Inhalt

  1. Cover
  2. Über dieses Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Erstes Buch – Vom Wasser
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  7. Zweites Buch – Von der Erde
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  8. Drittes Buch – Von der Luft
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  9. Viertes Buch – Vom Feuer
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Über dieses Buch

Das Volk der Luxinen wohnt auf der sagenhaften Insel Aysalux. Sie sind mächtig und unsterblich, selbst Naturgewalten hören auf sie. Aber eines Tages wird ihre friedliche Welt bedroht. Grauenhafte Kreaturen überfallen die Insel und verschleppen einige der elfenhaften Bewohner in ihr düsteres Reich. Die junge Wasserluxine Algyra macht sich auf den Weg, um das Rätsel ihrer verschwundenen Artgenossen zu lösen und Ombaryon, ihren entführten Geliebten, zu retten. Mit ihren Gefährten trifft sie auf eine verhängnisvolle Allianz und schließlich auf eine verborgene Welt, die keiner je für möglich gehalten hätte …

Über den Autor

Tom Jacuba ist ein Pseudonym des Autors Thomas Ziebula. Er war bis Mitte der 90er Jahre Diakon, Sozialpädagoge und Trauerredner und schrieb vorwiegend Satiren und Kurzgeschichten für die Yellow Press sowie Kinderbücher. Seither ist er freier Autor und schreibt unter dem Namen Jo Zybell, Tom Jacuba und Ruben Laurin Fantasy, historische Romane und Krimis, die als Hardcover, Taschenbücher und Romanhefte erscheinen. Ziebula erhielt 2001 den Deutschen Phantastik-Preis und 2020 den »Golden Homer« für »Das weiße Gold der Hanse«. Sein Krimi »Der Rote Judas« ist für den Crime Cologne Award 2020 nominiert worden.

TOM JACUBA SCHREIBT ALS

JO ZYBELL

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Erstes Buch – Vom Wasser

Der Hohe Rat von Aysalux hat mich beauftragt, eine Chronik unseres Volkes, der Luxinen, zu verfassen. »Schwöre, die Wahrheit zu berichten und nichts als die Wahrheit«, verlangten sie, und ich schwor.

Die Wahrheit ist: Der Stern schlug ein, und nichts blieb, wie es war.

»Unsterbliche« nennen uns die Weisen unter denen, die vergehen und die wir die »Flüchtigen« nennen. Und bis heute glauben viele aus den Völkern der Zaoten, dass sie genau das seien: unsterblich. Auch ich habe das lange geglaubt – bis zu dem Tag, an dem fremde Schiffe aus dem Nebel vor der Küste von Aysalux auftauchten und die Goldenen zum ersten Mal angriffen.

Die Wahrheit ist: Ein Dutzend von uns schleppten sie mit sich, als sie wieder gingen, und doppelt so viele ließen sie erloschen zurück.

Meine eigene Geschichte ist schnell erzählt: Sechstausend Sonnenkreise nach dem Stern, der Großen Finsternis und der Landung meines Volkes, der Luxinen, am Strand von Aysalux, erblickte ich das Licht der Insel. Noch blutjung, machte der König mich zu seiner Königin. 7990 Sonnenkreise nach dem Stern begegnete ich Mysarion. Zehn Sonnenkreise später gebar ich eine Tochter. Der König, der sich für den Vater hielt, nannte sie »Algyra«. Ich nannte sie »Olga«. Ihre Geschichte will ich erzählen.

9007 nach dem Stern geschah es: Die Goldenen kamen. Hätten wir nicht da schon begreifen müssen, dass nicht nur uns, sondern allen Völkern der Zaoten ein grauenvoller Feind erstanden ist? Der König und der Hohe Rat jedoch schickten nur Mysarion und zwei Gefährten zum Festland, um die Goldenen zu verfolgen und den Weg zu ihrem Reich zu erkunden.

Die Wahrheit ist: Mysarion kehrte nicht zurück. Fünf Sonnenkreise später aber kehrten die Goldenen zurück.

Und damit beginnt die Geschichte Algyras.

Veda Venusya in der Chronik der Luxinen, 9912 n. d. S.

1

Zwei Segelschiffe pflügten durch die Wasserwüste des Nordmeeres. Keine Möwen kreisten hinter den Hecks, keine tanzenden Delphine begleiteten sie. Niemand palaverte auf dem Außendeck; niemand fluchte, niemand lachte.

Am Bug des vorderen Schiffes schirmte eine Frau ihre Augen mit beiden Händen ab und wagte einen Blick nach Westen. Dort flimmerte der rote Sonnenball eine Handbreite über dem Horizont. Sie schloss geblendet die Augen, blinzelte, und sah dann doch wieder hin. Da, wo sie herkam, gab es keine Sonnenuntergänge.

Ihre Haut war bleich, und obwohl ihre Züge weich, beinahe kindlich wirkten, lag etwas überaus Ernstes in ihrem Blick. Ein dunkelrotes Tuch hielt ihr das schwarze Haar aus dem Gesicht, über einem dunkelroten Gewand trug sie einen schwarzen Wildledermantel. Goldstickereien verzierten Stirntuch und Gewand: Meerespflanzen, Wasserwesen und Sterne.

Ihr Name spielt keine Rolle; niemand an Bord der beiden Schiffe benutzte ihn. Auch dort, wo sie herkam, sprachen nur wenige sie mit Namen an; Zweite Meisterin des Reinen Herzens nannte man sie zuhause. Wenige Tage vor ihrem Aufbruch nach Norden war sie noch die Dritte Meisterin des Reinen Herzens gewesen.

Der Wind hatte gedreht, blies nun von Süden und wühlte ihre schwarzen Locken auf. Ein Hüne in langem, grauem Gewand aus grobem Stoff tauchte neben ihr an der Reling auf; eine bis auf Augenschlitze und Atemgitter geschlossene Kapuze verhüllte ihm den Schädel und das Gesicht. Der Vermummte stieß ein dumpfes Brummen aus und deutete in Fahrrichtung, nach Norden. Er trug schmutzige Handschuhe aus grobem Wollstoff; hinter einigen brüchigen Stellen über den Fingerknöcheln schimmerte es rotgolden.

Die bleiche Frau riss sich vom Anblick des Sonnenballs los, zog ein Fernrohr aus dem Mantel und richtete es nach Norden. Am Horizont sichtete sie einen dunklen Punkt zwischen Himmel und Meer.

Die Insel. Endlich.

Steuerbords, zweihundert Fuß weit entfernt, segelte das zweite Schiff. Die Frau winkte hinüber, machte mit ein paar Handzeichen dessen Besatzung auf das Eiland aufmerksam. Ein Dutzend und mehr Vermummte sah man drüben, auf dem anderen Zweimaster. Sie standen schweigend im Ruderhaus, saßen schweigend auf dem Heckkastell und unter der Takelage oder spähten schweigend vom Bug aus aufs Nordmeer hinaus. Ein Kapuzenmann glich dem anderen, und alle glichen dem, der stumm neben der bleichen Frau stand.

