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ISBN (Print): 978-3-8280-3587-4

ISBN (E-Book): 978-3-8280-3587-4

1. Auflage 2021

Umschlaggestaltung: Maximilian Günther

Bildquelle: Peter Kleine, pixabay

Sämtliche Rechte vorbehalten

Printed in Germany

Schauplatz: Eisenach und die Wartburg
Zeit: um die Jahrhundertwende 1899/1900
Gastgeber: vier Männer aus Sachsen-Weimar-Eisenach
Gäste: vier Frauen aus Sachsen-Meiningen

Ein Spiel um Liebesfreud und Liebesschmerz, Eid und Meineid, Größenwahn und Niedergang

Love’s Labour’s Lost / Liebes Leid und Lust

WER LIEBT WEN?

König Ferdinand = Kanzler Constantin

→ Prinzessin aus Meiningen

Longaville (Ingenieur) = Ernst

→ Maria wie Marie Curie

Dumain (Theologe) = Johann

→ Katharina wie Mata Hari

Biron (Jurist) = Georg

→ Rosaline wie Kaiserin Sissi

Don Armado (Spanier)

→ Jaquenetta (Milchmädchen)

Costard (Bauer) = Josef Wirsing

→ Jaquenetta

Weitere Figuren

Moth (Page des Armado) = Krümel

Boyet (im Dienste der Frauen aus Meiningen) = Boyet

Dull (Schutzmann) = Karl Dumpf

(Groß-)Herzöge

Großherzog August in Weimar

Herzog Friedrich in Meiningen

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

Plaisir d’Amour: Der Titel des vorliegenden Werkes befasst sich naturgemäß mit dem Thema Liebe und versucht, die Komödie des englischen Dramatikers William Shakespeare in einen modernen Kontext zu bringen. Entlehnt wurde der Titel dem französischen Chanson gleichen Namens aus dem 18. Jahrhundert, das die Tragik zwischen der vielfach kurzen Euphorie der Liebe und der oft lang andauernden Ernüchterung enthält. Der Refrain dazu lautet:

Plaisir d’amour ne dure qu’un moment,

Chagrin d’amour dure toute la vie.

In der deutschen Übersetzung:

Die Freude der Liebe dauert kaum einen Moment,

Liebeskummer besteht ein Leben lang.

Die Vielseitigkeit des Themenfeldes Liebe macht deutlich, dass die erratische Vorstellung, Liebe sei doch nun mal Liebe und somit völlig eindeutig, falsch ist. Die in Shakespeares Werk angedeutete wie auch in dem vorliegenden Werk veranschaulichte Problematik dieses Begriffes macht hinreichend klar, dass die Palette der unmittelbaren Erfahrungen sowie die Polarität der Gefühle nahezu unüberschaubar sind. Sowohl die bewusste oder unbewusste Verbannung der Liebe als auch ihre bewusste oder unbewusste Absorption besitzen eine solche Durchschlagskraft in der menschlichen Erfahrungswelt, dass sie nahezu alle anderen Regungen überbieten.

In der Adaption der Shakespeare-Komödie wird bereits die Ambivalenz des Themas deutlich, da es nicht darum gehen kann, die Freuden der Liebe herauszustellen und zu vertiefen. Die vorliegende Bearbeitung wird auch dann besser verständlich, wenn die beiden ersten Zeilen des Refrains zugrunde gelegt werden. Der Titel des Werkes mag daher als Ironie verstanden und aus der Perspektive der vier Protagonisten des Werkes anfangs sogar wörtlich genommen werden. Der Verlauf der Handlung macht jedoch klar, dass sehr schnell eine Entzauberung der naiven Vorstellungen eintritt, die Phantasie rasch von der nüchternen Realität eingefangen wird.

Mit dieser Version soll ein Ausschnitt des enormen Spektrums Liebe ausgeleuchtet werden, der sich in der Märchenwelt und daraus entwickelnden Desillusionierung beteiligter Menschen dokumentiert.

