Mobbing
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Handbuch für Mobbing-Betroffene, ihre Angehörigen und Menschen, die sich und andere vor Mobbing schützen wollen
Christoph Bisel
© 2019 Christoph Bisel - II. Auflage
Die Scheu vor der Verantwortung
ist eine Krankheit unserer Zeit.
Otto Eduard Leopold Fürst von Bismarck (1815 - 1898),
preußisch-deutscher Staatsmann und erster Reichskanzler im
Norddeutschen Reichstag, am 1. März 1870
Soll ich meines Bruders Hüter sein?
1. Buch Moses, 4, 9
Fachleute schätzen, dass es in Deutschland mehr als eine Million von Mobbing betroffene Menschen gibt und in der Schweiz über hunderttausend. Damit ist nicht gemeint, dass eine Million Menschen irgendwann einmal in den letzten zehn Jahren gemobbt worden wären, sondern dass ganz aktuell über eine Million Menschen ein tagtägliches Martyrium erleiden, das in vielen Fällen zu physischen und psychischen Erkrankungen führt. Dabei ist zu sagen, dass die Daten ausschließlich Mobbing am Arbeitsplatz meinen, nicht mobbingähnliche Vorkommnisse in Vereinen, Schulen, Hausgemeinschaften oder Familien[1]. Das menschliche Leid, das hier entsteht, ist riesig, der volkswirtschaftliche Schaden geht in die Milliarden.
Als Gutachter und Sachverständiger im Mobbing-Kontext stelle ich in vielen Fällen fest, dass Arbeitgeber, aber auch Menschen im Umfeld der Betroffenen in Fällen von Mobbing gerne wegsehen. Das passiert nicht, weil es schlechte Menschen wären, sondern in den meisten Fällen aus einer Hilflosigkeit heraus. Sie sind überfordert. Auch die Politik scheint Mobbing-Betroffene weitgehend im Stich zu lassen. Mobbing ist ein Un-Thema, über das kaum jemand reden will, auch die Betroffenen nicht.
In vielen Fällen lautet eine der ersten Fragen, die man mir als Mobbing-Experten in Beratungen stellt, wie folgt: »Ist das, was ich erlebe, wirklich Mobbing?« Viele Betroffene fürchten sich davor, was sie tagtäglich erleben als Mobbing zu bezeichnen, weil sie befürchten, damit ihren Peinigern eine neue Angriffsfläche zu bieten.
Als Nicht-Betroffener kann man sich die Situation eines gemobbten Menschen kaum vorstellen. Versuchen wir es trotzdem: Wenn jemand Sie einmal beleidigt, verbal oder körperlich angreift, dann werden Sie sich in etwa denken: »Was für ein Idiot!«, und sich je nach Ihren Möglichkeiten auch verteidigen. Wenn dies nun über eine längere Zeit hinweg immer wieder vorkommt und Sie eventuell sogar miterleben, dass sich Kollegen oder gar Vorgesetzte mit dem Aggressor entweder solidarisieren oder zumindest wegschauen, besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich ganz allmählich zu fragen beginnen: »Was stimmt nicht mit mir?«
Ist ein Mensch davon überzeugt, dass etwas nicht an ihm stimmt, dann ist er sozusagen in die Mobbing-Falle gegangen. Sein Widerstand wird schwächer oder fällt ganz weg, und er wird in vielen Fällen von der Frage beherrscht, welchen Angriff er wohl als Nächstes zu erwarten hat. Immer wieder stelle ich fest, dass manche Klienten seit Jahren gemobbt werden - oft auch von Vorgesetzten oder mit deren Wissen - und die Idee eines Stellenwechsels ihnen trotzdem fernliegt. Sie sind überzeugt, dass etwas an ihnen an ihrer Persönlichkeit, ihrer Arbeit ... - nicht stimmt und sie dankbar sein müssten, dass sie an der betreffenden Stelle geduldet werden. Die Vorstellung, ein anderer Arbeitgeber würde einen derart »minderwertigen« Mitarbeiter wie sie einstellen, ist undenkbar.
