorker Broadway. In den 1950er Jahren knüpfte sie wieder an ihre allererste Karriere in Deutschland an und wurde innerhalb kürzester Zeit ein Star in der noch jungen Bundesrepublik.

Drei Schauspielkarrieren in drei Ländern. Dreimal zurück auf Anfang. Dreimal von neuem durchstarten. Das allein ist bemerkenswert und doch längst nicht alles, was Lilli Palmers Talente hergaben. An zwei weiteren – dem Schreiben und dem Malen – arbeitete Palmer hart. In der zweiten Hälfte ihres Lebens machte sie aus ihnen richtiggehende Karrieren. Ihre Bilder wurden in Galerien in London, Köln und Zürich gezeigt und für stattliche Summen verkauft. Palmers Bücher waren internationale Bestseller. In einem Interview sagte sie einmal, dass sie mit ihrer Autobiographie und ihren Büchern mehr Geld verdient habe als mit all ihren Filmen zusammen.

In ihrer Autobiographie Dicke Lilli – gutes Kind vergleicht sich Lilli Palmer mit dem biblischen Jakob. Wie der Patriarch, der eine Nacht lang mit dem Engel des Herrn ringt, diesen nicht gehen lässt und ausruft: »Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!«, so beharrlich ringe sie selbst mit ihren Talenten und ihrer Arbeit. An dieser Stelle bezieht Palmer die Aussage auf die Malerei, aber sie gilt wohl für ihr gesamtes Schaffen, ja eigentlich für ihr ganzes Leben. Lilli Palmer war ein überaus disziplinierter, hartnäckiger Mensch. Nur so lässt sich erklären, dass es ihr in drei Ländern gelang, eine beachtliche Karriere als Schauspielerin zu machen, und dass sie unerschütterlich daran arbeitete, ihr Interesse und ihre Begabung für Kunst und Schriftstellerei zu einer zweiten und dritten Profession auszubauen.

Ehrgeiz und Hartnäckigkeit scheinen tatsächlich Hauptcharakterzüge Lilli Palmers gewesen zu sein. Sie setzte sich gegen ihren Vater durch und nahm Schauspielunterricht, schaffte es während des Krieges als unbekannte Emigrantin ohne Kontakte vor englische Kameras, feierte Erfolge in Hollywood und am Times Square, bis sie 1954 als Star nach Deutschland zurückkehrte. Die gleiche Beharrlichkeit findet man in Palmers Privatleben wieder. Trotz aller Affären, trotz der enormen Unterschiede in Temperament und Charakter hielt sie an der Ehe mit Rex Harrison fest, bis es gar nicht mehr ging. Auch zu ihrem zweiten Mann Carlos Thompson stand sie, obwohl auch diese Ehe ihr viel Leid bescherte.

Palmers Vater sagte ihr, als er die 18-Jährige im Herbst 1933 in Berlin in den Zug nach Paris setzte, Lilli müsse sich in der Emigration ein Korsett aus Stahl zulegen. Blickt man auf ihr Leben, so scheint es zuweilen, dass sie sich auch später nur selten erlaubt hat, dieses Stahlkorsett abzulegen. Haltung bewahren, diese Devise trug sie durch viele Krisen.

Lilli Palmers Leben, so reich es auch mit Erfolg gesegnet war, ist ein erkämpftes. Sie selbst bezeichnete sich als »preußische Ameise«. Viele Dinge, die sie anpackte, gelangen, aber diese Tatsache sollte nicht zu der Einschätzung verleiten, dass ihr alles zufiel. Was Lilli Palmer auch erreichte, war hart erarbeitet. Sie war in vielem die Tochter ihres Vaters, des fleißigen, unermüdlichen Chirurgen. Aber auch das Erbe der Mutter, die vor ihrer Heirat Schauspielerin gewesen war, ließ sich nicht leugnen. Palmer stand zeit ihres Lebens im Spannungsfeld zwischen Bürgerlichkeit und Bohème, zwischen Rationalität und Phantasie, zwischen Wissenschaft und Kunst. Sie war die temperamentvolle, leidenschaftliche Mimin, die begeisterte Malerin, die über ihren Bildern alles andere vergessen konnte, und gleichzeitig die disziplinierte Autorin, die jeden Tag vor der Schreibmaschine ihr Pensum absolvierte und frühmorgens bürokratische Angelegenheiten regelte, weil sie der Meinung war, dass die lästigsten Dinge möglichst vor allem anderen zu erledigen seien.

Jede Art von Geschichtsschreibung, auch die Gattung der Biographie, ist bis zu einem gewissen Grad ein Konstrukt, auch wenn man selbstverständlich versucht, seinem »Untersuchungsobjekt« oder Thema so objektiv wie möglich zu begegnen und möglichst viele unterschiedliche Quellen und Standpunkte einfließen zu lassen. Leopold von Rankes Ziel, mit Geschichte das zu beschreiben, »was wirklich war«, lässt sich kaum umsetzen, denn auch Historiker sind Menschen mit Vorlieben und Interessen, die einen bestimmten Blickwinkel auswählen, spezielle Schwerpunkte setzen. Eine Biographie, die ausschließlich das abbildet, was im Ranke’schen Sinne »war«, kann es nicht geben. Mich interessiert Lilli Palmer vor allem im Kontext des 20. Jahrhunderts, in das sie hineingeboren wurde und das ihr Leben wie das so vieler Zeitgenossen mit seinen Umwälzungen, Kriegen und Katastrophen geprägt hat.