In seinem bahnbrechenden Werk Die Kunst des Liebens legt der Psychoanalytiker Erich Fromm in ausführlicher Weise die Vielschichtigkeit des Begriffs Liebe dar, die im Laufe der Zeit eine deutliche Veränderung inhaltlicher Art erfahren hat. Fromm erläutert, dass lieben zu können eine Kunst darstellt und eine Antwort auf das Problem der menschlichen Existenz bedeutet. So unterscheidet er zwischen der Liebe von Eltern zu Kind, der Nächstenliebe, der erotischen Liebe, der Eigenliebe und der Liebe zu Gott. Sein Werk gliedert sich in eine Theorie sowie eine Praxis der Liebe.

In dem später erschienenen Werk Haben oder Sein weist er darauf hin, dass man Liebe nicht ‚haben‘ oder ‚besitzen‘ könne:

Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen – sei es ein Mensch, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine (ihre) Lebendigkeit zu steigern. Es ist ein Prozess, der einen erneuern und wachsen lässt.

(Erich Fromm, Haben oder Sein, S. 52)

In derselben Abhandlung verweist er auf die englische Redewendung „to fall in love“, die zum Ausdruck bringen will, dass man hinabstürzt in die Liebe und ihren Schwingungen vollkommen passiv ausgeliefert sei. Dieser Einschätzung widerspricht der Autor vehement und führt aus, dass man nur in Liebe gehen oder stehen, nicht aber fallen könne.

In der Zeit der Werbung ist sich einer des anderen noch nicht sicher; die Liebenden suchen einander zu gewinnen. Sie sind lebendig, attraktiv, interessant und sogar schön – da Lebendigkeit ein Gesicht immer verschönt. Keiner hat den anderen schon, also wendet jeder seine Energie darauf, zu sein, zu geben und zu stimulieren.

(Fromm, Haben oder Sein, S. 53)

Mit Verweis auf den muslimischen Dichter und Mystiker Maulana Dschelaleddin Rumi (1207–1273) zitiert Fromm eine Reihe sinnfälliger Weisheiten zum Themenbereich Liebe:

Wahrlich nie sucht der Liebende, ohne von der Geliebten gesucht zu werden.

Hat der Blitz der Liebe dieses Herz getroffen, so wisse, dass auch jenes Herz voll Liebe ist.

Fände der eine nicht Gefallen am andern, weshalb hingen sie dann wie Liebende aneinander?

(Fromm, Die Kunst des Liebens, S. 46 f.)

Fromm verweist auf die Entwicklung und Veränderung innerhalb der Gesellschaft von der gestifteten zur romantischen Ehe. Über viele Generationen wurden Heiraten früher durch Heiratsvermittler oder Familien arrangiert. Diese Politik wurde im westlichen Kulturkreis weitgehend aufgegeben zugunsten einer Freiheit der Liebe, die dazu führte, dass man/frau sich auf den Weg begab, einen Partner oder eine Partnerin zu suchen. Fromm erläutert darauf, dass dieser Vorgang oftmals einem Missverständnis unterlag und zu zahlreichen Fehleinschätzungen führte. Einer der wichtigsten, oftmals übersehenen Irrtümer bestand nach seiner Meinung darin, dass das Sichverlieben gleichgesetzt wurde mit dem permanenten Zustand zu lieben. So heißt es:

Wenn zwei Menschen, die einander fremd waren … plötzlich die trennende Wand zwischen sich zusammenbrechen lassen, wenn sie sich eng verbunden, wenn sie sich eins fühlen, so ist dieser Augenblick des Einsseins eine der freudigsten, erregendsten Erfahrungen im Leben. Besonders herrlich und wundervoll ist er für Menschen, die bisher abgesondert, isoliert und ohne Liebe gelebt haben.

(Fromm, Die Kunst des Liebens, S. 14)

Zu allen Zeiten, besonders aber in der Periode der deutschen Klassik, befassten sich Schriftsteller mit dem Themenkomplex. Auch Friedrich Schiller greift den Topos auf und führt in der Ballade über Die Glocke dazu aus:

Ach! Des Lebens schönste Feier

Endigt auch den Lebensmai,

Mit dem Gürtel, mit dem Schleier

Reißt der schöne Wahn entzwei.

Die Leidenschaft flieht,

Die Liebe muss bleiben;

Die Blume verblüht,

Die Frucht muss treiben.