Manche Menschen flüchten sich vor einer solchen Situation in Alkohol, andere in irgendwelche Zweitrealitäten wie Games, virtuelle Welten etc. Viele werden über kurz oder lang physisch krank und eine erschreckend hohe Zahl entscheidet sich irgendwann, sich dieser Qual durch Selbstmord zu entziehen. Fachleute sprechen davon, dass beispielsweise in Deutschland mehr Menschen durch Suizid infolge von Mobbing sterben als im Straßenverkehr.
In meiner Praxis lerne ich viele Menschen kennen, die unter Mobbing leiden. Immer wieder stelle ich fest, dass sich viele von ihnen schämen, gemobbt zu werden. Es gibt Klischees, dass nur Verlierer gemobbt würden oder und nur wenig leistungsfähige, schwache Menschen. All das stimmt nicht. Meine Klienten sind etwa zu gleichen Teilen Männer wie Frauen, Menschen mit geringem Einkommen und solche in gehobenen Positionen bis hin zur Geschäftsleitung von Unternehmen. Viele davon sind exzellente Angestellte mit Durchsetzungskraft. Das typische »Mobbing-Opfer« gibt es also nicht, und schon das Wort »Opfer« suggeriert etwas, was so nicht existiert. Aus diesem Grund ist der Ausdruck »Mobbing-Betroffene« vorzuziehen.
Ich schreibe dieses Buch aus zwei Gründen. Zum einen bin ich mir bewusst, dass ich in meiner Praxis nicht allen hunderttausend Mobbing-Betroffenen in der Schweiz beistehen kann und noch viel weniger der Million an Gemobbten in Deutschland. Es hilft ihnen aber, wenn das Thema »Mobbing« offen diskutiert wird und statt des meist vorherrschenden Halbwissens korrekte Informationen vermittelt werden. Zum anderen soll das Handbuch jenen Menschen Mut machen, welche sich fragen, ob sie wirklich gemobbt werden, und die nicht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Man kann etwas gegen Mobbing tun und es gibt in allen deutschsprachigen Ländern gute Fachleute, die Sie unterstützen und beraten können. Daher möchte ich Ihnen ein paar Informationen an die Hand geben, um Ihnen zu helfen, den Teufelskreis »Mobbing« zu durchbrechen und zurück in ein glückliches Leben zu finden.
Ihr Christoph Bisel
2014
PS: Natürlich sind mit allen Aussagen immer Personen beiderlei Geschlechts gemeint. Der besseren Lesbarkeit wegen wird zumeist nur die männliche Form verwendet.
[1] Der wissenschaftliche „Mobbing“-Begriff bezieht sich auf Handlungen am Arbeitsplatz. Vergleichbare Handlungen in anderem Kontext (Schule, Nachbarschaft etc.) fallen wissenschaftlich betrachtet nicht unter den Mobbing-Begriff
Das Buch wurde der Übersichtlichkeit halber in drei Themenbereiche und einen Anhang unterteilt.
Als Einstieg finden Sie einen kleinen Selbsttest zur Frage: »Werde ich gemobbt«. Dieser Test kann jedoch nur eine ganz oberflächliche Antwort auf die Frage »Mobbing?« oder »Kein Mobbing?« geben. Ein derart komplexes Thema lässt sich nicht mit ein paar Standardfragen abhandeln. Trotzdem: die Frage brennt vielen Lesern unter den Nägeln, und so erscheint es wichtig, als Einstieg darauf eine Antwort zu geben.
Die drei enthaltenen Themenbereiche sind »Wissen«, »Aktiv werden« und »Vorbeugen«.
Im Bereich »Wissen« finden Sie Informationen zum Thema Konflikt und Mobbing. Damit erlernen Sie die Grundlagen zur Theorie und verstehen auch besser, wenn »Fachleute« mit Ihnen oder über Sie sprechen, was sie meinen und worauf sie sich beziehen.
Der Bereich »Aktiv werden« zeigt Ihnen, wie Sie sich gegen Mobbing ganz konkret wehren können. Er gibt Antwort auf die Frage: »Was kann ich tun, wenn ich gemobbt werde?«
Der Abschnitt »Vorbeugen« schließlich beantwortet die Fragen: »Was kann ich tun, damit ich selbst nicht zum Mobbing-Opfer werde?« und »Was kann ich als Vorgesetzter tun, damit Mobbing in meiner Firma möglichst nicht vorkommt?«
Kreuzen Sie im nachfolgenden Formular die Erlebnisse an, die Sie in Ihrem Berufsalltag erfahren. Anschließend schreiben Sie in der hintersten Spalte die geschätzte Anzahl der Vorfälle dazu.