Lilli Palmer kam zur Welt, als die alten Monarchien, die Europa im 19. Jahrhundert untereinander aufgeteilt hatten, sich in einen Krieg von bis dahin ungekannten Ausmaßen stürzten. Lilli Marie Peiser war also ein Kriegskind, das die ersten Lebensjahre in Posen ohne Vater aufwuchs. Als Alfred Peiser nach vier langen Jahren aus Verdun zurückkehrte, packte die Familie die Koffer und zog wie viele deutsche Juden westwärts nach Berlin.

In der Hauptstadt der noch jungen deutschen Republik etablierte sich die Familie rasch. Die heranwachsende Lilli war eine Charlottenburger Arzttochter, Kind eines preußischen Juden, der eher bewusster Preuße als bewusster Jude war, bis die Nationalsozialisten ihn auf sein Judentum reduzierten und ihm die Zugehörigkeit zu seinem Vaterland absprachen. Als Jüdin musste Palmer nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten auch ihre Heimat verlassen und stand als Emigrantin, wie so viele andere heimatlos Gestrandete, in den 1930er Jahren angstvoll vor Grenzbeamten und Ausländerbehörden Schlange in der Hoffnung, Aufnahme und Rettung zu finden vor der barbarischen Verfolgung in ihrem Geburtsland. Als frischgebackene Ehefrau und versehen mit einem englischen Pass, erlebte sie den Blitz in London – Luftschutzbunker, Bombardierung und kriegsbedingte Rationierung. Mit ihrem Mann Rex verließ sie im Herbst 1945 das traumatisierte Europa in Richtung Amerika.

Palmer veröffentlichte im Jahr 1974 mit riesigem Erfolg ihre Autobiographie Dicke Lilli – gutes Kind. Mit diesem Buch hat sie maßgebend das Bild geprägt, das wir uns von ihrem Leben machen. Palmer folgte in ihren Memoiren und auch in ihrem autobiographischen Roman Der rote Rabe dem Leitspruch, den sie auch als Schauspielerin beherzigte: Trage nie zu dick auf, halte immer etwas zurück. Selbst bei der Schilderung von Erlebnissen, die überaus schmerzhaft gewesen sein müssen, wahrt Palmer eine ironische Distanz. Sie buchstabiert selten etwas aus, bleibt in der Andeutung. Die Dicke Lilli ist also eine wichtige Quelle, die aber immer wieder hinterfragt und mit anderen Dokumenten und Erinnerungen abgeglichen werden muss.

Etwas mehr als siebzig Jahre umfasst Palmers Leben. In dieser Zeit wurde sie aus ihrer Heimat vertrieben, eroberte diese nach dem Krieg im Sturm zurück und blieb doch auf Distanz. Fragen der Identität sind in diesem Kontext von besonderem Interesse. Palmer, die Preußin. Palmer, die Weltbürgerin. Die Identität eines Menschen ist immer vielschichtig, im Fall von Emigranten ist die Frage der Zugehörigkeiten noch komplexer. Wie sah sich Lilli Palmer selbst? Als Deutsche, als Jüdin, als Engländerin, als Europäerin, als Kosmopolitin? Oder einfach als Künstlerin, die ähnlich wie die Zirkusdirektorin Iduna, die Palmer in dem Film Feuerwerk so meisterhaft verkörperte, überall dort zu Hause ist, wo ihr Zelt steht, wo ihr Auftritt gewürdigt wird?

Die Frage nach der Rückkehr wird in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein. Was bewog Palmer nach zwanzig Jahren, in denen sie sich als Schauspielerin in der angelsächsischen Welt etabliert hatte, wieder in Deutschland zu arbeiten? Ihre Familie, ihre Freunde, ihr berufliches Netzwerk hatte sie in England und den USA. In Deutschland wurde sie begeistert aufgenommen, schließlich war sie eine bekannte internationale Schauspielerin, gleichzeitig waren die fünfziger und sechziger Jahre noch davon gekennzeichnet, dass die Zeit des »Dritten Reiches« und die Verbrechen, die von Deutschen und in deutschem Namen begangen worden waren, beharrlich beschwiegen wurden und ein allgemeines Misstrauen gegenüber Emigranten spürbar war. Noch 1961 fragte der ehemalige Wehrmachtsoffizier und damalige Verteidigungsminister Franz Josef Strauß den Kanzlerkandidat der SPD Willy Brandt, was dieser eigentlich in den Jahren der Emigration gemacht habe: »Eines wird man Herrn Brandt doch fragen dürfen: Was haben Sie zwölf Jahre lang draußen gemacht? Wir wissen, was wir drinnen gemacht haben.«1 Wie erlebte Palmer die Begegnung mit Deutschland und den Deutschen in den fünfziger Jahren? Und wie gestaltete sich ihr Verhältnis zu dem Land ihrer Geburt in den folgenden Jahrzehnten, in denen sie ihren Lebensmittelpunkt in die Schweiz verlegte?

Fragen der Identität sowie der Selbst- und Fremdzuschreibungen sind darüber hinaus, bezogen auf ein Schauspielerleben, natürlich besonders reizvoll. Welche Rollen spielte Lilli Palmer im Leben, auf der Bühne und vor der Kamera? Wie sah sie sich? Wie wollte sie gesehen werden? Regelmäßig wurde sie in späteren Jahren als feine Dame besetzt, und regelmäßig reagierte sie empört, wenn auch die Person Lilli Palmer als solche bezeichnet wurde. Immer wieder versuchte sie gegen diese Zuschreibung anzugehen, auch indem sie Rollen annahm oder sich auf den Leib schreiben ließ, in denen sie anrüchig, hinterhältig oder verwegen sein durfte. In ihrer Autobiographie bezeichnet sie sich, wie der Titel des Buches schon sagt, als »gutes Kind«. Zeit ihres Lebens habe sie das »Gute-Kind-Übel« geplagt, so schreibt sie.2 Sie schildert sich stets als die Vernünftige, die Ausgleichende, die, die es allen recht machen will.