(Friedrich von Schiller, Balladen Dramen, S. 53)

In der jüngeren Literatur gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass die Überwindung der Isolation zu einem vehementen Drang nach Harmonie und Vereinigung führt. Dazu sei eine Passage aus D. H. Lawrence’ Roman Lady Chatterley aus dem Jahre 1928 zitiert, der mit Connie eine Frau vorstellt, die unglücklich verheiratet ist und unter ihrer Isolation schwer zu leiden hat, bis sie die Bekanntschaft des Hegers Mellors macht:

Connie ging verloren dahin. Aus dem alten Wald kam eine alte Schwermut über sie, die sie beschwichtigte, die besser war als die harsche Fühllosigkeit der Außenwelt. Sie liebte die Innerlichkeit dieses stehengebliebenen Waldstücks, die karge Schweigsamkeit der Bäume. Sie waren eine Macht der Stille und doch lebendige Gegenwart … Als sie aus dem Wald trat, auf der Nordseite, stand das Haus des Hegers vor ihr … In dem kleinen Hof, wenige Meter vor ihr, stand der Mann und wusch sich, vollkommen arglos. Er war nackt bis zum Gürtel, seine Manchesterhose war über die schmalen Hüften geglitten … auf seltsame Weise war es ein traumhaftes Erlebnis; es hatte sie mitten in den Leib getroffen. Sie hatte gesehen, wie die plumpe Hose niederglitt über die reinen, schmalen weißen Hüften, an denen ein wenig die Knochen hervortraten, und das Gefühl der Einsamkeit hier, das Gefühl, ein Geschöpf in reiner, tiefer Einsamkeit vor sich zu haben, überwältigte sie. Vollendete weiße, einsame Nacktheit eines Wesens, das allein ist, auch innerlich. Und darüber hinaus die Schönheit eines reinen Geschöpfs.

(D. H. Lawrence, Lady Chatterley, S. 60 f.)

I.

DAS WUNDER

AUF DER

WARTBURG

TEIL I

König:

„Navarra soll das Wunder sein der Welt;

Sein Hof sei eine klein’ Akademie,

Beschaulicher Gelehrsamkeit ergeben.“

(William Shakespeare, Liebes Leid und Lust, 1. Akt, 1. Szene)

ANKUNFT

ERNST

Er gefiel sich in seiner Rolle. Eigens zu dem herausragenden Anlass seines repräsentativen Wartburg-Besuchs hatte er darum gebeten, von der Firma Flocken aus Coburg ein Elektroauto zur Verfügung gestellt zu bekommen. Elektroautos waren wie alle Autos zu jener Zeit eine Rarität, aber Autos waren auf dem Vormarsch und drohten, der Droschke und Kutsche in den nächsten Jahren das Wasser abzugraben. Ernst hatte nach Coburg telegrafiert und dem Seniorchef noch einmal sein Projekt auf der Wartburg vorgestellt. Für den umtriebigen Maschinenfabrikanten war es keine Frage, dass er dem engagierten Ingenieur, der sich auf der exponierten Burg weiterbilden wollte, ein Fahrzeug zur Verfügung stellte, das Aufmerksamkeit erzeugen und den Automobilbau voranbringen sollte.

So vereinbarte man einen Termin, zu dem Flocken ein Fahrzeug von Coburg nach Reichenbach bringen sollte, um dort das Gepäck für den angehenden Wartburg-Bewohner abzuholen. Am nächsten Tag fuhr man von Reichenbach nach Eisenach, um in den frühen Abendstunden den holprigen Weg zur Wartburg anzutreten. Ernst genoss die Fahrt durch die Stadt, zumal sich das Fahrzeug ohne Motorgeräusche und nur durch die Reifengeräusche bemerkbar machte. Die überraschten Passanten blieben am Straßenrand stehen und mussten einmal mehr zur Kenntnis nehmen, dass der Fortschritt der Technik jeden Tag für neue Überraschungen sorgte.

Am Torhaus der Wartburg angekommen, entluden Ernst und sein Fahrer das Fahrzeug und brachten Koffer und Gepäck in den ersten Burghof. Gerne wäre er natürlich über die Zugbrücke in den Innenbereich gefahren, doch wagte er nicht einen solchen Schritt, ohne den Burghauptmann gefragt zu haben. Er wurde vom Burgvogt im vorderen Burghof begrüßt, bevor sich der Fahrer wieder auf den langen Weg nach Coburg machte, der noch eine Übernachtung auf halbem Weg einkalkuliert hatte. Der Vogt wies Ernst das Eseltreiberstübchen am Ende des „Margarethengangs“ zu, ein Zimmer, das sehr spartanisch eingerichtet war, aber die nötigsten Möbelstücke wie Bett, Schrank und Schreibtisch enthielt. Die erste Begegnung mit Constantin, dem Hausherrn, war für 18.00 Uhr am Abend geplant.