Eine wie sie sah man nicht dort drüben.

Entlang der Steuerbordreling ging die Frau zum Heck, rief Befehle nach allen Seiten, winkte wieder zum zweiten Schiff hinüber. Die Vermummten kletterten in die Takelage, refften den Großteil der Segel, bereiteten die Ruderboote für die Landung vor. Einige versammelten sich am Bug beider Schiffe und sahen aufs Meer hinaus.

Die Zweimaster verloren nach und nach an Geschwindigkeit, schaukelten schließlich beinahe ohne Fahrt auf den Wellen. Die Insel wurde kaum noch größer. Vor dem Ende der bald heraufziehenden Nacht wollte die bleiche Frau sie nicht erreichen.

Sie stieg zum Ruderhaus hinauf. Durch das Bugfenster beobachtete sie den nördlichen Horizont. Wie eine Springflut über arglose Strandläufer sollt ihr über sie herfallen, hatte ihr der geboten, den sie verehrte, der einzige, der nun noch über ihr stand. Mit bloßem Auge war die Insel nicht zu erkennen. Und jetzt zog auch noch Nebel auf am Nordhorizont. Gut so.

Im Halbdunkeln setzte sie sich in einen Sessel neben den Vermummten, der das Steuerruder hielt. Rotgoldener Schimmer glänzte aus seinen Sehschlitzen. »Der Traumknecht hält den Kurs die ganze Nacht lang!«, befahl sie. »Kurz vor Sonnenaufgang werden sie sich am Strand ihrer Insel versammeln. Eine Stunde zuvor hissen die Traumknechte die Hauptsegel und lassen die Ruderboote zu Wasser. Danach wird alles sehr schnell gehen.«

Der Kapuzenmann brummte, ohne ein verständliches Wort auszusprechen. Die bleiche Frau wusste dennoch, dass er begriffen hatte und tun würde, was sie verlangte.

Sie blickte hinüber zum anderen Schiff. An seinem Bug hatten sich sechs Vermummte versammelt. Die hielten sich an der Reling fest, rührten sich nicht, starrten nur über das Meer nach Norden; und während sie standen und starrten, wuchs wie aus dem Nichts eine Nebelwand am Horizont.

Etwas mehr als ein Dutzend fuhren auf jedem Schiff; nicht alle würden den Heimweg antreten. Doch kaum ein Sechstel pflegte verloren zu gehen bei solchen Jagdmissionen. Selten mehr, denn jene, die man jagte, hielten sich für unsterblich und unangreifbar – auch die auf der Insel – und rechneten nicht mit einem Kampf. Noch besser sogar: Sie waren nicht gewohnt zu kämpfen.

Die Frau schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Rückenlehne ihres Sessels und bewegte murmelnd die Lippen. So verharrte sie eine Zeitlang. Halblaut rezitierte sie aus dem Buch der Urmeister – die Große Litanei des Sterns. Bald schweiften ihre Gedanken ab, kreisten um die anderen, die ebenfalls mit Traumknechten auf Meeren, Flüssen und in Wäldern unterwegs waren, um zu tun, was getan werden musste, kreisten schließlich um den Abtrünnigen, der vor ihr Zweiter Meister des Reinen Herzens gewesen war.

Zu vermessenen Plänen hatte sein Geist sich verstiegen. Die Angst herrschte dort, wo die Zweite Meisterin herkam, seit er seinen Eid gebrochen und dem Hohen Konsilium der Meister den Gehorsam aufgekündigt hatte. Niemand wusste ja, wo er hingegangen war, niemand wusste, welchen Schaden er anrichten würde.

Die Gedanken an ihn, den Verräter, bohrten sich wie Eiszapfen durch ihr Hirn. Sie versenkte sich tiefer in die Große Litanei des Sterns.

Später kletterte sie aufs Außendeck hinunter und ging wieder zum Vorderdeck. Der rote Sonnenball war bereits hinter dem Westhorizont versunken. Am Bug stützten sich vier Vermummte auf die Reling und spähten noch immer unentwegt nach Norden. Sie wirkten untätig, in Wahrheit aber arbeiteten sie angestrengt – die Nebelwand fern im Norden wuchs und wuchs.

Die bleiche Frau zog das Fernrohr aus dem Mantel und richtete es in Fahrrichtung. Nebelschwaden verhüllten bereits Teile des Horizonts; selbst durch das Fernrohr war die Insel kaum noch zu erkennen. Sie steckte es ein und wandte sich an die Kapuzenmänner. »Wir brauchen mehr Nebel!« Mit herrischer Geste winkte sie zum anderen Schiff hinüber. »Die Traumknechte sorgen für eine dichte Nebelwand!«

Aus schmalen Augen spähte sie nach Westen: Nach und nach verglomm dort das letzte Tageslicht über dem Horizont. Bald würde die Nacht anbrechen. Die Abschiedsworte dessen, den sie verehrte, klangen ihr im Ohr: Bringe so viele, wie du kriegen kannst, und bringe vor allem ihre Stärksten.

Neun Stunden noch etwa, dann war es soweit.

2

Eine Gestalt in Blau, schmal und mit dunkelrotem Haar, so stand sie im Steilhang: Algyra. Der Saum ihres Kleides und ihre langen Locken flatterten im Südwind. Wie Perlen glänzten ihre Zähne im Abendlicht, wie Feuerstein ihre Haut.

Algyra sang – oder versuchte es wenigstens.

Den Kopf hatte sie in den Nacken gelegt, den Mund weit geöffnet, und es sah aus, als würde sie zum lodernden Abendhimmel hinauf lachen. Nicht weit unter ihr stürzten sich die Fluten des Gletscherstroms fünfzig Schritte tief hinunter in einen brodelnden Wall aus Gischt, Schaum und sich aufbäumendem Wasser, zerflossen dahinter zu einem kleinen See und strömten dann ruhiger dem Meer entgegen. Rechts und links des Stromufers dehnte sich der Strand aus, und gut zehn Steinwürfe weiter südlich, zu beiden Seiten der Strommündung, schäumte die Brandung.

Algyra ruderte mit den Armen, als wollte sie das Andrängen der Wassermassen dirigieren, den Sturz des Gletscherstroms über die Felskante und das immer gleiche Kommen und Gehen der Brandung. Sie sang, während sie dirigierte; oder nein: Sie schrie gegen das Tosen des Wasserfalls an; sie brüllte ihr Lied in die Gischt und die donnernden Fluten hinab.