Lilli Palmer war in ihrem Leben Fräulein Peiser, Miss Palmer, Mrs. Harrison, Mrs. Thompson und Frau Palmer, sie war das gute Kind, die kultivierte Dame, die internationale Künstlerin, die deutsche Bildungsbürgerin. Das Leben eines Menschen in verschiedene Phasen einzuteilen ist nicht leicht, und oft ist der retrospektive Blick durchaus verschieden von der Perspektive, die das erlebende Subjekt zum fraglichen Zeitpunkt hatte. Dies im Bewusstsein haltend, nähere ich mich Palmers Leben in sieben Kapiteln, die mir sinnvoll erscheinen, um wichtige Abschnitte im Leben der Schauspielerin, Schriftstellerin und Malerin zu markieren. Jedem Kapitel ist ein kurzer Einschub, eine Momentaufnahme, vorangestellt, die den Einstieg in eine neue Phase bzw. einen neuen Abschnitt in Palmers Leben illustrieren soll. Die beschriebenen Szenen müssen sich selbstverständlich nicht genau so abgespielt haben. Sie versuchen vielmehr, einen möglichst lebendigen Einblick in Palmers Innenleben zu geben, der bis zu einem gewissen Grad durchaus spekulativ ist.

Momentaufnahme:
Waldschule zu Berlin im Frühjahr 1922

Der kleine weiße Ball wird über die Holzplatte geschmettert, ganz flach über das Netz in die äußerste rechte Ecke der gegnerischen Seite. Der schlaksige rothaarige Junge erwischt ihn in letzter Sekunde und schlägt ihn zurück, verzieht sein Gesicht zu einem triumphalen schiefen Lächeln und entblößt dabei zwei schräg stehende Schneidezähne. »Denkste!«, schießt es Lilli durch den Kopf, »deinen lausigen Aufschlag pariere ich mit verbundenen Augen.« Ihr rechtes Bein streckt sich, und sie hechtet mit Karacho nach vorn. Ihr widerspenstiges welliges Haar ist mühsam auf der linken Seite gescheitelt, aber bei diesem Sprung fällt ihre eine Locke vor die Augen, rasch streicht sie sie mit der Linken hinters Ohr und befördert den Ball knapp über das Netz zurück. Der Rothaarige steht perplex da, den kleinen grünen Schläger in der Hand, sieht, wie der Ball mit Müh und Not übers Netz fliegt und kurz darauf die Platte berührt. Die Gliedmaßen des Buben sind in den letzten Monaten in die Länge geschossen und schlenkern beim Gehen oft an seinem Körper, als würden sie nicht recht dazugehören, aber so weit reicht selbst sein Arm nicht. Der Ball hopst noch zwei-, dreimal traurig in Richtung seines Schlägers, bevor er über die Spielplatte kullert und mit einem satten Pong auf dem Fußboden landet. Lilli, in dunkelblauer Hemdbluse und weiten Pumphosen, schmeißt ihren Schläger vor sich auf die Platte und reißt die Arme hoch, die dunkelblonde Haarsträhne fällt ihr erneut ins Gesicht. »Lilli!«, kreischen ihre Klassenkameradinnen. Der Rothaarige kommt auf sie zu und schüttelt ihr die Hand. Sie schaut zu ihm hinauf, der Junge ist gut einen Kopf größer als sie, und versucht, ihr Grinsen zu unterdrücken.

Jeden Nachmittag eilt Lilli nach dem Essen in die große Sporthalle zu den Tischtennisplatten. Schon in der ersten oder zweiten Klasse war ihr klar geworden, dass sie etwas finden musste, was nur ihr gehört. Ihre ältere Schwester nimmt seit Jahren Klavierunterricht und ist gar nicht schlecht, auch wenn Lilli sich oft demonstrativ die Ohren zuhält, wenn Irene spielt und laut aufschreit, wenn sie beim Fis danebengreift. Hilde, das Nesthäkchen, ist natürlich noch zu klein, um irgendetwas wirklich zu können, aber sie punktet durch ihre großen runden Augen und die lustigen Grübchen, die sich auf ihren Wangen abzeichnen, wenn sie lacht. Und das tut sie ja häufig, vor allem wenn der Vater sie hoch in die Luft wirbelt und dann wieder auffängt mit seinen starken Armen oder wenn er ihr etwas vorpfeift oder wenn er Grimassen für sie schneidet. Ganz verzückt schaut er dann das Hildchen an. »Seht euch unser Nesthäkchen an«, ruft der sonst so nüchterne Vater begeistert, »was sie schon alles kann!« Nur weil Hilde ihre Schuhe selber anziehen kann oder Alle meine Entchen singt. Keine große Sache, findet Lilli, aber die Eltern sind außer sich vor Freude.

Wenn sie es doch nur mal so leicht hätte! Aber Klavier ist so gar nicht ihre Sache. Nicht, dass ihr Herr Lamprecht, der pickelige Student, der Irene unterrichtet, nicht auch jede Woche eine halbe Stunde seiner Zeit widmen würde, aber das bleibt doch meist vergebene Liebesmüh. Lilli hat einfach keine Lust zu üben. Immer diese blöden Tonleitern! Und so gut wie Irene wird sie ohnehin nie werden. Die drei Jahre Vorsprung kann sie doch niemals einholen. Nie wird sie es erleben, dass ihre Eltern andächtig auf der Chaiselongue im Salon sitzen und ihrem Spiel lauschen, wie sie es gelegentlich bei Irene tun, wenn der Vater am Sonntagnachmittag sagt: »Komm, meine Große, spiel deinen Eltern mal was Schönes vor. Wollen doch mal sehen, was der gute Lamprecht dir so beibringt.« Neuerdings musizieren Vater und Irene sogar gemeinsam. Er thront dann gutmütig lächelnd hinter seinem Cello, und Irene starrt konzentriert auf ihre Finger und kaut auf ihrer Unterlippe. Lilli sitzt in Feiertagskleidchen und weißen Kniestrümpfen neben der Mutter und macht ein miesepetriges Gesicht.