JOHANN

Auf dem Bahnhof in Eisenach war der Zug aus Weimar eingetroffen. Es war zehn Minuten nach 13.00 Uhr, als die Reisenden die Wagons verließen und auf die jeweiligen Pferdedroschken auf dem Bahnhofsvorplatz zuströmten. Johann hatte Mühe, sein Gepäck aus der Gepäckablage zu bekommen, und bat einen Mitarbeiter der Eisenbahn um Hilfe. Koffer und weitere Gepäckstücke wurden mit vereinten Kräften zu den wartenden Droschken gebracht, wo Johann dem Kutscher das Ziel Wartburg weitergab. Für Johann wurde es eine erhebende Fahrt: Als Theologe durchfuhr er nun die Lutherstadt Eisenach, wo sich protestantische Theologie und Muse trafen. Er wusste natürlich, dass die Wiege der Reformation in Eisenach, insbesondere auf der Wartburg stand. Und der große Kirchenmusiker Johann Sebastian Bach, der zum Glück nicht ins Ausland emigriert war, hatte seine ersten musikalischen Gehversuche in Eisenach unternommen, wo auch sein Geburtshaus stand. Johann wies seinen Kutscher an, doch einmal über den Marktplatz zu fahren, um die berühmte Georgenkirche zu sehen und das Bach-Haus am Frauenplan zu streifen. Sie hatten den Weg durch die engen Straßen der Stadt mit der Kutsche zurückgelegt und dabei den Stadtpark passiert. Es erfüllte Johann mit Stolz, zu dem Kreis der prominenten Vorgänger und Zeitgenossen zu gehören, die die Stadt Eisenach so berühmt gemacht hatten.

Die Droschke passierte den Karthausgarten und bog ein in die Wartburgstraße. Es erfüllte ihn ebenfalls mit Stolz, nun eine längerfristige Möglichkeit zu erhalten zu einer intensiven Auseinandersetzung mit verschiedenen theologischen Schulen. Und das konnte kein Ort besser gewährleisten als die berühmte Trutzburg über der Werra.

Johann war gespannt zu erfahren, wie es um die Mitstreiter stand, denn er wusste, dass kein weiterer Theologe mit von der Partie sein würde, was die Sache einerseits erleichterte, andererseits aber auch erschwerte. Er hatte Erfurt den Rücken gekehrt in der Hoffnung, durch seinen Aufenthalt in Eisenach an Leib und Seele zu gewinnen, denn der hektische Wissenschaftsbetrieb hatte nicht dazu beigetragen, neue Erkenntnisse für Kirche und Ökumene zu gewinnen, zumal er umgeben war von vielen Menschen, die vorgaben, fast alles zu können, und sich daher sehr unbeweglich zeigten im Umgang mit Andersdenkenden oder -gläubigen.

Die Wartburg – allein der Name ließ ihn ein wenig erschauern. Die Erinnerung an die herausragenden Ereignisse der Vergangenheit machten ihn ganz klein, denn er wusste, dass diese ihn nicht nur stolz machen würde, sondern auch ehrfürchtig werden ließ.

Das Pferdefuhrwerk erreichte das Torhaus der Burg, der Posten im Wachhäuschen grüßte beflissen. Die Mauern der Burg, die nun über die Zugbrücke zu betreten war, ließen ihn ganz klein, aber auch sehr wichtig erscheinen.

Johann bat den Kutscher, ihm beim Transport des Gepäcks behilflich zu sein. Der Burgvogt eilte aus dem Innenhof der Anlage, bot Johann sofort seine Hilfe an und wies ihm die Lutherstube als Quartier an. Johann entlohnte den Droschkenfahrer und ließ das Gepäck durch das zu Hilfe kommende Personal in seinen neuen Wohnbereich bringen.

