CHICKEN HOUSE-Newsletter
Tolle neue Lesetipps kostenlos per E-Mail!
www.chickenhouse.de

Alle Rechte vorbehalten.
Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich die Carlsen Verlag GmbH die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Ein Chicken House-Buch im Carlsen Verlag
© der deutschen Erstausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2016
© der englischen Originalausgabe by The Chicken House,
2 Palmer Street, Frome, Somerset, BA11 1DS, 2016
Text © Dan Smith, 2016
Dan Smith has asserted his moral rights. All rights reserved.
Originaltitel: Boy X
Umschlagbild: Shutterstock / grynold; Fotolia / ralwel
Umschlaggestaltung: Henry’s Lodge, Vivien Heinz
Aus dem Englischen von Birgit Niehaus
Lektorat: Leonie Busse
Layout und Herstellung: Tobias Hametner
Lithografie: Margit Dittes Media, Hamburg
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-646-92857-0

www.chickenhouse.de

 

Diese Geschichte ist für euch.
Ihr seid stärker und mutiger, als ihr glaubt.

Licht.

Gleißendes,
weißes Licht.

Ash blinzelte und sofort fuhr ihm ein stechender Schmerz in die Augen. Reflexhaft kniff er die Lider zusammen, presste sich die Hände aufs Gesicht. Trotzdem fühlte es sich an, als bohrte sich eine Klinge in seinen Schädel. Wie gelähmt lag er da und versuchte sich zu erinnern, wo er war.

Aber in seinem Kopf herrschte nur Leere. Dann, plötzlich, tauchten Bilder auf, begleitet von einem Gefühl der Übelkeit: Er sah sich auf Dads Beerdigung – umgeben von schwarzen Anzügen und trauernden Gesichtern. Leute, die er kaum kannte, ließen sich darüber aus, was für ein toller Kerl Ben McCarthy doch gewesen war. Aber da war noch etwas. Etwas, das sich falsch anfühlte. Etwas, das an diesem schmuddeligen, dicken Mann, der mit Mum geredet hatte, nicht stimmte. Und was auch immer dieser Typ ihr damals sagte, sie war dermaßen in Panik geraten, dass sie Ash weggezerrt hatte …

Und jetzt lag er hier, in diesem harten Bett, unter einem sauberen, gestärkten Betttuch.

Als der Schmerz nachließ, öffnete Ash vorsichtig die Augen, stützte sich auf die Ellbogen und schaute sich um. Nichts von dem, was er sah, kam ihm bekannt vor. Angst regte sich in ihm wie ein Tier, das in seiner Höhle erwacht. Der Raum war kahl, fast leer. Weiße Wände reflektierten das Licht von Neonröhren hinter einer Milchglasscheibe in der Decke. An der Wand rechts des Bettes war eine Konsole mit drei Touchscreens angebracht, auf denen Digitalzahlen in Grün und Orange leuchteten. Aus dem Mittelteil der Konsole ragte ein durchsichtiger Schlauch, der bis zu einem blauen Plastikverbindungsstück führte, das an Ashs rechtem Handrücken festklebte. Unter dem durchsichtigen Tape konnte Ash die Kanüle erkennen, die in seiner Haut steckte. Der Anblick ekelte ihn. Aus irgendeinem Grund musste er an Spinnen in dunklen Ecken denken.

»Mum?« Sein Hals war trocken, seine Stimme kratzig. Sein Mund fühlte sich an wie mit Watte gefüllt. Watte, die noch den letzten Tropfen Spucke aufsaugte.

Auf einem kleinen Nachttisch stand ein Plastikbecher mit Wasser und daneben lag Dads Kennmarke, das schwarze Lederband fein säuberlich aufgerollt, wie eine schlafende Schlange. Den Blick auf die Marke gerichtet, suchte Ash weiter in seinem Gedächtnis. Aber seine Gedanken zerfaserten wie Nebelschwaden – und vor allem stupsten sie das Panik-Tier in seiner Höhle an. Besser, er blendete alles aus und konzentrierte sich ganz auf die Kennmarke, den einzig vertrauten Gegenstand.