Ein Lied von Liebeszauber und Liebeslust. Es klang schräg, aber kraftvoll und wild. Zu diesem Zeitpunkt gab es schon kein Ausweichen mehr für den Harfenspieler – Algyra hatte beschlossen ihn zu verführen. Ombaryon hätte sich schon in einer Gletscherspalte zwischen den Eisgipfeln im Inneren der Insel verstecken müssen, um Algyra noch entgehen zu können.

Sie schrie und jubelte und warf die Arme hoch wie eine Triumphierende und dachte sich nichts, als sie fern auf dem Meer die Nebelbänke sah. Keiner, der an der Küste wohnte und den Nebel aufsteigen sah, dachte sich etwas. Nebel zog auf und verbarg die Küsten der Luxineninsel vor den Augen fremder Seefahrer – na und?

Über dem Nebel verschwamm bereits die untere Hälfte der Abendsonnenscheibe in einem milchig roten Himmel, und wenn der Wind sich einen Atemzug lang legte und das Tosen des Wasserfalls nicht ganz so laut bis hier herauf trug, konnte Algyra auch die Stimmen anderer Abendsänger von den Serpentinen, Türmen und Kuppeln in den Berghängen hören.

Sie sangen gern auf Aysalux, und am liebsten besangen sie die Sonne, wenn sie unterging. Nur die Sonne, wenn sie aufging, besangen sie noch lieber.

Algyra sang und trank das letzte Licht der über Nebel und Horizont flammenden Abendsonnenkugel; sie liebte das Licht, sie brauchte das Licht. In seinem roten Geflimmer glaubte sie, die schöne Gestalt des Harfenspielers zu erkennen – so tief hatte Ombaryons Bild sich bereits in ihrem sehnsüchtigen Geist eingenistet – und ihr Entschluss, ihn zu verführen, erfüllte sie mit wilder Vorfreude; die Vorfreude machte sie ungeduldig, und die Ungeduld trieb sie nach Hause.

Sie sparte sich also die letzte Strophe ihres Liebeszauberlustliedes für später auf, für die Stunde, wenn er in ihren Armen liegen würde, wandte sich von Meer und Abendhimmel ab – und vom aufsteigenden Nebel – und kletterte hinauf zum Serpentinenpfad und auf ihm bis zum Felskamm. Von dort lief sie hinunter zum Plateau, auf dem ihr Wassergarten lag.

Es hatte etwas vom Galopp eines wilden Pferdes, wie sie da den Hang hinunter und auf die Steinbogenbrücke über den Gletscherstrom stürmte. Von der Brücke aus waren es kaum noch hundert Schritte bis zu ihrem Wassergarten. Algyra bewegte sich kraftvoll und trat auf wie eine, die immer schon da war und immer da sein wird.

Hinter der mannshohen Gartenhecke quoll an manchen Stellen Dampf in den Himmel. Das Efeuportal im grünen Geäst öffnete sich, ohne dass sie es berührte. Sofort begannen auf dem Wiesenhang vor ihrem Haus die Gänse zu schnattern, und an den Teichufern und im Schilf quakten die Frösche.

So ging das immer, wenn Algyra nach Hause zurückkehrte, selbst wenn sie nur einen Tag unterwegs gewesen war: Nach den Gänsen und Fröschen begrüßten sie die Seeschwalben und Wasseramseln und flatterten tschilpend auf; danach brummte der Rohrdommelhahn im Schilf, und zum Schluss stießen die Fische aus den Teichen, Becken und Seen, beschrieben große oder kleine Bögen und klatschten zurück ins Wasser.

»Ja, ja!«, lachte Algyra. »Ja, ich bin wieder da!«

Sie trat unter den Torbogen und blickte zurück zu den Berghängen über dem Strand und der Brandung. Noch wanderte keiner auf den Serpentinen von den Kuppeln und Türmen dort oben zur Gletscherstrombrücke und zu ihrem Gartenplateau herab. Kein Harfenspieler weit und breit, schade.

Sie runzelte die Brauen und spitzte die Lippen. Und wenn er nun den Sänger dieses Mal nicht begleitete? Wenn Renyan, diese Nervensäge, dieses Mal allein kam? Doch gleich schüttelte sie den Kopf und verscheuchte den lästigen Gedanken. Natürlich würde Ombaryon kommen! Der selbstgekürte Meistersänger Renyan pflegte niemals ohne seinen Harfenisten aufzutreten. Wie wollte er denn ohne ihn seinen mäßigen Gesang kaschieren?

Dieser Gedanke überzeugte sie sofort, das Lächeln kehrte in ihre Miene zurück, sie trat in den Wassergarten. Ihr Haar glänzte rot auf, als die Abendsonne es anstrahlte, so rot, dass ein rötlicher Schein auf ihr weißes Gesicht fiel. Ein schönes Gesicht mit hoch gewölbter Stirn, tiefroten Brauenbögen über großen, hellgrünen Augen, einem schmalen, scharf geschnittenen Nasenrücken und feinen Nasenflügeln. Die Wangenknochen warfen Schatten auf Algyras Mundwinkel, und wenn sie ihre roten Lippen wie jetzt zu einem Lächeln verzog, bildeten sich Grübchen in ihren Wangen. Die kleinen Spitzohren verschwanden unter ihren Locken.

Besonders groß war Algyra nicht, aber niemand hätte sie jemals für eine kleine Frau halten oder gar übersehen können; und keiner auf Aysalux nannte den Namen einer anderen, wenn man ihn nach der schönsten Luxine der Insel fragte.

Unter der überhängenden Wand und dem Wasserfall hindurch lief sie in die feuchte Blumenwiese hinein. Sie zog ihre grauen Wildlederstiefel aus, warf sie achtlos ins Schilf, schritt barfuß durchs Sumpfdotterblumenfeld zur Sandbank und zum Kiesbett und sprang dort durch die Fontäne des warmen Geysirs auf den Felspfad hinüber. Der schlängelte sich in engen Windungen zu ihrem weißen, muschelförmigen Haus hinauf. Eine Dampfwolke waberte dort über der Terrasse.

Das blaue Baumwollkleid klebte nass an ihrem Hintern, an ihren Hüften und Brüsten – sie achtete nicht darauf, zog ein Rinnsal hinter sich her und trat in ihre »Denkhöhle«; so nannte sie den großen und annähernd runden Raum ihres Hauses, der an die Terrasse grenzte. Dessen Wände waren durchsichtig und Teil eines das ganze Haus durchziehenden Aquariums. Bunte Fischschwärme bewegten sich hinter dem Glas entlang. Zwei Wandspiegel in Muschelrahmen, jeder zwei Schritte hoch, waren rechts und links der Fensterfront zur Terrasse angebracht, ein Leuchter aus Bernstein hing von der Kuppeldecke, darunter lag ein dunkelblaues Kissen aus Fischleder. Ansonsten war der Raum leer.