Da war es schon eine wunderbare Fügung des Schicksals, dass die neue Turnlehrerin Lilli vor einiger Zeit den Tischtennisschläger in die Hand gedrückt hatte: »Komm, Lilli, versuch du es mal!« Gut, am Anfang hatte sie natürlich immer wieder daneben geschlagen, war einmal im Eifer des Gefechts sogar gestolpert und hatte sich das Knie aufgeschrammt. Aber auch das hatte sein Gutes gehabt, denn das Knie war in der Schule nur notdürftig verbunden worden. Am Abend hatte der Vater sie, nachdem er die Wunde bemerkt hatte, in sein Arbeitszimmer gerufen und vor sich auf einen Stuhl gesetzt. Dann hatte sie von ihrem Unfall berichtet, nicht ohne ihren vollen Körpereinsatz beim Tischtennis gebührend in Szene zu setzen. »Ja, da müssen wir wohl schwere Geschütze auffahren«, sagte der Vater augenzwinkernd und machte den großen Arztkoffer auf, um das kleine braune Jodfläschchen herauszuholen. Ein paar Tropfen auf ein Wattebäuschchen und dann: »Zähne zusammenbeißen, junge Dame!« Die Anerkennung, mit der der Vater sie bedachte, und das dicke, dramatisch wirkende Pflaster waren ein großer Trost gewesen.

Ohne Fleiß kein Preis, sagte der Vater immer. Und da hat er recht. Aber das rasante Spiel macht ihr wirklich Spaß. Sie ist reaktionsschnell und wendig und schlägt die meisten Gegner in die Flucht. In ihrer Altersgruppe ist Lilli schon die Schulbeste, und bald wird sie vielleicht schon in einem richtigen Tischtennisclub spielen. Ihr Vater sähe es lieber, wenn sie für das Klavier oder irgendein anderes Instrument derartig viel Enthusiasmus aufbrächte, aber ihr Eifer lässt ihn doch nicht unbeeindruckt. Er wird schon seine Zustimmung geben.

Die Mädchen umringen Lilli, umarmen sie und gratulieren ihr. Auch die Lehrerin klopft ihr anerkennend auf die Schulter. Der Rothaarige steht etwas verdattert am Rand, während seine Freunde auf ihn einreden und ihm erklären, was er falsch gemacht hat. Der Tischtennisclub sei genau das Richtige für sie, sagt die Lehrerin, als sie sich am Ausgang der Sporthalle verabschieden. Lilli ist überzeugt davon.

Kapitel 1
Eine preußische Familie

Wurzeln in Posen

Immer wieder stolpert man in Berichten US-amerikanischer Zeitungen aus den späteren 1940er Jahren über den Hinweis, Lilli Palmer sei in Wien geboren, ja, bei dem Star handele es sich gar um eine Österreicherin. In einem Beitrag in den Newark Evening News, der den Lesern die talentierte und überaus hübsche Entdeckung in Fritz Langs neuestem Film Cloak and Dagger (dt. Im Geheimdienst) vorstellt, wird sogar erwähnt, Palmer sei im Wien-Berlin-Express geboren. Ihre hochschwangere Mutter sei in einem Eisenbahnwaggon niedergekommen, und der mitreisende Vater – glücklicherweise Arzt – habe die Entbindung selbst vorgenommen.3

Später gestand Lilli Palmer, sie habe als junge Schauspielerin auf einer Pressekonferenz in London diese spektakuläre Geschichte erfunden, um die Aufmerksamkeit der Reporter zu erhaschen.4 Es gibt aber noch eine weitere Erklärung dafür, dass viele die Schauspielerin während ihrer Zeit in Paris, London und Hollywood für eine Wienerin hielten. In ihren Memoiren berichtet Palmer, dass ihre Schwester Irene und sie im Paris der 1930er Jahre als Les Sœurs Viennoises durch die Nachtclubs tingelten und behaupteten, Österreicherinnen zu sein, weil es damals ratsamer schien, nicht mit den nationalsozialistischen Deutschen identifiziert zu werden: »›Les Sœurs Allemandes‹ wäre zu dieser Zeit nicht opportun gewesen. Wenn man sich als Österreicherin ausgab, linderte man den harten Schlag.«5 Wer weiß, vielleicht konnte man den harten Schlag auch in den 1940er Jahren noch ein wenig lindern, indem man eine österreichische Herkunft reklamierte. Vielleicht klang Wien in den unmittelbaren Nachkriegsjahren immer noch kosmopolitischer, harmloser als das säbelrasselnde Preußen, das man doch maßgeblich verantwortlich machte für den Großmachtanspruch Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den Aufstieg der Nationalsozialisten. Berlin, das klang nach Marschmusik, man sah vor seinem geistigen Auge Uniformierte mit Stahlhelmen, martialische Fackelumzüge durchs Brandenburger Tor. Wien – da schwang immer noch ein bisschen k.-u.-k.-Nostalgie mit, da rauschte die blaue Donau, das war noch immer ein wenig die gute alte Zeit. Selbst die Tatsache, dass Adolf Hitler Österreicher war, konnte diesem positiven Bild zunächst nicht viel anhaben. In einer Zeit, da Preußen als »Träger des Militarismus und der Reaktion«6 als Hauptschuldiger am Aufkommen des Nationalsozialismus und der Katastrophe zweier Weltkriege ausgemacht schien und der preußische Staat im Februar 1947 per Gesetz durch den Alliierten Kontrollrat aufgelöst wurde, lag der Gedanke, sich von diesem Schurkenstaat zu distanzieren, vielleicht auf der Hand. Den Selbstvermarktungsgesetzen Hollywoods entsprechend wäre eine solche Maßnahme jedenfalls nicht abwegig gewesen.