Er streckte den Arm aus und hob das Lederband hoch. Die Plakette baumelte hin und her. Er setzte sich auf und streifte sie sich über den Kopf, spürte das Metall auf der Brust. Jetzt fühlte er sich ein wenig sicherer.

Ash trank die Hälfte des Wassers, stellte den Becher zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Der Vinylboden war ebenfalls weiß, mit kleinen hellgrünen Sprenkeln. Unter den nackten Füßen fühlte er sich kalt an.

Während er so auf der Bettkante saß, kam sich Ash noch kleiner vor als sonst. Er ließ den Blick schweifen und versuchte sich zu erinnern, was passiert war, seit …

Er hat dir eine Spritze gegeben, meldete sich die Stimme in seinem Kopf.

Es war dieselbe Stimme, die er schon sein ganzes Leben hörte. Die Stimme, die ihn verhöhnte und verunsicherte. Die ihm immer wieder das Gefühl gab, nutzlos und überflüssig zu sein.

Die Spritze, weißt du nicht mehr? Er hat dich betäubt. Ein schlanker Mann mit ausdruckslosem Gesicht und sanfter, tiefer Stimme. Jetzt bist du tot. Und ganz allein.

Die Worte verursachten in ihm eine solche Übelkeit, dass er unwillkürlich nach der Kennmarke auf seiner Brust griff. Als er sich halbwegs beruhigt hatte, riskierte er einen Blick an sich hinab: Er trug einen dünnen hellblauen Baumwollschlafanzug! Scham und Wut stiegen in ihm auf. Irgendjemand Fremdes musste ihm den angezogen haben! War das hier eine Art Krankenhaus? Das würde zumindest die weiße Einrichting erklären.

»Mum?« Seine Stimme klang dünn in dem kleinen Raum. Er wartete ein paar Sekunden, die Hände verkrampft vor Angst, dann rief er noch einmal, etwas lauter: »Mum?«

Nichts.

Sag ich doch, sie ist tot, höhnte die Stimme. Sie schien von irgendwo außerhalb seiner Reichweite zu kommen, aus der Dunkelheit. Sie haben ihr eine Nadel in den Hals gejagt, wie sie es verdient hat. Jetzt ist sie tot, unter der Erde, und du bist allein.

»Nein, sie ist nicht tot.«

Das wüsste er doch. Das würde er spüren. Das war eine Lüge.

Ash stand auf, eine Hand gegen die Wand gestützt. Die andere Hand wanderte erneut zur Kennmarke. Leere gesellte sich zu all den anderen schrecklichen Gefühlen, die ihn bedrängten. Aber er schüttelte sie ab und betrachtete die Kanüle in seinem Handrücken. Wenn er diesen Raum verlassen und seine Mutter suchen wollte, musste er die Nadel rausziehen.

»Anders geht’s nicht«, murmelte er.

Als er das Tape abgepult hatte, glitt die Nadel fast von selbst aus der Haut und fiel aufs Bett. Eine durchsichtige Flüssigkeit sickerte aus der Spitze. Wie Gift. Er rieb sich den Handrücken.

Die Zahlen auf den Touchscreens begannen sich zu verändern und eine neue Angst erfasste ihn. Was, wenn die Tropfinfusion ihn am Leben hielt? Wenn in wenigen Sekunden sein Herzschlag aussetzte und sein Bewusstsein wegdriftete?

Aber nichts passierte. Gar nichts.

Einen Moment blieb Ash noch stehen, reglos, den Blick starr aufs Display gerichtet, dann tappte er langsam auf die Tür zu.

Garantiert abgeschlossen, höhnte es in seinem Kopf.

Er wusste es auch so. Er wusste es so sicher, wie er Ash McCarthy hieß und in drei Wochen dreizehn werden würde. Wer auch immer ihn hierhergebracht hatte, hatte abgeschlossen, hundertprozentig.