Auf dem Kissen ließ Algyra sich nieder. Sie schrieb ein paar Worte an ihre Mutter, eine Wasserlache sammelte sich rund um das Polster. Rothaarsträhnen klebten auf ihren bleichen Wangen und in ihrer hohen Stirn. Seltsam ernst wurde ihre Miene, während sie nach einfachen Worten suchte und sie niederschrieb. Ihre Mutter brauchte das – einfache Worte, kurze, klare Sätze. Ihre Mutter, nun ja, ihre Mutter war krank. So jedenfalls nannte Algyras Vater, der König, Veda Venusyas Zustand: krank.

Später pfiff Algyra eine der Seeschwalben aus dem Wassergarten ins Haus, band ihr die Nachricht in einer Holzkapsel an die Kralle, flüsterte ihr zwei Worte zu – »Mutter« und »Eis« – und hieß sie fliegen. Der Vogel flatterte durch die Dampfwolke über der Terrasse, schwirrte in den Himmel und flog nach Norden. Algyra sah ihm so lange hinterher, bis seine schwarzen Flügelspitzen nicht mehr von den dunklen Flecken auf den Hängen der Schneegipfel zu unterscheiden waren.

In der heißen Wassergrotte im Kellergeschoss des Muschelhauses schälte sie sich aus dem nassen Kleid. Ihr Körper war weiß und drahtig, ihre Fußnägel sahen aus wie hellblauer Marmor, ihre Brüste wie die Blütenkelche von Orchideen, ihr Gesäß wie eine weiße Herzmuschel. Sie badete, ölte sich ein, schminkte und bürstete ihr rotes Haar.

Das Übliche eben vor dem Besuch von Luxinen, die sich für Männer hielten.

Männer.

Algyra legte strenge Maßstäbe an in dieser Hinsicht. Ein Mann: keine Maskerade, ein offener Blick, keine Scheu, kein Geschwätz. Er tut, was zu tun ist, und zwar gleich. Und natürlich ist er groß, und natürlich schmücken dicke Muskelstränge auf Schultern und Brust seinen Körper, und möglichst hat er einen kahlen Schädel, auf dem ein Flussdelta aus Adern sich abzeichnet. Und bitte nicht zu viel nachdenken.

Sie warf einen grauen Heringsschuppenmantel über ihre leuchtende Nacktheit und nahm Wein und Gebäck mit nach draußen. Im offenen Heckenportal leuchtete blutrot und orangefarben der Nebel über dem Ozean. Die Sonne war gesunken. In den beiden Weiden am Gartensee zirpten Zikaden, die Frösche grunzten liebestrunken, und das Gezwitscher der Wasseramseln klang müde.

Algyra streckte sich im Schilfufer am Karpfenteich aus, die Dämmerung brach an und bald glitt Fackelschein durch das offene Portal: Renyan trat in den Wassergarten, ein Luftluxin. Wie immer kam er zu früh. Algyra unterdrückte ein Gähnen.

Renyan winkte, blieb stehen und rief ihr schon vom Portal aus einen feierlichen Gruß zu, zwölf Zeilen, drei Strophen. Wahrscheinlich hatte er die halbe Nacht daran gedichtet. Algyra verstand nicht einmal die Hälfte.

Zum fünften Mal innerhalb eines Sonnenkreises besuchte Renyan sie schon. Algyra kam es vor, als wäre es schon das fünfzigste Mal. Sie hätte es ihm längst verboten, wäre da nicht sein Harfenist, wie gesagt. Doch wo blieb der? Wieso tauchte kein zweiter Luxin neben dem Sänger im Tor auf? Heiß stieg ihr das Blut in den Kopf.

»Glück und Frieden dem schönsten Geschöpf unter dem Himmel über Aysalux!«, rief Renyan, während er näher tänzelte. Seine Art sich zu bewegen erinnerte an den leichtfüßigen, springenden Gang einer Schneeantilope. Er gehörte zu den schnellsten Läufern der Insel. Kaum ein wichtiges Wettrennen auf Aysalux, das der Sänger in den letzten sechzig Sonnenkreisen nicht gewonnen hätte.

Er trug ein albernes, goldfarbenes Gewand, seinen lächerlichen silbernen Zierbogen und einen Köcher mit Pfeilen von gleicher Farbe. Sein blondes Haar hatte er zu einem dicken Zopf geflochten. »Was für ein Abend! Was für ein Licht!« Entzückt blickte er in den Dunst, der Algyra umgab. »Welch ein Anblick, welch ein Glanz!«

Algyra zog den Schuppenmantel über Schultern und Brüsten zusammen. Sie hatte im Grunde nichts gegen Renyan – manche sagten ihm äußerst liebenswürdige Seiten nach –, wenn er nur nicht so viele Worte absondern würde. »Wo bleibt die Musik?«, rief sie, und die Enttäuschung machte ihre Stimme heiser.

»Wird schon noch kommen, der gute Ombaryon, unser Klampfenmann.« Renyan rammte seinen Fackelspeer zwischen das Schilfrohr, bückte sich nach einem der drei gefüllten Weinkelche, trat noch näher und holte tief Luft. »Mein Glück ist vollkommen, wenn ich dich sehe, schönste Algyra, liebliche Tochter der Meere, der Wasserwesen und des Königs von Aysalux!« Algyra hob die Brauen, und Renyan den Weinkelch. »Auf deine Zukunft, auf das Fest deines Lebens! Möge dein Name in allen Welten bekannt und unsterblich werden!«

Zu viele Worte, zu gestelzte Worte, und zu nahe kam er ihr auch. Algyra ließ sich ins warme Wasser des Teiches gleiten, während Renyan trank. »Singend gefällst du mir besser als schwätzend«, giftete sie. Sie vermisste den Harfenisten, ihre Enttäuschung drohte in Wut umzuschlagen. »Fang schon an und dann verschwinde wieder!«

Sie spreizte die Finger, zeigte Schwimmhäute – in diesem Fall ein Zeichen wachsenden Zornes – und wedelte die Seerosen an ihren Körper heran, um die Blöße zu bedecken, die der auf dem Wasser auseinander treibende Mantel freigegeben hatte. Warum beim stinkendsten aller Dämonen des großen Vulkans war der Erdluxin mit der Harfe nicht mitgekommen?

»Sing endlich!« Sie ballte die Fäuste, Schuppen bildeten sich an ihren Schläfen, hinter ihren Ohren. Ihre Laune sank, und wehe dem, der jetzt den nächsten Fehler machte!