Er konnte sein Glück nicht fassen, einen solchen Aufenthaltsort für die nächsten drei Jahre zu erhalten: „Welch ein Gefühl“, sagte er euphorisch, als er durch das Tor nach innen schritt. Er blickte nach rechts und nach links und bemerkte fassungslos: „Auf der Wartburg in der Lutherstube. Ich bin erwählt, an diesem großen Vorhaben teilnehmen zu dürfen. Gott, ich danke dir!“

GEORG

Er saß in seiner Pferdekutsche und war früh am Morgen von Weimar aus gestartet. Es lag Georg am Herzen, das klassische Modell des Personenverkehrs für diese besondere Aufgabe zu nutzen: Die Fahrt mit dem Zug erschien ihm zu billig; das Automobil wirkte auf ihn wie eine Schickimickifahrt. So blieb für die 75 Kilometer lange Strecke zwischen Weimar und Eisenach nur die Postkutsche. Er hatte sich das klassische Gefährt bewusst ausgesucht, da er ein Liebhaber der echten Kutschen war, die sich langsam im Niedergang befanden. Das elegante Gefährt, das auf der Strecke Weimar–Eisenach jeweils sechsmal pro Woche fuhr, hatte es ihm angetan, wenn er den gelben Coupé-Landauer bestieg und wusste, dass er einer Kategorie von Menschen angehörte, die zwar fortschrittlichen Bewegungen landesweit viel Sympathie entgegenbrachten, aber den Traditionen ihres Landes Verbundenheit dokumentieren wollten. Georg erinnerte sich mit Wehmut, dass sich schon vor Jahrzehnten im Jahre 1817 engagierte Studenten der Jenaer Universität in Eisenach auf der Wartburg getroffen hatten, um mit patriotischen Reden und Gesängen den Sieg über Napoleon zu feiern. Das patriotische Bauwerk in der Stadt hatte den tapferen Demokraten ja ein bleibendes Denkmal gesetzt. Man gedachte auch des tapferen Verhaltens Martin Luthers, der seinerzeit ebendort Zuflucht fand und durch seine Bibelübersetzung der deutschen Sprache und Seele Auftrieb verliehen hatte.

Die Reise nach Eisenach war für ihn kein reines Vergnügen, da er nicht sogleich mit großer Begeisterung, sondern mit einigen Vorbehalten die Auszeit genommen hatte. Die Absicht der Kollegen sah er durchaus als ehrenvoll, Zweifel aber hatte er in der konsequenten Durchsetzung des Vorhabens. Denn die drei Jahre waren keine drei Urlaubsjahre, sondern Jahre in Abgeschiedenheit und Trennung. Dennoch betrachtete er es als eine Ehre, zu dem Kreis der Erlesenen zu gehören, denn eine Einladung durch den Kanzler des Großherzogtums schmeichelte seinem eitlen Ego, und so hatte er sich entschlossen, an dem Unternehmen teilzunehmen. Die Fahrt mit der Postkutsche endete am Marktplatz gegen 16.00 Uhr, wo für alle Reisenden die Reise endete. Somit entfiel die attraktive Möglichkeit, mit der Kutsche bis zum Torhaus zu fahren. Georg entlud sein Gepäck und blickte ein wenig hilflos umher, bis er zwei junge Männer auf sich zukommen sah, die er ansprach und bat, ihm zur Hand zu gehen. Sie erklärten sich bereit, sein Gepäck hinaufzutragen zum Torhaus der Burg. Georg entlohnte die beiden Träger großzügig und sah sich im Burghof nach weiterer Hilfe um. Auch er wurde bereits erwartet, denn der Burgvogt begrüßte ihn mit dem Hinweis, nun sei man vollzählig. Georg werde das Pirckheimer-Stübchen im westlichen Margarethengang beziehen, das ihm von einem Angestellten der Burg vorgestellt wurde. Er möge sich vorbereiten auf den Empfang im Rittersaal der Burg gegen 18.00 Uhr. Bevor der Burgvogt das Stübchen verließ, bat Georg um einen Termin mit ihm vor der offiziellen Begrüßung. Sie vereinbarten eine halbe Stunde vor 18.00 Uhr.

So ging er die Treppe zu seiner Kemenate hoch, öffnete die Tür und legte seine Sachen auf dem Fußboden ab. Müde war er geworden durch die stundenlange Fahrt, aber glücklich, angekommen zu sein.