Doch als er den Türknauf drehte und daran zog, machte der Türschließer über ihm ein saugendes Geräusch – und die Tür ging auf. Verdutzt trat Ash einen Schritt zurück. Die Stimme hatte sich geirrt! Er lauschte, die Hand noch auf dem Griff. Er traute sich nicht über die Schwelle. Natürlich wollte er herausfinden, wo er war und was sich außerhalb dieses Raumes befand – aber gleichzeitig sträubte er sich dagegen.

Seine Hand krampfte sich um den Knauf, sein Magen zog sich zusammen, als hätte das Panik-Tier einen Schwall ­eisige Luft ausgeatmet. Kurz überlegte er, laut zu rufen, aber irgendetwas sagte ihm, er sollte besser unbemerkt bleiben. Also trat er einen Schritt vor und linste durch die Türöffnung.

Zu beiden Seiten erstreckte sich ein langer Flur. Der Boden war derselbe wie im Zimmer, weiß mit blassgrünen Sprenkeln. Der Gang lag vollkommen leer und still da. Keine Krankenschwestern und Ärzte, die mit Klemmbrettern unterm Arm und klickenden Kugelschreibern umhereilten. Keine Besucher. Keine Medikamenten- oder Laborwagen.

Nur ein langer, weißer, verlassener Gang und das Summen der Klimaanlage.

Siehst du? Du bist tot. Du bist in der Hölle.

Den Flur entlang reihten sich in immer gleichem Abstand Türen aneinander, auf jeder einzelnen prangte eine römische Ziffer. Ash warf einen Blick über die Schulter auf seine eigene Tür: Dort klebte ein kleines schwarzes Plastik-»X«.

Eine weitere Erinnerung blitzte auf – an eine Frau, die seine Mutter auf dieselbe Weise betäubt hatte wie der Mann ihn. Nur dass die Frau noch etwas gesagt hatte. Etwas wie:

Kronos muss wieder zum Leben erweckt werden.

Ash hatte keine Ahnung, was das bedeutete, aber er erinnerte sich an den Gesichtsausdruck seiner Mutter bei diesen Worten. Es war ein Ausdruck blanken Entsetzens.

virus

Ash wünschte sich in diesem Moment nichts sehnlicher als Sicherheit und Wärme. Am liebsten wäre er zurück ins Zimmer geschlüpft, hätte den Schrank vor die Tür geschoben und sich im Bett verkrochen. Aber er musste wissen, wo Mum war.

Also gab er sich einen Ruck und trat hinaus auf den Flur. Wieder machte der Türschließer das komische saugende Geräusch und die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.

Noch nie hatte sich Ash so klein und einsam gefühlt – mit nichts als einem hauchdünnen Schlafanzug zwischen sich und der Welt. Seine nackten Füße tappten über den Vinylboden, klebten bei jedem Auftreten kurz fest. Und jeder einzelne Schritt machte ihm seine Schwäche bewusst.

Pat-schik. Pat-schik.

An der nächsten Tür verharrte er eine Weile, er zitterte.

Ein merkwürdiger Geruch stieg ihm in die Nase. Kein Krankenhaus- oder Zahnarztgeruch, sondern ein anderer. Einfach nur abgestandene Luft? Nein, als er tiefer einatmete, roch es irgendwie metallisch. Außerdem nach Plastik, Farbe, Reinigungsmitteln, Öl, Chemikalien und …

Seine Nase wurde geradezu überwältigt von Gerüchen. Ihm wurde schwindelig und er musste sich am Türrahmen festhalten. Noch nie waren Gerüche so massiv auf ihn eingeströmt. Sie schlugen auf ihn ein wie Fäuste. Mit der freien Hand griff er die Kennmarke: »Ich bin Ash McCarthy«, murmelte er. »Ich bin stark. Ich schaffe das.«

Wann immer sie an Dads freien Tagen etwas unternommen hatten, das Ash Überwindung kostete, hatte Dad ihm eingeimpft, dass man jede Herausforderung meistern könne, solange man sich ihr zuversichtlich stelle. Dabei würde ein motivierender Spruch helfen. Das »McCarthy-Mantra« hatte Dad es genannt, auch wenn Ash nicht genau wusste, was ein Mantra war.