»O wie ich ihn liebe, den Trotz um deinen himmlischen Mund, deine feuersprühenden Augen, die Falte des Unwillens zwischen deinen Feuerbrauen!« Wie ein in Verzückung Geratener rief Renyan all dieses Zeug aus. Warum spürten selbstverliebte Schürzenjäger wie er nie, was die Stunde geschlagen hatte? »O meine zornige Olga! Diese Nacht!«

Nicht nur, dass er sich erdreistete, sie »Olga« zu nennen, er beugte sich auch noch vom Ufer über das Wasser und streckte den rechten Arm nach ihr aus. »O meine liebliche Algyra!« Im Rhythmus seiner Worte schnippte er mit den Fingern. »Diese Nacht wirst du in meinen Gesang mit einstimmen!«

Sie spielte mit dem Gedanken seinen ausgestreckten Arm zu packen und ihn in den Teich zu den Karpfen zu reißen, ließ es jedoch bleiben – einer wie Renyan hätte eine solche Geste als Ausdruck von Liebeslust missdeutet.

»O meine rote Wasserluxine! Diese Nacht wirst du mich anflehen, bei dir zu bleiben, um dir die dunklen Stunden mit meinen Hymnen zu versüßen …!«

»Zu erhellen.« Algyra wandte ihren Blick, denn eine große, kräftige Gestalt erschien jetzt unter dem Efeubogen ihres Garteneinganges. Ombaryon, der Harfenspieler. Endlich! Die Zornesfalte zwischen ihren roten Brauen glättete, ihre Lippen röteten sich und ein feuriger Glanz trat in ihre Augen.

»Zu erhellen?« Renyan begriff nicht.

»Wenn du ›versüßen‹ sagen möchtest, hättest du zuvor von ›sauren‹ Stunden sprechen müssen.« Sie winkte dem Harfenisten. »Du hast aber von ›dunklen‹ Stunden gesprochen …«

Der große Erdluxin trottete schweigend heran, beantwortete die wortreiche Begrüßung Renyans mit einer knappen Kopfbewegung, bedachte auch Algyra mit einem Nicken. Zu Füßen des Sängers kniete er im Schilf nieder, stemmte seine Harfe zwischen die Schenkel und begann sie zu stimmen. Dabei neigte er lauschend den kahlen Kopf und blickte aus dunklen Augen zu Algyra in den Karpfenteich. Fast ein wenig scheu wirkte seine Miene im Schein der Fackel.

Sofort bereute Algyra, unter die Seerosenblätter geglitten zu sein, denn das war er endlich, der ihr gehören sollte in dieser Nacht: ein Luxin von großer, kräftiger Gestalt, bronzehäutig, behaart und mit kantigem Gesicht. Wie das Wurzelgeflecht einer Blaubuche den Waldboden rund um ihren Stamm, so überzogen Muskelstränge den Brustkorb, die Schenkel und Oberarme des schönen Erdluxins.

Nicht allein als Musiker bewunderte man auf Aysalux den hünenhaften Ombaryon, sondern auch als Ringkämpfer. Viele Sonnenkreise lang hatten die Walrösser jede Ringmeisterschaft von Aysalux gewonnen – bis König Garwayn den starken Ombaryon überreden konnte, an den Wettkämpfen teilzunehmen: Seitdem konnten selbst die ruhmreichsten und erfahrensten Bullen den Siegeskranz nicht mehr in ihre Kolonie an der Nordküste tragen.

Der Harfenist ging barfuß, trug weite, dunkelblaue Beinkleider, knielang, und eine offene, ärmellose, weiße Bluse. Seine Ohren waren nicht halb so spitz wie die anderer Luxinen, dafür ungewöhnlich kurz und breit; an seinem rechten Ohrläppchen hing ein schwerer Goldring.

Algyra schob die Seerosen etwas beiseite, um dem Musiker ein wenig von ihren Reizen zu zeigen. Und er sah er hin – natürlich sah er hin! –, und er schluckte, und sie genoss es. Als er den Kopf hob und ihre Blicke sich trafen, hielten ihre hellen, grünen Augen seine braunen Augen fest.

Der Sänger Renyan allerdings war zu verliebt in seine Stimme, seine Träume und seine Begierde, um wahrzunehmen, was da geschah zwischen seiner Angebeteten und seinem Harfenisten. Er stellte seinen Kelch neben dem Fackelspeer ab und räusperte sich lautstark.

Ombaryon nahm den verbliebenen Weinkelch, prostete Algyra zu. In einem Zug leerte er den Becher und stellte ihn zwischen die Schilfhalme. Dann schloss er die Augen und begann zu spielen, und Renyan sang. Er begann, wie traditionell die meisten Sänger auf Aysalux begannen: Mit dem Stern, wie er auf die Welt fiel, wie er weder Zaotenvölker noch Flüchtige verschonte, und wie auch die ursprüngliche Heimat der Luxinen, der Kontinent Ynathalux, in Feuerstürmen, Ascheregen und Sturmfluten unterging.

Mehr als neuntausend Sonnenkreise war das her.

Renyan fuhr fort, wie es nicht anders zu erwarten war in Liedern, die auf Aysalux gedichtet wurden: Mit den wenigen Zaoten, die den Sternensturz überlebten und in alle Himmelsrichtungen oder wieder zurück in die Anderen Welten aufbrachen, um Zuflucht zu suchen; mit jenen Zaotenstämmen, die erst nach dem Sternensturz aus Anderen Welten aufbrachen, um auf der fast entvölkerten Erde zu wohnen; mit der Aufzählung der wichtigsten Sippen des Zaotenstammes der Luxinen, die in Aysalux eine neue Bleibe fanden; mit den Kämpfen gegen die Mutanten, die Aysalux für sich beanspruchten; und schließlich mit dem glorreichen Sieg des alten Luxinenkönigs Melphylan, Algyras Ururgroßvater mütterlicherseits.

Obwohl Renyans Lied nichts von dem ausließ, was man immer wieder gern hörte aus jenen alten Geschichten, handelte der Sänger die längst vergangenen Sonnenkreise doch recht schnell ab, besang sogar den gegenwärtigen Luxinenkönig Garwayn, Algyras Vater, nur mit den allernötigsten Worten, nannte dessen Regiment »weise«, seine Taten »tugendhaft«, seinen Thron »felsenfest« und dergleichen Lügen mehr.

Gar kein Wort verlor Renyan über Algyras kranke Mutter, auch nicht über den Luxinenfürsten Mysarion und dessen verschollene Mutter Sysan, die einst Königin an Garwayns Seite gewesen war. Und natürlich keine Silbe über die Grauenvollen, die vor fünf Sonnenkreisen über die Südküste Aysalux’ hergefallen waren.