BEGRÜßUNG

Gegen 18.00 Uhr hatten sich drei von ihnen im Rittersaal eingefunden. Georg war noch nicht da. Jeder von ihnen durfte sich ein Glas Tee oder Mineralwasser nehmen und blickte gespannt der Begrüßung durch den Kanzler entgegen. Constantin wartete, bis die Bediensteten seine Kanzlei verlassen hatten, und warf noch einen flüchtigen Blick nach draußen. Georg war noch nicht in Sicht. Er schloss alle Fenster, trat in die Mitte eines Halbkreises und eröffnete die Ansprache mit einem pathetischen „Herzlich willkommen auf der Wartburg“. Er legte eine kleine Kunstpause ein, warf den Kopf nach hinten und nahm Haltung an.

„Meine Lieben, ich freue mich, euch heute Abend hier oben – hoch über den Dächern der ehrwürdigen Stadt Eisenach – begrüßen zu können. Es ist mir ein großes Anliegen, dieses in angemessener Form zu tun, um euch die Bedeutung dieses Ortes noch einmal deutlich zu demonstrieren. Lasst mich mit einer Hommage des großen deutschen Dichters Joseph Victor von Scheffel an die Wartburg beginnen:

Dem Meister Heil, der hier in treuem Sinnen das Haus erschuf an steiler Felsenwand,

im Waffenschmuck der Türme und der Zinnen, wie ragt es königlich hinab ins Land!

Nach seinem Plan ward Stein auf Stein gerücket, der Raum geteilt, der Giebel aufgedacht:

was uns in Hof wie Halle jetzt entzücket,

der kühne Schwung, das Ebenmaß, die Pracht, ist seine Schöpfung. Fröhlichem Gelingen half ernster Fleiß und unermüdet Ringen.

Besser lässt sich die Bedeutung dieses Ortes nicht beschreiben. Und so sind wir hier zusammengekommen, um unser sensationelles Projekt in diesem königlichen Rahmen in Angriff zu nehmen. Kein besserer Ort konnte gefunden werden für dieses Fanal einer neuen Zeit. Kein besserer Ort bietet sich an als diese edle Burg, die schon im Mittelalter Könige zu begeistern wusste. Bislang wurde hier deutsche Geschichte geschrieben, ab heute wird hier Weltgeschichte geschrieben, denn wir wollen aller Welt ein Zeichen setzen für den Edelmut und die Größe unserer Region.

Es geht um die Ehre des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, aber – es geht auch um unsere persönliche Ehre. Das Ansehen aller steht hier zur Debatte: Wir, d. h. die Führungselite des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach, wir müssen uns abheben von den Fürstentümern um uns herum. Schon heute werden wir an unserem Nachruf arbeiten, die Grabinschrift wird weit leuchten und lässt uns nach unserem Tod berühmt werden. Die Nachwelt soll mit Ehrfurcht und mit Staunen sehen, was wir in unserer erlesenen Welt an sittlichen und kulturellen Leistungen erbracht haben. Die Menschheit lebt in Angst vor Tod und Sterben. Da bleiben wir ganz ruhig und gelassen. Die Klinge des Sensenmannes wird ganz stumpf. Denn unser Ruhm soll ewig klingen.

Wir wollen uns aber auch unterscheiden vom Mittelmaß der Menschen, die sich nur ergötzen an Frauen oder am Alkohol, die zu viel essen und schlafen. Wir wollen eine ‚Akademie im Kleinen‘ sein, ein Vorbild, um das die Welt uns beneidet.

Nur wenig essen, trinken, schlafen – vor allem keine Frauen hier. Lasst uns daher einen Eid schwören. Einen Eid, dass wir uns für die Zeit von drei Jahren von all diesen Lastern fernhalten wollen.“

Hier beendete er seine Begrüßung und sein flammendes Plädoyer für Ort und Ablauf der bevorstehenden Ereignisse. Ernst und Johann waren begeistert und klatschten ihm Beifall. Kanzler Constantin hatte sein Thema gefunden. Schon seit geraumer Zeit sang er im Kreis seiner Getreuen immer wieder das hohe Lied der Askese und Enthaltsamkeit, führte den Kreuzzug gegen alle Formen der Unzucht schlechthin. Insbesondere seine Abneigung gegen Müßiggang und Völlerei, gegen Alkohol und vor allem Frauen trat dabei immer wieder zutage.