»Ich bin Ash McCarthy. Ich bin stark. Ich schaffe das«, wiederholte er und stellte sich jedes einzelne Wort als Schutzschild gegen die überwältigende Geruchswelle vor. Und tatsächlich schienen die Ausdünstungen nach und nach schwächer zu werden – alle bis auf eine: Parfüm. Mum!

War Mum in dem Raum? Womöglich in Gefahr? Ohne länger nachzudenken, legte Ash seine Hand auf den Türknauf, drehte, bis es klickte, und schlich hinein. Drinnen standen ein Bett, ein Schrank und ein Nachttisch. Sonst nichts. Genau wie in seinem Zimmer eben.

Und doch war da etwas. Der Duft von Mums Parfüm wurde stärker, je näher er dem Bett kam. Als würde ihm jemand den Flakon unter die Nase halten. Er roch es so klar. Und da war noch etwas. Schwerer zu beschreiben. Als Ash neben dem Bett stand und auf die zerwühlten Laken blickte, konnte er seine Mutter riechen. Nicht nur das Parfüm, sondern auch ihr Shampoo, Duschgel und so etwas wie einen Hauch frischer Luft. Jeden dieser Düfte konnte Ash einzeln herausgreifen, was ihm wirklich absolut merkwürdig vorkam. Ganz klar: Mum war hier gewesen! Auf dem weißen Kissenbezug entdeckte er sogar ein paar ihrer dunklen Haare.

In dem Moment fühlte sich Ash ihr unglaublich nah und gleichzeitig hilflos und auf so schmerzhafte Weise getrennt von ihr, dass das Panik-Tier mit ihm durchzugehen schien. Am liebsten hätte er sich aufs Bett geworfen, den Kopf im Kissen vergraben und losgeheult. Aber er unterdrückte den Drang und ermahnte sich selbst, kein Jammerlappen zu sein. Falls Mum tatsächlich Hilfe brauchte, was nützte es ihr da, wenn er hier rumlag und flennte?

Er stellte sich vor, wie er seine Angst zu einem harten Klumpen zusammenpresste und wegdrückte, zurück in die Eingeweide oder wo auch immer sie herkam. Dann schlich er zurück auf den Flur und setzte seine Suche fort. Mums Duft verflüchtigte sich immer mehr, bis er ihn nicht mehr wahrnehmen konnte. Als wäre sie nie hier gewesen.

Pat-schik. Pat-schik.

Ash probierte jede einzelne Tür und checkte sämtliche Räume. Sie waren alle identisch – und alle leer. Als er das Ende des Korridors erreichte, spähte er durch die schmalen Glasscheiben zu beiden Seiten der Tür, die den Flur abschloss. Rechts und links gingen weitere Korridore ab. Und geradeaus führte eine breite Treppe nach unten.

Ash zögerte einen Moment, dann drückte er die Tür auf und schoss durch den Flur zur Treppe. Zumindest hatte er jetzt ein Ziel. Nach zehn Stufen folgte ein kleiner Absatz und die Treppe führte gegenläufig weiter hinab – in die riesige Empfangslobby eines Bürogebäudes. Es war ein kuppelförmiger Raum, bis oben hin mit getönten Scheiben verglast. In der Mitte befand sich ein großer, runder Rezeptionstresen, der wie eine Insel auf dem gefliesten Boden zu treiben schien, brusthoch und aus poliertem, dunklem Holz. Hinter dem Tresen ragte eine Wand aus demselben Holz auf mit dem eindrucksvollen, mindestens ein Meter großen Edelstahl-Schriftzug des Firmennamens:

BIOMESA

Von dem »O« gingen in regelmäßigem Abstand acht Strahlen ab, die offenbar eine schwarze Sonne darstellen sollten, aber für Ash sah es eher nach einer fetten, kurzbeinigen Spinne aus. Das hatte er schon immer gedacht, solange er das Logo kannte. BioMesa war die Firma, für die seine Mutter arbeitete.

Siehst du?, raunte die Stimme. Es ist ihre Schuld. Das alles hier ist ihre Schuld.