Er hatte es eilig, der verliebte Narziss, leierte die Strophen herunter, um rasch zu dem kommen, was ihn wirklich bewegte: zu Algyra. Seine Stimme nahm einen weichen, fast weinerlichen Klang an, als er die Königstochter zu besingen begann. Er pries ihr rotes Haar, ihre vollen Lippen, ihre anmutige Gestalt; er verglich ihre Stimme mit dem Gemurmel eines Gletscherflusses, ihren Duft mit dem der Strandlilien, ihre Beine mit denen der Schneehirschkuh, ihre Brüste mit den Eishügeln, unter denen der Schneeleopard wohnt, und so weiter.

Er sang im Grunde also den gleichen Schwachsinn, den er bei seinem ersten Besuch bereits vorgetragen hatte. Algyra schätzte es schon nicht, wenn jemand zur Feder griff und nur Durchschnittliches zu Papier brachte. Doch Durchschnittliches auch noch mit schmachtender Stimme gesungen – dergleichen ertrug sie nur schwer.

Viele kamen zu ihr und trugen ähnlichen Unsinn vor, schätzungsweise zwanzig Sänger allein in den letzten zehn Sonnenkreisen. Alles Zaoten von Aysalux oder anderen irdischen Zaotenreichen – und sogar aus Anderen Welten –, die sich Hoffnung auf Herrscherwürden machten und deswegen um Garwayns Tochter warben. Immerhin würde sie nach ihm die Luxinenkrone von Aysalux tragen, wenn er sie irgendwann abgab, daran zweifelte keiner, dem auch nur ein Funken Verstand unter dem Scheitel schwelte. Und wen sie zum König an ihrer Seite machte, dem winkten allerhand Privilegien: die Hoheit über die Horste der Königsgreife und das Eisbärengehege zum Beispiel, oder die Verfügung über das königliche Gestüt mitsamt seiner Wagen und Schlitten, oder der Weiße Palast über dem Strand im Südosten der Insel. Und vor allem winkte ihm hohes Ansehen unter den Luxinen von Aysalux und den Angehörigen anderer Zaotenvölker.

Alles Dinge, die Algyra langweilten. Sprach es etwa für Vernunft, wegen derartiger Nebensächlichkeiten Nächte lang zu komponieren und zu dichten? Nein. Es sprach für Eitelkeit und Schwachsinn.

Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Musik und den Musiker, und irgendwie gelang es ihr, den Gesang zu überhören und einzig dem Saitenspiel des Harfenisten zu lauschen. Klang es nicht göttlich? Schon beim ersten Mal hatte Ombaryon die Harfe gezupft, gestrichen und geschlagen, als wäre er zu nichts anderem geboren. Das Muskelspiel seiner Schultern und Arme glich einem Tanz zum Rhythmus der Klänge, die seine Finger aus den Saiten streichelten. Sein schmaler Mund stand ein wenig offen, seine Lippen bewegten sich stumm, hinter seinen geschlossenen Lidern glitten die Augäpfel hin und her. Algyra glaubte, den Duft seiner Haut zu riechen. Sie versank in der Musik des Erdluxins, sie ertrank darin.

Es hieß, Ombaryons Urgroßvater mütterlicherseits sei einer aus dem Geschlecht der Flüchtigen gewesen, ein großer Krieger, dem die Luxinen viel zu verdanken hatten. Algyra wusste nicht, warum dieses Gerücht sie beeindruckte, denn sie konnte sich keinen Flüchtigen vorstellen, dem ein Luxin oder sonst ein Zaot etwas verdanken könnte.

Inzwischen war die Dämmerung weit fortgeschritten, und die Seerosen hatten sich geschlossen. Renyan schien endlich zu spüren, dass es ihm nicht gelang, Algyra zu fesseln, denn seine Stimme klang immer lauter, und irgendwann überschlug sie sich vor Anstrengung. Algyra merkte es kaum. Schließlich stimmte Renyan eine Ballade über den ruhmreichen Seefahrer Mysarion an – wahrscheinlich, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Narr! Hatte er denn Hornhaut auf dem Herzen? Allein der Name genügte, um sie aus ihrem Sinnesrausch zu reißen. Mysarion war ihr verehrter Lehrer, ja mehr noch: ihr väterlicher Freund! Einer der wenigen, die sie »Olga« nennen durften. Vor fünf Sonnenkreisen war er in See gestochen, seitdem hatte niemand mehr von ihm gehört. Algyra vermisste ihn sehr, und wenn ihr etwas weh tat, dann die Sehnsucht nach dem Feuerluxin.

»Genug!« Mit flacher Hand schlug sie ins Wasser. »Heldenballaden wollen wir uns ein anderes Mal anhören, nicht wahr, Renyan?« Ihre Augen wurden Schlitze, ihre Stimme klirrte vor Kälte. »Jeder Ton saß und hat mein Herz gerührt, mein Lieber, ich danke dir. Die Musik klang wie Sonnenmusik – ich kann mich kaum satt hören daran. Ich danke dir also tausend Mal dafür, dass du wieder deinen unübertrefflichen Harfenisten mitgebracht hast. Und nun – gute Nacht.«

Renyan ragte auf einmal sehr steif auf neben seinem Fackelspeer. Der Unterkiefer sank ihm auf die Brust, und seine Augen, die eben noch geglüht hatten vor Begeisterung, schienen zu erlöschen.

»Danke«, sagte Ombaryon, lächelte scheu und erhob sich. Er wirkte überrascht. »Gute Nacht, Algyra.« Er klemmte seine Harfe unter den Arm und machte Anstalten sich abzuwenden.

»Du darfst ruhig noch ein wenig bleiben, Ombaryon.« Algyra lächelte. »Renyan findet schon allein zurück ins Haus seiner Mutter, nicht wahr, mein lieber Renyan?« Mit einem Winken bedeutete sie dem Sänger, dass er sich zu entfernen hatte. »Du aber, Ombaryon, hast mich derart verzaubert mit deinem Harfenspiel, dass ich nicht weiß, wohin mit mir. Du musst mir eine Zugabe zupfen, um mich aus der Verzauberung zu erlösen. Das bist du mir einfach schuldig.«

Renyans Schultern sanken, seine Gestalt erschlaffte, er drehte sich um und stapfte grußlos aus dem Wassergarten. Den Fackelspeer vergaß er mitzunehmen. Ombaryon aber ließ sich wieder im Schilf nieder, kreuzte die Beine und setzte sein Harfenspiel fort.

Algyra schwamm ans Ufer des Karpfenteiches, lehnte ihren Kopf auf Arm und Kies und lauschte. Irgendwann tastete sie mit geschlossenen Augen nach den großen, kräftigen Füßen des Sängers und begann, sie zu streicheln. Und irgendwann hörte der Erdluxin auf, die Saiten zu streichen und zu zupfen, griff nach Algyras Hand und hielt sie fest.