Handlung |
Wie oft / Monat? (Schätzung) |
|
O | Hinter Ihrem Rücken wird schlecht über Sie gesprochen. | |
O | Sie werden bewusst ignoriert (kein Grüßen, Wegsehen, nicht Antworten). | |
O | Kollegen machen Sie lächerlich. | |
O | Ihnen werden Arbeiten übertragen, die Sie unter- oder überfordern. | |
O | Ihre Kompetenz und Entscheidungen werden infrage gestellt. | |
O | Man gibt Ihnen Arbeiten, die Ihrer Gesundheit oder Ihrem Ansehen schaden können. | |
O | Ihnen wird körperliche (oder sexuelle) Gewalt angedroht. | |
O | Ihre Äußerungen werden ignoriert oder Ihnen wird sogar der Mund verboten. | |
O | Sie werden dauernd unterbrochen. | |
O | Sie werden mit Telefon-, Mail- oder Briefterror belästigt. | |
O | Chef und/oder Kollegen machen Andeutungen, die Sie nicht verstehen. | |
O | Kollegen bringen Gerüchte über Sie in Umlauf. | |
O | Ihnen gegenüber werden entwürdigende Schimpfworte verwendet. | |
O | Sie werden körperlich attackiert. | |
O | Für Ihre Arbeit wichtige Informationen werden Ihnen bewusst vorenthalten oder zu spät geliefert. | |
O | Kollegen verstummen oder ändern das Thema, wenn Sie den Raum betreten. | |
O | Kollegen weigern sich, mit Ihnen zusammenzuarbeiten | |
O | Ihnen werden für einfachste Arbeiten laufend neue Vorschriften gemacht. | |
O | Ihnen werden falsche Auskünfte gegeben, die Sie bei Ihrer Arbeit behindern. | |
O | Sie werden bei Vorgesetzten angeschwärzt. | |
O | Sie werden sexuell belästigt. | |
O | Es wird Ihnen keine Arbeit gegeben. | |
O | Ihre Vorschläge werden prinzipiell abgelehnt. | |
O | Sie werden bewusst aus Entscheidungsprozessen ausgeschlossen, in denen Sie aufgrund Ihrer Position und Stellenbeschreibung mitentscheiden müssten / dürften. | |
O | Man macht sich über Ihr Privatleben (Hobbys, sexuelle Orientierung, Familie etc.) lustig. | |
O | Es wird der Verdacht geäußert, Sie seien psychisch krank. | |
O | Sie werden wegen einer körperlichen oder psychischen Einschränkung verspottet. | |
O | Sie müssen sinnlose Aufgaben erledigen. | |
O | Man versucht, Sie finanziell zu schädigen indem man Ihr Eigentum oder Ihnen überlassene Arbeitsmaterialien entwendet, sie beschädigt oder zerstört. | |
O | Sie werden angeschrien oder »zur Schnecke gemacht«. | |
O | Ihr Arbeitsplatz wird so verlegt, dass Sie keinen Kontakt mehr zu den Kollegen haben. | |
O | Sie werden Dritten gegenüber schlechtgemacht. |
Je höher die Summe der Fälle (letzte Spalte), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie unter Mobbing leiden. Schon im Bereich von etwa 10 Fällen pro Monat ist die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen von Mobbing gegeben, bei über 20 Fällen liegt mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Mobbing vor.
Wie bereits erwähnt, bietet dieser Test nur einen Anhaltspunkt. Aus der Praxis gesprochen muss man klar unterscheiden zwischen dem, was womöglich in einer rechtlichen Auseinandersetzung oder einer wissenschaftlichen Studie als Mobbing bezeichnet würde, und dem, was für den Betroffenen seine ganz persönliche Realität ist. Nicht jeder empfindet Handlungen gleich. Wer sich gemobbt und somit verletzt fühlt und dadurch psychisch leidet, sollte sich in jedem Fall Unterstützung entweder im persönlichen Umfeld oder bei Fachleuten holen. Genauso wie jemand, der Kopfschmerzen hat, etwas dagegen unternimmt (Medikament, Arztbesuch etc.), so ist dies auch bei psychischen Verletzungen und Schmerzen sinnvoll.