Palmer selbst hat sich später immer wieder als »preußische Ameise« bezeichnet. Vermutlich hat sie viele Jahre gebraucht, um ihr preußisches Erbe anzunehmen, um das Positive herauszufiltern und vom Negativen, Unheilvollen zu trennen. Gerade bei Emigranten lassen sich Fragen der Identität und Zugehörigkeit häufig nicht mit einem Satz beantworten. Um zu verstehen, welche Werte, welche Maxime Lilli Palmer leiteten, egal welche Sprache um sie herum gesprochen wurde, ob sie in einem Pariser Nachtclub tanzte und sang, ob sie durch die umtriebigen Londoner Straßen hetzte, immer in der Hoffnung auf das nächste Engagement, ob die Sonne Kaliforniens auf sie niederschien oder das begeisterte Publikum am Broadway ihr tosenden Applaus spendete, muss man einen Blick auf ihre Familie, ihre frühe Kindheit und Jugend werfen.

Lilli Marie Peiser wurde geboren, als das alte Europa seinen letzten Frühling erlebte. Immer wieder waren die benachbarten Staaten des Kontinents in den vorangegangenen Jahren aneinandergeraten. Krisen, deren Ursprünge aus Berliner, Pariser, Wiener Sicht an den Peripherien der Erde lagen, ließen die Mächtigen mit den Säbeln rasseln, schlugen in der Presse Wellen und erhitzten die Gemüter. Es herrschte Misstrauen in Europa. Und doch roch es im Mai 1914 eher nach Flieder als nach Krieg. An den Champs-Élysées saßen Männer und Frauen bei einer Tasse Café Crème oder einem Glas Pastis, die Londoner hatten die Picknicksaison eröffnet und begaben sich an den Wochenenden auf Landpartien an die südenglische Küste, und die Damen und Herren der Berliner Gesellschaft flanierten, ausgestattet mit Sonnenschirm und Hut, den Kurfürstendamm entlang und genossen die milde Frühlingsluft. Bislang hatte man noch jede Krise entschärft, hatten sich die Regierungen an der Seine, der Donau, der Spree, der Newa und der Themse noch immer irgendwie geeinigt. Warum sollte das in Zukunft anders sein?

Auch der Ort, an dem Lilli Peiser die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte, verweist auf geopolitische Machtverhältnisse, deren Tage im Frühling 1914 gezählt waren. Posen, jahrhundertelang Teil des polnischen Königreiches, war im 18. Jahrhundert durch die polnischen Teilungen, bei denen sich die Habsburger, die Hohenzollern und die russische Kaiserin Katharina bei ihrem kleineren Nachbarn mit je einem großen Stück bedient hatten, an Preußen gefallen. Kurzzeitig verloren die Hohenzollern das Gebiet während der napoleonischen Kriege an das Herzogtum Warschau, bekamen es aber auf dem Wiener Kongress 1815 wieder zugesprochen. Mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde Posen Teil des neuen Kaiserreiches und Deutsche, Polen und Juden, die hier lebten, wurden allesamt zu deutschen Staatsbürgern. In der Provinz wurde Polnisch, Deutsch und Jiddisch gesprochen, doch seit 1871 sahen sich diejenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch war, zunehmenden Germanisierungsbestrebungen ausgesetzt. Dies traf die katholische polnischsprachige Bevölkerung besonders hart, da im Zuge des Kulturkampfes darüber hinaus die Vorrechte des katholischen Klerus immer mehr beschnitten wurden. Die jüdische Bevölkerung dagegen orientierte sich vielfach bereitwilliger an der deutschen Kultur und Sprache, betrachtete sich zunehmend als deutsch.

In der Stadt und der Provinz Posen existierte jahrhundertelang eine große jüdische Gemeinde. Der jüdische Bevölkerungsanteil lag in der Provinz Posen im Jahr der Reichsgründung 1871 bei knapp vier Prozent. In der Stadt Posen waren um 1800 23 Prozent aller Einwohner jüdisch. Im Laufe des 19. Jahrhunderts nahm diese Zahl ab, da wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation und vor allem der großen Missernte im Jahr 1846 viele Juden ihr Glück in Übersee und in den westlich liegenden Großstädten suchten. Die meisten von ihnen zog es nach Berlin. Zwischen 1871 und 1910 stieg die Anzahl jüdischer Einwohner in Berlin von 36325 auf 144 043, im gleichen Zeitraum sank sie in der Provinz Posen von knapp 62000 auf 26512.7