„Wir müssen Mittel und Wege finden, wie wir der Bevölkerung in Eisenach, in Thüringen, in Deutschland und der Welt ein leuchtendes Vorbild geben, denn die können unsere Beschlüsse natürlich übernehmen“, setzte er sein Plädoyer fort. „Wir alle wissen, dass hier auf der Wartburg schon andere Ähnliches vor uns durchexerziert haben.“

Ernst schien begeistert durch die Anfangsworte und fuhr fort: „Wir sollten uns in Quarantäne begeben und um die Wartburg einen Kreis ziehen. Der darf nur von besonderen Personen überschritten werden – und zwar nur männlichen Geschlechts. Um die Burg errichten wir dann eine Bannmeile, und wehe, wir entdecken eine Frau in diesem Raum. Wir wollen hier ein Beispiel setzen. Die Wartburg wird das Wunder in der Welt. Was Weltausstellungen im Großen sind, wird Eisenach im Kleinen. Die Nachwelt soll noch von uns reden und sagen: ‚Wir wollen ihnen ein Denkmal setzen, ein Denkmal für die Ewigkeit!‘ “

Und auch Johann schob nach, die Wartburg sei ein idealer Ort. „Die Heilige Elisabeth und Martin Luther – das sind historische Figuren, die Weltgeschichte gemacht haben. Martin Luther hat hier schon als Einsiedler gelebt und die Bibel übersetzt. Wir dürfen stolz sein, eine solche Räumlichkeit für unser großartiges Vorhaben nutzen zu können. Schon Jesus Christus sagte, man solle sein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Genau das wollen wir auch nicht. Wir wollen ein Leuchtfeuer sein für Ehre, Anstand, Charakterstärke.“ Er redete sich in Rage und erwähnte all die Sanktionen, die bereits vereinbart oder von ihm erfunden worden waren. Auf alle Fälle war es klar, dass für Frauen im Sperrbezirk ein striktes Verbot für drei Jahre gelten sollte.

Ernst, von Haus aus Doktor der Physik, erklärte, für seine bahnbrechenden Forschungen auf dem Gebiet der Technik, insbesondere der Automobiltechnik, benötige er Ruhe und absolute Konzentration. Er habe alle wissenschaftlichen Studien, verfügbaren Pläne der Automobilkonstrukteure sowie Expertisen verschiedener Regierungen in seinem Gepäck und warte auf die Gelegenheit, zu neuen Überlegungen und zukunftsweisenden Entscheidungen zu gelangen.

Daher bedürfe das Regelwerk für die vorgesehene Zeit einer Reihe von Ausführungsbestimmungen, um allen Beteiligten klarzumachen, wie ernst es um die Absichten der Männer aussehe. In der Phase der Enthaltsamkeit müsse es um das erklärte Ziel gehen, genau zu wissen, was verboten, was erlaubt sei. „Wir werden unsere Absichten und Bestimmungen im Wortlaut zu Papier bringen. Diese Statuten sollen für uns Herausforderung und Gesetz, für die anderen eine Warnung bedeuten, uns in unserer Isolation nicht zu nahe zu kommen.“

Die drei Vorgenannten hatten sich in der Kanzlei von Constantin auf den unbequemen Stühlen eingerichtet, als Georg plötzlich zu ihnen stieß. Er kam soeben von dem Gespräch mit dem Burgvogt und hatte mit ihm über die möglichen Konsequenzen der selbstgewollten Quarantäne gesprochen. Viele Fragen waren für ihn offengeblieben und führten immer wieder zu den ungeklärten praktischen Dingen des Alltags, die aus seiner Sicht noch bedacht und geregelt werden müssten, wenn die Lebenswelt der Männer sich so fundamental ändern sollte.