Was war ihre Schuld? Das ergab doch alles keinen Sinn! Mum hatte einen total langweiligen Job. Sie arbeitete als Wissenschaftlerin an dem Pharma-Standort von BioMesa, etwas außerhalb der Stadt.

Ash ließ seine Hand über den Empfangstresen gleiten. Der Duft von Wachs und Leder hing in der Luft. Gleichzeitig roch es beißend, irgendwie elektrisch. Wieder nahm Ash die einzelnen Gerüche extrem intensiv wahr, aber sie überwältigten ihn nicht mehr – nicht wie eben in dem Zimmer. Trotzdem war es komisch, dass er sie so klar unterscheiden konnte. Als wären sie irgendwie höher konzentriert als
sonst.

Hinten hatte der runde Tresen einen Durchgang mit einer Klappe – wie bei einer altmodischen Ladentheke. Ash schlüpfte ins Innere der Holzinsel und sah vier Stühle hinter vier Computern mit schwarzen Bildschirmen. Alle Geräte waren ausgeschaltet und nicht ein einziges Blatt Papier lag herum. Auch keine Stifte, Büroklammern und kein Foto. Der ganze Rezeptionsbereich wirkte vollkommen unbe-
nutzt.

Aber nicht diese Leere und Aufgeräumtheit verblüfften Ash, sondern das, was er draußen sah. Durch die getönten Glasscheiben. Definitiv war das da draußen nicht England, das stand fest.

»Aber wo zum Teufel bin ich dann?«

virus

Direkt vor der Eingangstür tat sich eine große Lichtung auf, die von einem bestimmt fünfzehn Meter hohen Maschendrahtzaun umgeben war. Dahinter standen Bäume. Bäume, Bäume und nochmals Bäume. Aber keine Eichen, Kastanien oder Ahornbäume. Überhaupt hatten sie nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Bäumen in Ashs grauer, ständig regennasser Straße zu Hause in England.

Diese Bäume hier wuchsen viel dichter und wild inei­nan­der. Sie hatten eher farn- oder palmwedelartige Blätter. Manche sahen sonderbar aus, mit merkwürdig geformten Wurzeln oder einer extrem dicken, knorrigen Rinde, aus der verzerrte Gesichter herauszustarren schienen, oder mit Stämmen, die an mittelalterliche Waffen erinnerten. An manchen hingen Lianen, an anderen exotische Früchte.

Ash traute seinen Augen kaum. Das sah eindeutig nach Dschungel aus! Der Himmel strahlte klar und hell, selbst durch die getönten Scheiben. Wie Juwelen funkelten die Lichtstrahlen, die durch das Blätterdickicht fielen, und der große schwarze Helikopter, der in der Mitte der Lichtung stand, glänzte in der Sonne. Fast magisch zog es Ash in Richtung Ausgang.

An irgendeinem Punkt wurde er offenbar von Bewegungssensoren erfasst, denn die Automatiktür glitt auf. Sofort schlug ihm ein Schwall feuchtheißer Luft entgegen und nahm ihm den Atem. Wieder wurde er mit Sinneseindrücken bombardiert. Die Welt dort draußen lebte.

Ash presste sich die Hände auf die Ohren und kniff die Augen zu, um das Chaos von Geräuschen, Gerüchen und Bildern auszusperren. Es war, als stünde direkt vor ihm ein Fernseher, der wahllos durch die Sender zappte, den Ton auf voller Lautstärke. Alles wirkte größer, gewaltiger und intensiver, sämtliche Regler in seinem Kopf schienen auf Maximum gestellt. Allein das Insektengezirpe, das Vogelgezwitscher und Blätterrauschen! Nonstop, ohne Pause. Oder das Sirren des Stroms in dem Elektrozaun, ein nerviges, schrilles Wimmern, das sich wie ein dünnes Tuch über alles drüberlegte. Und erst die Farben! Nach dem kalten, monotonen Weiß im Gebäude war es eine regelrechte Farbenexplosion: eine Million verschiedener Grüntöne mit knallig roten, gelben, lila und pinkfarbenen Klecksen. Und schließlich die Gerüche. Der Geruch dunkler Erde. Der intensive Duft unzähliger Blüten. Der widerlich-süßliche Gestank von Hubschrauberbenzin.