»Es tut mir leid, Ombaryon«, sagte Algyra mit rauer Stimme. »Der Zauber ist zu stark, deine Musik reicht nicht mehr, um mich zu erlösen.« Sie flüsterte nur noch und lächelte dabei. »Du musst zu mir ins Wasser kommen und mich küssen, fürchte ich.«

Über seine Harfe hinweg betrachtete Ombaryon die rothaarige Luxine. Ihre grünen Augen schimmerten wie Sterne hinter feuchter Luft. Auf dem Rücken trieb Algyra vom Ufer weg zwischen die Seerosen. Ihr Schuppenmantel öffnete sich über ihren Brüsten und glitt von ihren Schultern. Leise begann sie, die letzte Strophe ihres Liebeszauberlustliedes zu summen. Es klang wie das raue Gurren einer Krähe.

Ombaryon lauschte dennoch wie gebannt. Seine schmalen Lippen und seine braunen Augen glänzten im Schein der Fackel, sein Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus seiner immer rascher fliegenden Atemzüge. Endlich legte er die Harfe ins Schilf, griff nach Renyans noch halbvollem Weinkelch und leerte ihn. Danach stand er auf, zog sich ohne Eile aus und stieg in den Teich.

Das Gequake der Frösche verstummte. Die Karpfen begannen zu springen und das Wasser des Teiches schwappte auf einmal über das Ufer ins Schilf. Und dann entfalteten die Seerosen wieder ihre Blüten.

3

Dunkelheit lag auf dem Eisgebirge von Aysalux. Am nächtlichen Gletscherpass, nicht weit von der Eisspalte entfernt, die dort die Bergschneise kreuzte, zogen Schneekrähen die Köpfe aus dem Gefieder. Ihre Nester lagen über einem Grotteneingang, und der Geruch von Schwefel, kaltem Rauch und süßlichem Harz hatte sie geweckt; ein Geruch, wie er manchmal der Grotte entströmte, wenn einer den Vorhang vor dem Windfang öffnete.

Die Vögel äugten in die Dunkelheit. Eine flüchtige Bewegung auf der Eisveranda, das Knirschen gefrorenen Schnees unter Stiefelsohlen, das Knarren der Bretter und Taue, als jemand die Hängebrücke betrat – viel mehr nahmen sie nicht wahr. Genug, um beruhigt wieder die Köpfe unter die Flügel stecken zu können. Keine Gefahr auf Veranda und Brücke, nur die Frau aus der Eisgrotte: nur Veda Venusya. Sie huschte in die Finsternis jenseits der Eisspalte.

Oft verließ Algyras Mutter gegen Ende der Nacht ihre Grotte und machte sich auf den Weg zum Gipfel; je länger eine Reise Mysarions dauerte, je länger seine Rückkehr sich wieder einmal hinauszögerte, desto öfter. In den letzten Monden fast täglich.

Kurz vor dem Hohlweg, der zum Abstieg hinunter ins Gletscherstromtal führte, bog sie rechts in den Schneehang hinein. Sie hätte die Stufen hinauf zum Felsgrat selbst im Schlaf gefunden. Das war auch nötig, denn stockfinstere Nacht herrschte noch, als sie an jenem Tag aufbrach.

Der Pfad verlief zunächst in einer sanften Steigung um den Bergrücken herum bis in die Südflanke des Eisgipfels. Dort mündete er in eine in Fels und Eis gehauene Treppe. Auf ihr ging es dann in spitzwinkligen Serpentinen steil bergan.

Veda Venusya ließ sich Zeit. Eine Hand meist am Seil, das den Weg zur Talseite sicherte, nahm sie immer drei Stufen auf einmal, atmete tief dabei, bewegte sich langsam, beinahe behäbig, doch in beständigem Rhythmus den Hang hinauf. So war sie es gewohnt, so pflegte sie den Weg zum Bergkamm unterhalb des Gipfels in wenig mehr als einer Stunde zu bewältigen.

Bald ging im Westen der Mond auf, Vollmond. Lange würde sein warmes Licht nicht am Himmel leuchten, denn auf halber Höhe des Aufstiegs sah Veda Venusya im Osten bereits den neuen Morgen heraufdämmern. Das Meer war weiter nichts als eine nachtblaue Wüste, die Küste davor eine schmale, nur wenig hellere Sichel.

Schneidend kalt war es hier oben; sogar Veda Venusya fröstelte. Dabei konnte sie als Luftluxine brütende Hitze und eisige Kälte gleichermaßen ertragen. Sie zog sich ihren blauen Schal über die Nase bis dicht unter die Augen. Ein Eisbärenpelz mit Kapuze hüllte sie vom Scheitel bis zu den Knöcheln ein. Dazu trug sie Stiefel und Handschuhe aus Eisbärenleder.

Eine Seeschwalbe hatte auf der Öllampe neben ihrem Nachtlager gesessen, als sie aufgewacht war – mit einer Botschaft von Olga. Geliebte Olga! Nachrichten von ihr taten so gut. Manchmal ließ sie viel zu lange nichts von sich hören. Wie meist hatte sie auch diesmal nur wenige Sätze aufgeschrieben: Dass ihre Wasseramseln brüteten, dass ihre Sumpfdotterblumen blühten, dass sie Besuch erwartete, dass sie mit Liebe an ihre Mutter dachte.

Veda Venusya wurde warm ums Herz, während sie in Gedanken Wort für Wort des Briefes wiederholte. Sie sah sie vor sich: die Eier im Nest der Wasseramseln, das Gelb der Sumpfdotterblumen zwischen Wiese und Sandbank und Olgas vertrautes Gesicht. Sie hörte die Stimme ihrer Tochter von Wasseramseln und Blumen erzählen, sie sah ihre verschlossenen Lippen den Namen des Besuchers verschweigen.

Nein, Olga hatte nicht geschrieben, wen sie erwartete. Doch es musste jemand sein, der ihr Blut in Wallung brachte. Veda Venusya hatte es an der Wortwahl und an kleinen Veränderungen des Schriftbildes abgelesen.

Sie hob den Blick. Lichtblau strahlte der Himmel in der Umgebung des Vollmondes. Nach Osten hin ging dieses schöne Leuchten in ein samtenes Kobaltblau über und schließlich in ein düsteres Blaugrau. Veda Venusya vermisste den milchig-rötlichen Streifen am östlichen Horizont. Zog etwa ein Unwetter herauf?

Olgas verspieltes Leben zwischen Wassergarten und Meer würde nicht ewig so leicht dahin fließen. Die Wanderungen hin und her zwischen den irdischen Siedlungen der Zaoten und ihren Wohnstätten in anderen Welten, die mondelangen Tauchgänge, die wilden Tänze mit Delphinen und Walen, all die Wettkämpfe und durchgefeierten Nächte – irgendwann würde all das vorbei sein. Sie hielten sich für unsterblich und unbezwingbar, die jungen Luxinen. Aber taten das nicht auch die meisten älteren?