Während viele jüdische Gemeinden in Preußen im 19. Jahrhundert infolge von Emanzipation und Aufklärung eine Phase der Reform und Liberalisierung durchliefen, blieb die Provinz Posen der Orthodoxie weitgehend treu und hielt an ihrem Erbe fest. Der letzte große Rabbiner traditioneller Prägung war der Posener Rabbiner Akiba Eger (1761–1837), ein ausgewiesener Talmud-Kenner und Kasuist. Eger war weit über die Grenzen der Provinz hinaus berühmt. Energisch und streitbar vertrat er die Meinung, dass selbst die kleinste, scheinbar unbedeutendste Änderung des jüdischen Gesetzes oder auch eines tradierten Brauches das gesamte Judentum in Gefahr bringen würde, und er wehrte sich vehement gegen die Einführung weltlicher Studien an jüdischen Schulen.8 Doch die Blütezeit der Kehilla, der traditionellen jüdischen Gemeinde, war auch in Posen im ausgehenden 19. Jahrhundert längst vorbei, zu spürbar war der Zugriff des modernen säkularen Verwaltungsstaats auf die vormals weitgehend selbstverwalteten Gemeinden. Plötzlich wollten Staatsbeamte mitreden, wie die Juden ihre Rabbiner wählten, ihre Kinder erzogen und ihre Toten bestatteten.

In dieser Provinz weit im Osten des Reiches lebten Lilli Palmers Vorfahren väterlicherseits. Vermutlich stammten die Ahnen der Familie aus der Stadt Peisern, dem heutigen Pyzdry in Polen, die ihnen auch ihren Namen gab.9 Lilli Palmers Urgroßvater, Louis Peiser, wurde 1806 geboren. Im selben Jahr erhoben sich die Polen erfolgreich gegen die Preußen und erlangten mit Hilfe Napoleons im Herzogtum Warschau ihren eigenen Staat, der ihnen allerdings, wie bereits erwähnt, wenig später durch die Restaurationsbeschlüsse des Wiener Kongresses wieder genommen wurde. Louis Peiser heiratete Jette Warschauer, die Tochter eines Chasan, eines Kantors. Das Paar eröffnete am Posener Marktplatz einen Kolonialwarenhandel, der rasch expandierte. Die Firma Louis Peiser und Söhne handelte mit Zucker und Getreide und florierte schon bald vor allem durch Lebensmittellieferungen an die Armee und die Versorgung eines Kriegsgefangenenlagers, das infolge des Deutsch-Französischen Krieges 1870 in einer Festung in der Nähe der Stadt Posen eingerichtet worden war.10 Als der Krieg zu Ende ging, war die Familie Peiser zu einigem Wohlstand gelangt und ins gut situierte Wirtschaftsbürgertum der Stadt aufgestiegen. Louis’ Sohn Samuel kam im Jahr der Deutschen Revolution von 1848 zur Welt. Im selben Jahr erhob man sich in Posen, inspiriert von den revolutionären Ereignissen in Europa, erneut zu einem Großpolnischen Aufstand. National gesinnte Polen forderten die Loslösung von Preußen und die Gründung eines eigenen Staates. Preußische Truppen aber schlugen den Aufstand rasch nieder.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lockte die Neue Welt mit ungeahnten wirtschaftlichen Freiheiten und vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten. Auch der junge Samuel Peiser folgte dem Ruf und schiffte sich 1864 nach Amerika ein. Offenbar bewies er ein glückliches Händchen, denn nur fünf Jahre später kehrte er als wohlhabender Mann zurück, etablierte sich als Kaufmann in seiner Heimatstadt und heiratete die überaus hübsche Marie Posner. Auch hier liefen die Geschäfte, der Familie ging es gut. Die Peisers, fromme Juden, bekannten sich voller Überzeugung zum preußischen Staat und zur deutschen Kultur und Sprache. Man legte viel Wert auf die Erziehung und Ausbildung der fünf Kinder, Selma, Amanda, Julia, Alfred und Heinrich, wobei die Eltern wohl die größten Hoffnungen für die Söhne hegten. Ihr Vater Alfred, so Palmer, sei der Augapfel der Peisers gewesen. Man ermöglichte ihm nicht nur ein Medizinstudium, sondern stattete ihn finanziell so gut aus, dass er es sich leisten konnte, nach bestandenem Examen einige Zeit bekannten Medizinern zu assistieren und so sein Wissen zu erweitern.11

Samuel und Marie Peiser waren in dieser Hinsicht typische Vertreter des wohlsituierten städtischen Judentums einer Zeit, die der Historiker Jacob Toury die Phase des »Eintritts der Juden ins deutsche Bürgertum« genannt hat. Der Aufstieg ins Besitzbürgertum war vollbracht, der Grundstein gelegt. Die folgende Generation, also Alfred und seine Geschwister, taten den nächsten Schritt, eroberten die Gymnasien und Hochschulen und strebten in akademische Berufe. Wie im übrigen Kaiserreich lag auch in der Provinz Posen der Anteil der jüdischen Gymnasiasten und Hochschüler weit über dem Bevölkerungsanteil.12 Man identifizierte sich mit den Werten und Zielen des deutschen Bürgertums. Die neue Generation nutzte aber nicht nur die sich eröffnenden Chancen und verschaffte sich Zugang zu den Bildungseliten des Kaiserreiches, sie wandte sich nicht selten auch von der traditionellen jüdischen Observanz ab, die für die Elterngeneration noch selbstverständlich gewesen ist. Der junge Chirurg Alfred Peiser verstand sich als Wissenschaftler, er erklärte sich die Welt mit den Mitteln, die ihm die modernen Naturwissenschaften an die Hand gaben. Der Gott Abrahams und seine Gebote gehörten für ihn ebenso in ein vergangenes Zeitalter wie die komplizierten Bräuche und Traditionen, an denen seine Eltern noch immer festhielten. Dies führte vermutlich wenn nicht zu einem Generationskonflikt, so doch zumindest zu Spannungen zwischen Marie und Samuel Peiser und ihrem Sohn Alfred.