Er wandte sich an Constantin und seine Mitstreiter und bat noch einmal um eine Erklärung, warum das Ganze denn nun unbedingt auf der Wartburg stattfinden müsse. „Hätte man sich nicht in ein kleines Schlösschen oder eine Villa im Thüringer Wald zurückziehen können, um nicht so viel Aufmerksamkeit zu erzeugen?“

Nach diesen Worten blickte Constantin auf und warf Georg einen finsteren Blick zu. Er legte eine Kunstpause ein, um schließlich mit hochrotem Kopf und ernster Stimme zu fragen: „Warum kommst du erst jetzt? Warum treffen wir uns hier?“ Constantin ging auf ihn zu und blickte ihm in die Augen. „Warum stellst du diese Fragen?“ Und nach einer erneuten Pause fuhr er Georg scharf an: „Du scheinst nicht richtig verstanden zu haben, was wir hier wollen. Wir können uns natürlich auch in einer Tropfsteinhöhle versammeln und auf die Regentropfen warten. – Wir haben hier einen der besten Plätze der Welt und gehen doch nicht in den Wald!“

„Georg“, wusste auch Johann zu sagen, „wir sind uns einig in unserem Vorhaben. Wenig essen, wenig schlafen, viel arbeiten, keine Weiber! Und du? Du stellst die Frage nach dem Ort. Wärest du pünktlich hier gewesen, hättest du gewusst, wie die deutsche Literatur über unseren Spitzenplatz hier denkt. – Machst du mit?“

Georg verspürte die gereizte Stimmung unter seinen Freunden und bemühte sich um Schadensbegrenzung. Er wusste natürlich bereits im Vorfeld, dass sein Mitwirken nicht ohne Probleme ablaufen würde. In der Tat sah er auch eine ganze Reihe von Unklarheiten, die überhaupt nicht zur Sprache gekommen waren. Eine gewisse Oberflächlichkeit im Denken und Handeln war für ihn bereits ausgemacht. Dennoch aber wollte er nicht bereits die Tür verschließen, die sich ihm geöffnet hatte. Auch für ihn besaß das Angebot, in einer „Akademie im Kleinen“ arbeiten und auf Staatskosten den eigenen Plänen nachkommen zu können, eine große Attraktivität.

„Ja, doch“, äußerte er recht kleinlaut. Er fuhr jedoch fort: „Aber habt ihr euch schon Gedanken gemacht über unsere Verpflegung? Sind die Arbeiten schon verteilt für unsere weitere Versorgung, als da wären …“

Er wurde recht schroff unterbrochen durch Kanzler Constantin: „Immer wieder dein Aber. Ich dulde in dieser Angelegenheit keine Bedenkenträger: Entweder du bist für uns und machst mit, oder du bleibst der Nörgler, auf den wir verzichten können. Hier gibt es nur zwei klare Positionen, damit wir uns klar verstehen.“

Georg wollte aber nicht sofort das Feld räumen, sondern verwies auf die alte Weisheit: „Ein jeder Mensch hat Triebe von Natur, die nur die Gnade, nicht ein Zwang kasteit“. So nahm er schließlich Platz am Tisch der anderen und versuchte, seine Position zu rechtfertigen. Er sei kein Bedenkenträger, sondern Realist. Er wolle mögliche Schwierigkeiten für die Zeit der Quarantäne nur im Vorfeld gleich ausräumen. Dann sehe er dem Vorhaben auch mit Freude und Zuversicht entgegen und wolle sich den anderen anschließen.

Ernst versuchte zu beruhigen und schlug vor, eine Eidesformel zu entwerfen, die klar gefasst und verbindlich sei. Zudem müssten die Statuten eindeutig den Sanktionsmechanismus festlegen, so dass ein jeder von ihnen wisse, was ihn im Falle von Zuwiderhandlungen ereilen würde. Um Versuchungen durch Frauen gewappnet zu begegnen, wurde die Bannmeile um die Burg beschlossen. Die Bestimmungen sollten natürlich auch für die Menschen im Umfeld von Eisenach gelten. Die vier Eidgenossen sollten ihnen dabei Vorbild und Ansporn ein.

Constantin ließ die nun festgelegten Statuten in der Kanzlei zu Papier bringen, um sie von dem Quartett der Männer unterschreiben zu lassen. Ab dem 1. Januar des Folgejahres sollte der besondere Umstand nun gelten. Und erstaunlich, aber wahr: Ein jeder der verschworenen Gemeinschaft fand nun die Zeit, in Ruhe und Konzentration die „Akademie im Kleinen“ beherzt und sehr eigenständig anzugehen.

Man begann damit, die ersten Vorbereitungen für die bevorstehenden Maßnahmen zu treffen. Durch farbige Kennzeichen