Viele hundert Sonnenkreise lang war Veda Venusyas Tochter unterwegs gewesen während ihrer Großen Reise – so hieß unter Zaoten, die lange Wanderung, die jeder junge Zaot unternahm, um sein Element zu entdecken und zu lernen, dessen Kräfte zu nutzen. Fast alle bekannten Zaotenstämme der Erde hatte Olga im Laufe dieser Wanderung besucht, und wie alle jungen Luxinen hatte sie ihr Element schließlich gefunden: das Wasser. Doch wie nur wenige hatte sie gelernt, die verfügbaren Kräfte zu beherrschen.

Nichts wünschte Veda Venusya ihr sehnlicher, als ein leichtes Leben zwischen Wassergarten und Meerestieren. Doch wählte das Schicksal nicht gerade die Stärksten, um die Kraft des Lebens zu feiern und die Leidensfähigkeit des Geistes zu erproben?

Und dann der Fluch …

»O weh, der elende Fluch!« Veda Venusya schrie gequält auf. »Wenn du wüsstest, meine geliebte Olga, wenn du wüsstest …!« Sie begann den Namen ihrer Tochter zu murmeln, begann mit ihr zu reden. »Olga, meine Olga! Wohin wirst du gehen müssen? Was wird geschehen, wenn man dir auf die Schultern legt, was keiner tragen kann? Olga, meine geliebte Olga …!«

Sie änderte den Rhythmus ihrer Schritte, merkte kaum, wie sie schneller und schneller die Stufen hinaufstieg. Sorge um Mysarion mischte sich in die Angst um ihr Kind. Sie verstummte, zog die Schultern hoch, senkte den Blick.

Tag für Tag sehnte sie sich. Würde sie denn heute endlich das Segel seines Schiffes sehen, wenn sie oben, vom Grat aus in die Ferne spähte? Tag für Tag wartete sie. In immer kürzeren Abständen stieg sie zum Grat unter dem Gipfel hinauf, um Ausschau zu halten nach ihm. Sie stieß Seufzer, Schreie und den Namen des Geliebten aus, rief ihn im Rhythmus ihrer Schritte.

Das Mondlicht verblasste und mit ihm das leuchtende Blau des Himmels. Längst konnte Veda Venusya den Gletscher erkennen und die Berghänge der Schneegipfel auf der anderen Seite des Passes, an dem sie lebte. Der Gletscher, der Pass und ihre Grotte lagen schon gut vierhundert Schritte unter ihr. Ein stumpfes Blauviolett spannte sich inzwischen über Insel und Meer, und von Osten her sickerte als milchiges Blaugrau das Licht des neuen Tages in den Morgenhimmel. Kein Unwetter also. Doch der erste Glanz der Morgensonne ließ noch immer auf sich warten.

Veda Venusya dachte an Garwayn, und heiß schoss ihr zuerst die Bitterkeit und danach der Zorn in den Kopf. Warum durfte einer wie er König der Luxinen sein? Welchen Mächten gebot er denn, welche Gaben besaß er denn außer der, Frauen zu umgarnen und zu verführen? Warum konnte einer wie Garwayn selbst das Leben eines so mächtigen Feuerluxins wie Mysarion beherrschen? Wieder und wieder hatte Garwayn es verstanden, den Hohen Rat hinter sich zu bringen und den gefürchteten Rivalen von der Insel zu vertreiben.

Hemmungslos schrie Veda Venusya jetzt ihren Zorn und ihre Verzweiflung hinaus, und als das Echo ihrer Stimme von den Berghängen auf der anderen Seite des Passes zu ihr zurückkehrte, merkte sie endlich, wie sie die Stufen hinauf hetzte, wie sie keuchte und wie ihr Atem flog.

Sie brachte ihre Stimme zum Schweigen, zwang ihre Schritte zum bewährten langsamen Rhythmus, zähmte ihren Zorn. Ihre Knie zitterten, und jetzt spürte sie auch die Erschöpfung. Doch es war nicht der Aufstieg, der sie auslaugte, es waren ihr Zorn, ihre Bitterkeit und ihre Trauer.

Wenig später zog sie sich am Begrenzungsseil die letzten Stufen hinauf. Heftiger Wind blies hier oben. Endlich stand Veda Venusya auf dem vereisten Felsgrat, von dem aus man die Insel bis zu den Stränden der Südküste und zum Meer hin überblicken konnte. Dort, nicht ganz zwei Tagesmärsche entfernt, lag die Hauptsiedlung der Luxinen. Und dort, zwischen Horizont und Küstenstreifen, hatte sie fünf Sonnenkreise zuvor Mysarions Segler zuletzt gesehen.

Auf den meisten seiner Reisen verließ er Aysalux in südöstlicher Richtung. Irgendwo hinter dem Horizont lag dort die Küste des Festlandes und auf dessen nördlichsten Halbinsel Malmor, ein kleines Reich seefahrender Flüchtiger, deren Herrscher Mysarion kannte. Fast immer kehrte er auch aus dieser Himmelsrichtung nach Aysalux zurück.

Veda Venusyas sehnsüchtige Blicke suchten das Meer ab. Doch nicht einmal die vertrauten Konturen der Küstenlinie konnte sie erkennen. Dafür, dass die Sterne längst verblassten, war es seltsam dunkel an der Küste. Nebel?

Der Bergkamm war mehr als zehn Schritte breit hier oben am Ende der Stufen. Rechts ragte eine Felsnadel auf, links zog sich der Grat zur Bergspitze hin, stieg an und mündete im zerklüfteten, mit Schnee und Eis bedeckten Bergmassiv. Den eigentlichen Gipfel darüber verhüllten Wolken.

Dort, wo der vereiste Kamm enger wurde, keine zwanzig Schritte von der letzten Stufe entfernt, dort stand einer.

Klein, gedrungen, dampfend und ganz und gar in schwarzes Fell gehüllt. An der Stelle, wo seine schwarze Fellkapuze Mund und Nase einschlossen, löste sich stoßweise Dampf von seiner Gestalt und stieg in den Morgenhimmel. In seiner Näher schien der Wind heftiger zu blasen als sonst auf dem Bergkamm; er blähte die Kapuze des Wesens auf, riss an den Säumen seines Fells, zerwirbelte seine Dampffahnen.

Veda Venusya störte sich nicht an dem schwarz Vermummten. Sie kannte ihn, kannte ihn viel zu gut.

»Da.« Er deutete zur Küste hinunter. »Nebel.«

Sie sah es jetzt auch: In der Morgendämmerung lag die Nebelwand wie eine dunkle Mauer über dem Meer. »Seit wann?«

Der Andere trat näher. »Kurz vor Sonnenuntergang ging es los«, flüsterte er heiser und brodelnd.