Brisanter wurde die Situation allerdings noch, als der junge Mann sich als Braut nicht etwa die Tochter eines angesehenen Arztes oder eines erfolgreichen Kaufmannes ausguckte, sondern eine Schauspielerin. In einer Zeit, in der der Begriff Schauspielerin noch immer weitgehend bedeutungsgleich mit Hure gebraucht wurde, kann man sich die Erschütterung im Hause Peiser lebhaft vorstellen. Und doch kam Rose Lissmann, wie Palmer betont, aus »anständigem Hause«, ein Umstand, der auch dem Bräutigam ungemein wichtig war. Und nicht nur das: die junge Dame musste selbstredend noch Jungfrau sein und sich verpflichten, ihre hoffnungsvolle Theaterkarriere umgehend an den Nagel zu hängen.13 Eine weitere Bedingung, die Lilli Palmer in ihrer Autobiographie bei der Vorstellung ihrer Mutter nicht erwähnt, die aber offenbar ebenso selbstverständlich war wie die Tatsache, dass die junge Frau aus einer ordentlichen, will sagen, bürgerlichen Familie kam, war der Umstand, dass Rose Lissmann einer jüdischen Familie entstammte. Das war wichtig, auch für Alfred Peiser – obwohl dieser doch zum damaligen Zeitpunkt dem Gott der Väter schon mehr und mehr die kalte Schulter zeigte.

Rose Lissmann war die jüngste von fünf Töchtern Hermann Lissmanns und seiner Frau Julie. Geboren wurde sie am, von Posen aus gesehen, entgegengesetzten Ende des Reiches, weit im Westen. Die Lissmanns lebten in Ehrenbreitenstein bei Koblenz, dort, wo Mosel und Rhein zusammenfließen, in der preußischen Rheinprovinz. War die Provinz Posen bedeutend für das mitteleuropäische Judentum, so reichte die jüdische Geschichte in der Gegend um Mosel und Rhein noch sehr viel weiter zurück. Erste jüdische Ansiedelungen gab es vermutlich schon in der Antike. In den Städten Speyer, Worms und Mainz blühte im Mittelalter das jüdische Geistesleben. Hier existierten berühmte Jeschiwot, jüdische Hochschulen, und hier lebten und arbeiteten hochangesehene jüdische Gelehrte wie der legendäre Schlomo Ben Jizchak, genannt Raschi. Auch die jüdische Gemeinde in Koblenz bestand bereits im 12. Jahrhundert.

Roses Vater, Hermann Lissmann, war im Weinhandel tätig wie viele Juden in dieser Gegend. Palmer zufolge war der Großvater aber kein besonders guter Geschäftsmann, und schon bald musste er seinen Laden aufgeben. Er versuchte sein Glück daraufhin in Dresden, wo er eine kleine Hutfabrik übernahm. Lilli Palmer berichtet in ihrer Autobiographie sehr liebevoll von den Erinnerungen der Mutter an ihre Jugend: »Für meine Mutter sowie für ihre Schwestern waren die Kindheitstage aus purem Gold.« Die fünf Lissmann-Mädchen verlebten in Dresden eine glückliche Kindheit, obwohl sich auch hier der ökonomische Erfolg nicht recht einstellen wollte. Das Geld war weiterhin knapp. Eine ziemlich ramponierte Puppe musste den fünf Schwestern als Spielzeug genügen, der Speiseplan war eintönig und karg, Ferienreisen gab es nicht. Gleichzeitig wurde peinlich genau auf die Aufrechterhaltung der bürgerlichen Statussymbole geachtet. Man beschäftigte selbstverständlich ein Dienstmädchen, ließ die Kinder hübsch drapiert vom Hoffotografen ablichten, und am Sonntagnachmittag spazierte man in Feiertagsgarderobe durch den Park.14

Fester Wille, Zähigkeit und Eigensinn hätten die Mutter von Jugend an ausgezeichnet, so Lilli Palmer. Darüber hinaus bewies Rose Lissmann auch ein gewisses strategisches Geschick, denn es gelang ihr, die Mutter für ihren Plan, Schauspielerin zu werden, zu gewinnen. Heimlich nahm sie Schauspielunterricht, und mit einundzwanzig Jahren ergatterte sie ihr erstes Bühnenengagement in Aschaffenburg. Im Jahr darauf wurde sie vom Stadttheater Breslau engagiert. Auf der Breslauer Theaterbühne sah der junge Assistenzarzt Alfred Peiser Rose zum ersten Mal und wurde zu ihrem glühenden Verehrer. Er setzte alles daran, die Schauspielerin kennenzulernen, und hatte schließlich Erfolg. Eigensinn bewies Rose Lissmann also nicht nur bei der Berufs-, sondern auch bei der Partnerwahl. Während ihre ältere Schwester Cilly noch brav den Mann heiratete, den der Vater ihr auserwählt hatte, den erfolgreichen Geschäftsmann Adolf Hirsch aus dem Örtchen Żnin in Posen, suchte sich Rose ihren Zukünftigen selber aus und verließ die ausgetretenen Pfade der arrangierten Ehe, die Generationen vor ihr eingeschlagen hatten. Vermutlich aber waren die Lissmanns mit Roses Wahl mehr als einverstanden, heiratete sie doch nicht nur einen aufstrebenden Arzt, sondern auch in eine angesehene und wohlhabende jüdische Familie. Nachdem auch Alfreds Eltern über den ersten Schock angesichts des Berufs der künftigen Schwiegertochter hinweg waren, heirateten Alfred und Rose.15

Kriegskind

In Lilli Palmers Autobiographie fließen die Kindheitserinnerungen der Mutter, die auf diese Weise vermutlich eine doppelte Verklärung erfuhren – erst in der Erzählung der Mutter, dann durch das Wiedererzählen der Tochter –, ineinander mit Palmers Erinnerungen an die eigene Kindheit. Die Zeit erscheint, vor allem vor dem Hintergrund des unaussprechlich Grauenvollen, was danach kommen sollte, rundum unbeschwert und glücklich. Beschrieben wird eine heile Welt, ein Aufwachsen im engen Geschwisterkreis, erzogen von strengen, aber liebevollen Eltern in bürgerlichem Ambiente. Und doch liegen Welten zwischen diesen beiden Kindheiten, denn Lillis erste Lebensjahre waren geprägt vom Krieg. Dieser Krieg, den man später den Ersten Weltkrieg nennen sollte, verwandelte den Kontinent in ein Schlachtfeld und kostete Millionen von Menschen das Leben, er machte junge Männer zu Invaliden, Ehefrauen zu Kriegerwitwen und Kinder zu Waisen. Darüber hinaus stellte er die Welt, wie man sie bislang kannte, in Frage. Der Erste Weltkrieg leitete eine Zeit alles erfassenden Wandels ein16 und war zugleich »Hauptursache und Symptom des Zerfalls der bürgerlichen Gesellschaft«17, Ausdruck eines Niederganges, der sich bereits seit einiger Zeit angedeutet hatte und der die deutschen Juden in besonderem Maße traf. Denn das moderne aufgeklärte deutsche Judentum war ein Produkt der liberalen bürgerlichen Gesellschaft. Die liberale Bewegung hatte zur kulturellen und sozialen Assimilation ermuntert, und die Mehrheit der Juden verschrieb sich überschwänglich den liberalen Ideen. Das deutsche Judentum profitierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts besonders von der Verbürgerlichung der Gesellschaft und war gleichzeitig ihr eifrigster Förderer und überzeugtester Befürworter. Seit den 1880er Jahren aber war im Deutschen Reich wie auch in Österreich-Ungarn ein zunehmender Trend zum Konservatismus auszumachen. Antiliberale, nationalistische, imperialistische und antisemitische Kräfte gewannen an Einfluss. In Berlin gründete der Hofprediger Adolf Stoecker 1879 die erste antisemitische Partei. Mit seinen Hetzpredigten erreichte er ein Massenpublikum. Der Historiker Heinrich von Treitschke äußerte in einem berühmt gewordenen Artikel in den Preußischen Jahrbüchern seinen Unmut über den Liberalismus und seine Auswirkungen auf die deutsche Kultur und Gesellschaft und prägte den unheilvollen Satz, der später in fetten Lettern auf jeder Titelseite des nationalsozialistischen Hetzblattes Der Stürmer zu lesen sein sollte: »Die Juden sind unser Unglück.« In Wien wurde Karl Lueger mit seiner antiliberalen, antisemitischen Christsozialen Partei im Jahr 1897 Bürgermeister der Stadt.18 Immer tiefer drang antiliberales und antisemitisches Gedankengut in das deutsche Bürgertum des Kaiserreiches ein. Die israelische Historikerin Shulamit Volkov konstatiert, dass der Antisemitismus im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem »kulturellen Code« wurde, zu einem Signum kultureller Identität.19

Als am 28. Juni 1914, die kleine Lilli war gerade mal vier Wochen alt, der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie in Sarajevo einem Attentat zum Opfer fielen, schien Europa einen Moment den Atem anzuhalten. Aber dieses Mal versagten die Vermittlungs- und Krisenbewältigungsstrategien, die die Großmächte in den vorangegangenen Jahren vor einer Eskalation der zahlreichen kleineren Konflikte bewahrt hatten. Einen Monat nach der Ermordung des Thronfolgerpaares erklärte Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg. Hektische Mobilmachung in den europäischen Staaten war die Folge. Am 4. August sprach Kaiser Wilhelm II. im Reichstag und erklärte: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.« Die deutschen Juden hörten diese Worte mit Begeisterung, war doch der Krieg die Gelegenheit, ihre Liebe und Opferbereitschaft für das Vaterland, die von konservativen und reaktionären Kreisen immer wieder in Zweifel gezogen worden waren, ein für alle Mal unter Beweis zu stellen. Man stellte sich größtenteils stramm hinter die deutsche Kriegspolitik und eilte diensteifrig zu den Waffen. In den Synagogen des Reiches, orthodoxen wie liberalen, folgte man begeistert Kaiser Wilhelms Aufruf, für das Vaterland und seinen heiligen Krieg zu beten.20

Auch Lillis Vater wurde eingezogen. Rose Peiser blieb mit den beiden Kindern in Posen, mit der dreijährigen Irene und dem Baby Lilli. Wie so viele Frauen in Kriegszeiten war Rose die folgenden Jahre alleinerziehend – Alfred kam nur sporadisch für kurze Heimaturlaube nach Posen –, und Lilli verbrachte die prägenden ersten vier Jahre ihres Lebens mehr oder weniger vaterlos. In ihren Erinnerungen schreibt Palmer, dass sie als mittlere Tochter, die zu Beginn des Weltkrieges geboren wurde, den Vater am wenigsten kannte. Ihre Schwester Irene, 1911 geboren, hatte den Vater die ersten Lebensjahre für sich allein gehabt, die jüngste Schwester Hilde wurde erst nach dem Krieg geboren. Als der Vater endlich aus dem Feld zurückkam, nannte die vierjährige Lilli den unbekannten Mann hartnäckig »Onkel«: »Die Jahre der ersten, entscheidenden Intimität fehlten, und wir konnten sie beide nie nachholen.«21

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