Völlig benommen ließ sich Ash auf die Knie fallen und rollte sich zusammen. Versuchte wieder zu Sinnen zu kommen. Er wollte nur eins: dass all das hier verschwand. Er öffnete den Mund, um zu schreien, da schoss ihm Dad durch den Kopf.

Dad.

Dad, der ihm immer wieder gesagt hatte, er solle keine Angst haben. Der ihm eingeimpft hatte, dass er stark war.

»Ich bin stark«, flüsterte Ash. »Ich schaffe das.«

Er konzentrierte sich so sehr auf die Worte, dass es ihm tatsächlich gelang, sich den Gerüchen nicht zu verschließen, sondern sie einzuatmen. Und anstatt die Geräusche auszublenden, nahm er die Hände von den Ohren und lauschte, bevor er schließlich die Augen öffnete und all die Farben in sich aufnahm.

Erneut tastete er nach der Kennmarke und drückte sie zwischen Daumen und Zeigefinger. »Ich bin stark«, wiederholte er, lauter diesmal, und wagte es, den Blick schweifen zu lassen. »Ich bin stark

Die Gerüche, Geräusche und Bilder kamen zur Ruhe und wimmelten nicht mehr durcheinander. Ash hatte das Gefühl, die Kontrolle über seine Sinne wiederzuerlangen und einigermaßen filtern zu können, was er an sich heranlassen wollte. Nur das schrille Elektrosirren konnte er nicht ausblenden und das machte ihn ganz verrückt.

Ash blickte in den Wald. Alles war gestochen scharf. Jedes einzelne Blatt hinter dem Zaun konnte er erkennen, kein noch so kleines Hüpfen eines Vogels in den Zweigen entging ihm. Es kam ihm vor, als hätte er die letzten dreizehn Jahre hinter einer dreckigen Fensterscheibe gehockt – und eben gerade war sie geputzt worden. Mit seinen Ohren ging es ihm ähnlich. Er konnte sogar die verschiedenen Vogelrufe unterscheiden.

Es war extrem verwirrend. Beängstigend. Unglaublich.

Er rappelte sich hoch und tappte hinaus auf die Lichtung. Er glaubte eine neue Welt zu betreten. Die Hitze umhüllte ihn wie eine kuschelige Decke. Während er über das dickhalmige Gras ging, schloss sich die Automatiktür hinter ihm. Der Rasen unter seinen nackten Füßen fühlte sich warm und schwammig an. Er näherte sich dem Hubschrauber, der wie ein schlankes Insekt auf der grünen Wiese stand. Ob er wohl damit hergeflogen war? Er streckte seine Hand aus. Die Lackierung glühte in der Hitze und er zog ruckartig die Hand zurück. Das Teil musste schon eine ganze Weile in der knalligen Sonne braten.

Wie lange er wohl geschlafen hatte? Und vor allem: Wie lange er wohl schon hier war?

Wieder wanderte sein Blick zu der dichten Blätterwand keine hundert Meter entfernt. Er erinnerte sich, wie sie einmal Mums indische Familie in Trivandrum besucht hatten und wie er mit Dad dort durch den Dschungel gestreift war. Dad hatte ihm zeigen wollen, wie man Feuer macht und sich einen Unterschlupf baut. Einmal verbrachten sie sogar die Nacht im Wald, in völliger Dunkelheit, umgeben von gruseligen Geräuschen. Er hatte kaum ein Auge zugetan, aber Dad war trotzdem mit ihm zufrieden gewesen und hatte sogar gesagt, aus ihm würde noch ein richtiger Survival-Experte werden.

Ash war sich da nicht so sicher gewesen. Er lag definitiv tausendmal lieber in seinem gemütlichen Bett als in einer schaukligen Hängematte, nur mit einer undichten Regenjacke zugedeckt. Das Feuermachen und Rösten der Tandoori-Hühnchenstücke hatte allerdings Spaß gemacht. Und zum Glück wurde er auch von den Moskitos nicht so wahnsinnig heimgesucht – anders als Dad, den sie fast aufgefressen ­hatten.

Ash fragte sich, ob er sich vielleicht in Trivandrum befand. In Indien. Vielleicht war das der Zusammenhang mit Mum?

Er betrachtete das Gebäude, aus dem er gerade herausgetreten war. Ein großer, kuppelförmiger Betonbau mit einem gläsernen Empfangsbereich, der wie der Eingang eines ­Iglus hervorsprang. Von außen war die Glasfläche verspiegelt. Gleißend reflektierte sie das Sonnenlicht. Der Zaun und der Wald schienen das gesamte Gebäude zu umschließen, wie eine große kreisförmige Lichtung. Der Zaun gefiel Ash nicht. Und überhaupt: Warum war er mit Strom gesichert? Um irgendjemanden oder irgendwas einzusperren? Oder draußen zu halten? Plötzlich wirkte das elektrische Sirren bedrohlich.

Zu seiner Rechten entdeckte Ash eine Lücke im Zaun. Er konnte es zwar nicht richtig erkennen, aber es sah aus wie ein eingezäunter Pfad, der in den Urwald führte …

Da, ein Geräusch!

Schritte. Leise, aber unverkennbar.

Ash erstarrte, unschlüssig, was er tun sollte. Während er noch wie festgewachsen dastand, flatterte ein Schwarm schwarz-weißer, elsternähnlicher Vögel kreischend aus den Bäumen hoch, teilte sich und verschwand hinter den Wipfeln. Ash musste das Geräusch vor den Vögeln gehört haben. Aber war das möglich?

Die Schritte kamen näher. Und jetzt bewegte sich auch etwas hinter dem Zaun. Sein Instinkt riet ihm zu verschwinden. Sich zu verbergen vor dem, der sich da näherte. Andererseits war es das erste Lebenszeichen überhaupt seit seinem Erwachen. Vielleicht war es ja Hilfe, die da nahte.

Vielleicht war es sogar Mum.

Kurz darauf tauchte eine Gestalt auf dem Pfad auf und trat durch die Lücke im Zaun auf die Lichtung. Ein Mädchen mit einem Stock in der Hand. Nach ein paar Metern entdeckte sie Ash und blieb stehen.

Sie war jung, ungefähr in seinem Alter, mit olivfarbener Haut und langen dunklen Haaren, die sie in der Mitte gescheitelt hatte. Plötzlich schoss Ash durch den Kopf, dass sie ja gefährlich sein könnte. Ihn vielleicht angreifen wollte. Oder andere Angreifer im Schlepptau hatte. Adrenalin pulsierte durch seinen Körper, versetzte ihn in kribbelnde Alarmbereitschaft. Seine Augen flitzten zwischen ihr und seiner unmittelbaren Umgebung hin und her, auf der Suche nach einem Stein, einem Stock oder sonst einer Waffe.

Das Mädchen zog die linke Hand aus der Tasche ihrer Cargohose und winkte. »¡Hola! ¿Cómo estás?«

Ash stand immer noch mit geballten Fäusten da, halb flucht-, halb kampfbereit.

»¡Hola!«, wiederholte sie. »Hallo.«

Das klang eigentlich ganz freundlich.

»¿Te has perdido?«, fragte sie. »Hast du dich verirrt?« Sie legte sich den Stock über die Schulter und kam auf Ash zu. Ein süßer Zimt- und Ingwerduft umhüllte sie – und ein Hauch von Kokos. »Sprichst du Englisch?«

Er nickte.

»Du bist bestimmt der Typ aus dem Hubschrauber.« Ihr starker Akzent verriet, dass Englisch nicht ihre Muttersprache war. »Du hast … wie sagt man … herausgeschaut.«

Als sie noch näher kam, hob Ash die Fäuste und trat ein paar Schritte zurück.

Das Mädchen blieb stehen. Sie betrachtete den Stock in ihrer Hand, runzelte die Stirn und warf ihn weg. »Ich tu dir nichts.«

Doch Ash blieb angespannt.