Was ist Mobbing?
Wikipedia beginnt seinen Eintrag zum Thema Mobbing wie folgt:
»Mobbing oder Mobben steht im engeren Sinn für „Psychoterror am Arbeitsplatz mit dem Ziel, Betroffene aus dem Betrieb hinauszuekeln“. Im weiteren Sinn bedeutet Mobbing, andere Menschen ständig bzw. wiederholt und regelmäßig zu schikanieren, zu quälen und seelisch zu verletzen, beispielsweise Mobbing in der Schule, am Arbeitsplatz, im Sportverein, im Altersheim, im Gefängnis usw. Typische Mobbinghandlungen sind die Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen, die Zuweisung sinnloser Arbeitsaufgaben, Gewaltandrohung, soziale Isolation oder ständige Kritik an der Arbeit.«
Die wohl erfahrenste Fachfrau zum Thema Mobbing im deutschsprachigen Raum, Prof. Dr. Dr. Christa Kolodej, beschreibt Mobbing zu Beginn des Vorwortes zur ersten Auflage ihres Buches »Mobbing. Psychoterror am Arbeitsplatz und seine Bewältigung« mit folgenden Worten: »Mobbing. Für die Betroffenen bedeutet dies, ein Trauma bewältigen zu müssen, einen tiefen Schock erlitten oder auch einen innerlichen Bruch erlebt zu haben. Sie leiden unter gravierenden psychischen Beschwerden, die von Konzentrationsproblemen bis zu Depressionen und Selbstmordgedanken reichen. Mobbingerlebnisse haben bei lang anhaltender Dauer eine dermaßen traumatisierende Wirkung, dass sie von den normalen psychischen Kräften nicht mehr bewältigt werden können. Die Folge ist das Auftreten schwerwiegender physischer Folgeerscheinungen, die von Kopf- und Magenschmerzen, Übelkeit, Schweißausbrüchen, Ein- und Durchschlafstörungen bis zu Herz- und Kreislaufproblemen gehen können. Die Bedeutung so entstandener Krankheitssymptome verursacht jährlich enorme medizinische Kosten. Zudem entstehen Kosten für die Betriebe durch die Verschlechterung des Betriebsergebnisses, vermehrte Krankenstände, Motivations- und Leistungsabbau sowie die Fluktuation und Neueinschulungen aufgrund von Kündigungen.«
In diesem Heft werden wir Mobbing mit Fokus auf den Bereich der Arbeit betrachten. Vieles in Bezug auf Mobbing trifft zwar auch auf andere Bereiche zu, es sind hier aber auch spezielle Aspekte zu berücksichtigen. Zugunsten einer besseren Lesbarkeit werden Unterschiede und Spezialitäten anderer Bereiche von Mobbing in diesem Buch daher nicht dargestellt.
Den Begriff Mobbing prägte ursprünglich der Verhaltensforscher Konrad Lorenz, der damit beschrieb, wie sich eine Gruppe von Tieren zusammentut, um sich gegen einen an sich überlegenen Fressfeind zur Wehr zu setzen. Im konkreten Fall ging es um eine Gruppe von Gänsen, die sich gegen einen Fuchs wehrte. Heinz Leymann übertrug diesen Begriff Ende der 70er Jahre in den Kontext des Arbeitslebens. Im englischen Sprachraum wird dagegen im Allgemeinen von Bullying gesprochen, was sich vom Substantiv »Bully« ableitet, das man mit »brutaler Kerl, Schläger, Tyrann, Maulheld« übersetzen kann.
Im Allgemeinen spricht man von Mobbing, wenn jemand am Arbeitsplatz fortgesetzt beleidigt, schikaniert, gedemütigt oder auch daran gehindert wird, seine Arbeit korrekt auszuführen. Eine verbindliche, wissenschaftlich anerkannte Definition von Mobbing existiert allerdings nicht. Eine Mehrheit der mit dem Thema befassten Fachleute stimmt aber in vier Aspekten überein: