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Der Arzt vom Tegernsee
– 47 –

Ein Befund, der ihm die Hoffnung nahm

Laura Martens

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74096-120-6

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»Manchmal glaube ich, es wäre besser, unser Herr würde mich endlich zu sich nehmen«, meinte Erna Epple resignierend. »Ehrlich, Doktor Baumann, ich frage mich, warum ich neunzig Jahre alt geworden bin, wenn ich nun fast rund um die Uhr die Hilfe anderer Leute brauche. Nein, das ist kein Leben mehr.«

Dr. Eric Baumann konnte die alte Frau sehr gut verstehen. Erna Epple war Zeit ihres Lebens eine sehr rührige, tatkräftige Frau gewesen. Noch am letzten Weihnachtsfest hatte sie selbst ihre Gäste bewirtet. Im Januar hatte sie einen kleineren Schlaganfall erlitten, sich davon jedoch wieder erholt, aber seit vier Monaten konnte sie kaum noch aufstehen, und wurde von einem privaten Pflegedienst betreut.

»Sie sollten etwas Mut fassen, Frau Epple«, erwiderte Eric und legte beschwichtigend eine Hand auf den Arm der alten Frau. »Auch für Sie wird das Leben noch einiges an Schönem bereithalten.«

Ernas Lippen umzog ein spöttisches Lächeln. »Doktor Baumann, Sie kennen mich lange genug, um zu wissen, daß man mir nichts vormachen muß. Erinnern Sie sich? Ich bin schon bei Ihrem Vater in Behandlung gewesen, als Sie noch ein ganz kleiner Bub waren.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich weiß genau, wie es um mich steht. Wenn ich meine Nachbarinnen und die Pflegerinnen nicht hätte, wäre ich hoffnungslos verloren.«

»Meinen Sie nicht, daß Sie besser in einem Pflegeheim aufgehoben wären? In der Pflegeabteilung des Sankt-Agnes-Stifts…«

»Ich gehe in kein Pflegeheim, Doktor Baumann. Ich bin achtzehn gewesen, als ich meinen ersten Mann geheiratet habe und in dieses Haus zog. Hier habe ich meine Kinder geboren und großgezogen. Hier habe ich mit meinem zweiten Mann und meiner Stieftochter gelebt. Nein, ich verlasse dieses Haus nicht und ich habe auch nicht vor, in einem Krankenhaus zu sterben. Hier ist der Platz, wo ich hingehöre, und hier werde ich auch meine Augen schließen.«

»Kein Mensch kann Sie zwingen, in ein Pflegeheim zu gehen. Es war nur ein Vorschlag, Frau Epple.« Der Arzt drehte sich Emily Wolfram zu, die mit einem Becher Tee aus der Küche kam.

Die junge Frau stellte den Teebecher auf dem Nachttisch ab und kurbelte den Kopfteil des Krankenbettes höher, so daß die alte Frau sitzen konnte.

»Danke.« Erna Epple ergriff den Teebecher mit beiden Händen. Er besaß einen Deckel und eine so kleine Öffnung, daß sie ohne fremde Hilfe trinken konnte.

»Ich werde dann gehen.« Dr. Baumann stand auf. »Morgen früh sehen wir uns wieder.«

»Wenn unser lieber Herrgott ein Einsehen hätte, wäre ich morgen früh schon nicht mehr hier«, bemerkte die alte Frau. Sie warf einen Blick zur Decke hinauf. »Leider scheint er zu denken, daß ich noch einige Zeit hier unten aushalten soll.«

Dr. Baumann verabschiedete sich von der alten Frau und verließ mit Schwester Emily das Schlafzimmer. »Was bedrückt Sie?« fragte er die Pflegerin. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Nein, mit mir ist alles in Ordnung«, erwiderte Emily, während sie zu seinem Wagen ging. »Ich mache mir nur solche Sorgen um Frau Epple. Sie hat heute morgen mit einer ihrer Schwiegertöchter telefoniert und sich schrecklich dabei aufgeregt.« Die junge Frau schüttelte den Kopf. »Da hat sie vier Söhne großgezogen, sie einen guten Beruf erlernen lassen, und dann sind sie alle vor ihr gegangen. Es muß schrecklich für eine Mutter sein, ihre Kinder zu überleben.«

»Allerdings«, meinte Eric. »Ein Glück, daß sich Frau Epple wenigstens auf Sie und Ihre Kolleginnen verlassen kann. Ich muß zugeben, von ihren Schwiegertöchtern halte ich nicht viel.«

»Da ist eine wie die andere. Am liebsten würden sie die alte Frau aus dem Haus werfen und sie in ein Pflegeheim abschieben. Ich kann so etwas nicht verstehen. Wenn die vier Frauen es nötig hätten, aber jede von ihnen lebt in gesicherten Verhältnissen und hat mehr Geld, als sie jemals brauchen wird. Sie wissen ganz genau, daß Frau Epple bald nicht mehr für ihre Pflegekosten aufkommen kann. Es…« Emily winkte ab. »Sie kennen ja ohnehin diese Geschichte, Doktor Baumann«, meinte sie. »Das Leben ist nun einmal nicht gerecht.«

»In Ihrem Alter sollten Sie noch nicht resignieren, Schwester Emily«, bemerkte der Arzt.

»Wenn man mit so viel Ungerechtigkeit konfrontiert wird, tut man das automatisch.« Emily zwang sich zu einem Lächeln. »Ich muß nach Frau Epple sehen. Sie wird sich schon fragen, wo ich bleibe.« Sie reichte dem Arzt die Hand. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Schwester Emily«, antwortete Eric. »Grüßen Sie Ihre Schwester von mir.«

»Ja, das werde ich tun«, versprach die junge Frau.

Dr. Baumann machte noch zwei weitere Krankenbesuche, dann kehrte er nach Hause zurück, um in aller Ruhe vor der Nachmittagssprechstunde eine Tasse Kaffee zu trinken. Kaum war er ausgestiegen, rannte ihm auch schon sein Hund mit wedelnder Rute und einem Ball in der Schnauze entgegen. »Was soll denn das heißen?« fragte er. »Du willst doch nicht, daß ich jetzt noch einen Spaziergang mit dir mache?«

Franzl ließ den Ball fallen. »Wuff!« machte er und blickte unternehmungslustig zu ihm auf.

»Es wird dir nichts anderes übrig bleiben, Eric«, sagte Katharina Wittenberg, die Haushälterin des Arztes. »Der Bursche ist heute voller Energie und weiß nicht, wohin damit. Und dabei hat er den Garten zum Herumtoben, aber nein, das reicht ihm nicht.«

»Da werde ich mich wohl opfern müssen.«

Eric trug seine Arzttasche ins Haus, zog sich rasch um ud ging mit Franzl zum See hinunter.

Eine Stunde später betrat Dr. Baumann, gestärkt mit einer Tasse Kaffee und einem Stück von Katharinas wunderbarem Bienenstich, die Praxis. Tina Martens stand am Aufnahmetresen und sortierte die Karteikarten der Patienten, die an diesem Nachmittag erwartet wurden.

»Mal sehen, was wir da alles haben«, meinte Eric und schaute flüchtig die Krankenkarteien durch. Als er auf die Karte von Lina Becker stieß, seufzte er unwillkürlich auf. Frau Becker kam gewöhnlich vom Hundertsten ins Tausendste und war stets überzeugt, daß er an sämtlichem Klatsch von Tegernsee interessiert war. Er mochte sie nicht besonders, weil sie mit ihrer Klatschsucht schon sehr viel angerichtet hatte. Andererseits wußte er auch, daß sie sehr hilfsbereit sein konnte.

Frau Dr. Bertram traf nur wenige Minuten später in der Praxis ein. Sie rief Tina einen Gruß zu und ging in Erics Sprechzimmer, um mit ihm über einen Patienten zu sprechen, den sie für den Nachmittag bestellt hatte.

»Wie geht es Frau Epple?« erkundigte sie sich, als sie sich ihrem Kollegen gegenüber an den Schreibtisch setzte.

»Man kann es regelrecht sehen, wie sie von Tag zu Tag weniger wird«, antwortete Eric. »Allerdings kann dieser Zustand noch Jahre dauern, und das weiß sie auch. Sie hat heute wieder davon gesprochen, daß sie am liebsten sterben würde.«

»Wer kann es ihr verdenken?« fragte Mara. »Wenn sich wenigstens ihre Familie um sie kümmern würde. Soviel ich weiß, hat sie vier Schwiegertöchter.«

»Und drei Enkel«, fügte Dr. Baumann hinzu. »Gegen Harald Sanders will ich ja nichts sagen. Der junge Mann wohnt in Kassel. Er schreibt ihr regelmäßig, sie telefonieren sehr oft miteinander, und er besucht sie ein, zweimal im Jahr. Ihre leiblichen Enkel dagegen.«

»Ist Herr Sanders nicht ihr leiblicher Enkel?«

»Nein, der Sohn ihrer verstorbenen Stieftochter.« Eric drehte einen Kugelschreiber zwischen den Fingern. »Frau Epple würde gern in ihren eigenen vier Wänden sterben, nur braucht sie inzwischen fast rund um die Uhr Hilfe. Ihre Rente und die Pflegeversicherung reichen dafür nicht aus, und ihr Vermögen ist fast aufgebraucht. Die einzige Möglichkeit wäre, daß sie das Haus verkauft, und zwar so, daß sie bis an ihr Lebensende dort wohnen könnte. Natürlich würde dann der Erlös aus dem Haus nicht so groß sein.«

»Was spricht dagegen?« erkundigte sich Mara.

»Ihre vier Schwiegertöchter«, antwortete der Arzt. »Das Haus gehörte ihrem ersten Mann und dessen Familie. In seinem Testament hatte er bestimmt, daß sechzig Prozent des Besitzes seine Frau und die übrigen vierzig seine Söhne erhalten. Nachdem die Söhne nun gestorben sind, besitzt jede der Schwiegertöchter zehn Prozent des Hauses, und ohne ihre Zustimmung kann es weder beliehen, noch unter seinem Wert verkauft werden.«

»Und wer würde schon ein Haus mit Wohnrecht für den vollen Preis kaufen«, meinte Mara Bertram. »Sieht aus, als müßte Erna Epple eines Tages doch in ein Pflegeheim.«

»Ja, wenn sie nicht mehr das nötige Geld für den Lebensunterhalt und Pflege aufbringen kann«, erwiderte Dr. Baumann. »Und so, wie ich das sehe, wird das bereits in drei, vier Monaten der Fall sein. Dabei ist Frau Epple stets großzügig zu ihren Schwiegertöchtern gewesen, hat ihnen, solange sie noch konnte, an Geburtstagen und Weihnachten wundervolle Geschenke gemacht. Trotz der Geschenke haben die vier Damen es allerdings kaum für nötig gehalten, sie auch mal zu besuchen.«

Der Wechselsprecher begann zu summen. Dr. Baumann drückte auf den Einschaltknopf. »Ja, bitte, Tina?« fragte er.

»Herr Bartels ist hier«, meldete seine Sprechstundenhilfe.

»Schicken Sie ihn herein«, bat der Arzt.

Mara stand auf und ging zur Tür. »Bis später, Eric«, sagte sie und trat in den Gang. Sie tauschte mit Franziska Löbl, die aus ihrem Behandlungsraum kam, ein flüchtiges Lächeln und wandte sich dem Raum zu, in dem das Ozongerät stand, um dort alles zur Ozontherapie vorzubereiten.

*

»Guten Abend, Herr Sanders«, grüßte Werner Berger, der als Hausmeister in dem Appartementhaus arbeitete, in dem Harald Sanders eine Wohnung besaß. »Phantastisches Wetter heute, nicht wahr?«

Der junge Mann nickte. Mit den Gedanken war er bei dem Brief, den er in der Tasche trug. Er machte sich große Sorgen. Seit Wochen litt er unter heftigen Muskelzuckungen und dem Gefühl, als würden Hunderte von Ameisen unter seiner Haut entlanglaufen. Von Zeit zu Zeit spürte er heftige Schmerzen in den Gliedmaßen. Manchmal war es so schlimm, daß er glaubte, laut aufschreien zu müssen.

»Einen schönen Abend noch«, wünschte der Hausmeister.

Harald riß sich zusammen. »Danke, Ihnen auch, Herr Berger«, antwortete er und trat in den Aufzug, der ihn innerhalb weniger Sekunden zu seiner Wohnung hinaufbrachte.

Flix, der auf der Couch im Wohnzimmer gelegen hatte, sprang auf den Teppichboden hinunter und rannte zur Tür. Mit lautem »Miau« begrüßte er seinen Herrn. Schmeichelnd rieb er sein Köpfchen an Haralds Beinen.

»Ich freue mich ja auch, dich zu sehen.« Der junge Mann beugte sich zu Flix hinunter und hob ihn hoch. »Gleich bekommst du dein Futter«, versprach er. »Du tust ja, als wärst du ganz ausgehungert, aber darauf falle ich nicht herein.« Er hielt Flix so, daß sie einander ins Gesicht sehen konnten. »Du bist ein wohlgerundetes, gut genährtes Katerchen.«

Flix stieß den Kopf an Haralds Kinn. »Miau«, machte er noch einmal und begann zu schnurren.

Harald trug den Kater in die Küche, setzte ihn dort auf den Boden und öffnete erst mal ein Schälchen mit Katzenfutter. »So, nun möchte ich nichts mehr hören«, sagte er und stellte das Futter vor die Anrichte.

Flix, der eben noch getan hatte, als sei er am Verhungern, inspizierte mißtrauisch das Futterschälchen, bevor er langsam zu fressen begann. Alles, was ihm an dem Futter nicht paßte, flog aus der Schale. Geschickt angelte er mit seiner Zunge nur nach den besten Brocken.

Harald Sanders wusch sich im Bad Hände und Gesicht. Während er sich abtrocknete, schaute er in den Spiegel. Anfangs hatte er geglaubt, nur etwas überarbeitet zu sein, und gehofft, daß seine Beschwerden von allein aufhören würden. Schließlich hatte er sich seinem Hausarzt anvertraut, und dieser hatte ihn zu einem Neurologen geschickt. Heute hatte ihm der Neurologe gesagt, daß er zu weiteren Untersuchungen an die Hamburger Universitätsklinik mußte. Er hatte bereits einen Termin für ihn ausgemacht.