»Ich heiße Isabel.« Aus ihrem Mund klang es wie Ii-sa-bell.

Ash schwieg, verwirrt und immer noch misstrauisch. Er musterte das Mädchen von Kopf bis Fuß, die Dschungelstiefel, das T-Shirt, die Cargohose. Was sie wohl von ihm dachte? Einem mageren Jungen, relativ klein, nur in einem dünnen Schlafanzug.

Als Ash weiter schwieg, zuckte sie die Achseln. »Deine Haare sind lustig. Sehen cool aus. Fast weiß.« Sie fuhr sich mit der Hand über ihren eigenen Schopf. »Sieht gut aus.«

Ash kniff die Augen zusammen. »Wo sind wir?«

»Isla Negra.« Sie warf sich die Haare zurück. »Schwarze Insel. Und das da ist die BioSphäre.« Sie deutete auf das Gebäude.

»Schwarze Insel«. Der Name gefiel Ash nicht. Ebenso wenig wie »BioSphäre«. Eigentlich gefiel ihm überhaupt nichts an diesem Ort.

»Du hast uns ankommen sehen? Auch meine Mutter?«

». Vor zwei Tagen.«

Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Vor zwei Tagen? Wie konnte das angehen? Er konnte doch unmöglich zwei Tage geschlafen haben! »Weißt du, wo meine Mutter … jetzt
ist?«

Isabel berührte den Kragen ihres verblichenen schwarzen Shirts. »Im …«, offenbar suchte sie nach dem richtigen Begriff, »im For … schungs … la … bor wahrscheinlich.« Sie nickte, zufrieden, dass sie das Wort gefunden hatte. »Mit Papa.«

»Hast du sie gesehen?« In Ash keimte Hoffnung auf. »Geht es ihr gut?«

»Deine Mama ist … morena? Dunkelhäutig, so wie du? Braune Haut? Mit dunklen Haaren, so wie ich? Ungefähr so groß?« Sie hielt ihre Hand etwa dreißig Zentimeter über ihren Kopf.

»Ja.«

»Dann hab ich sie gesehen. Sie ist mit dir und den anderen aus dem Hubschrauber gestiegen. Ich hab Papa gefragt, wer ihr seid, aber er sagte, das ist geheim. Hier gibt es viele Geheimnisse, deshalb hab ich nicht weiter gefragt. Komm, ich bring dich zu Papa.« Mit diesen Worten stiefelte Isabel an ihm vorbei auf die BioSphäre zu.

Ash zögerte. Konnte er ihr vertrauen?

»Komm schon.« Isabel lächelte ihn an. »Wir suchen deine Mutter.«

Da er keine Alternative sah, folgte Ash ihr schließlich. »Was ist das hier für ein Ort? Und wo sind die ganzen Leute?«

Die Automatiktür glitt auf und sie betraten das kühle Gebäude.

»Hab ich doch schon gesagt. Isla Negra. Eine Insel. In der Nähe von Costa Rica.«

»Was?« Ash konnte sein Entsetzen nicht verbergen. »Costa Rica? Liegt das nicht in Südamerika oder so?«

»Mittelamerika. Und hier gibt es nicht viele Leute. Nur ganz wenige. Bis ihr kamt …«

Ein ohrenbetäubender, grauenhaft schriller Sirenenton unterbrach sie. Ein Heulen, das durch Mark und Bein ging.

Mit offenem Mund blieb Isabel stehen, die Hände auf die Ohren gepresst. Ash hatte das Gefühl, als würde ein riesiger Nagel in seinen Schädel gerammt werden. Er schrie vor Schmerz und versuchte sich so klein wie möglich zu
machen.

Krampfhaft umklammerte er die Kennmarke und stellte sich vor, er wäre zu Hause in seinem Zimmer und würde Musik hören. Mum und Dad wären unten und alles wäre so, wie es sein sollte. Alles wäre normal. Nach ein paar Sekunden ließ der Schmerz nach und das Geräusch wurde leiser, als würde es durch einen Tunnel verschwinden. Je stärker sich Ash auf sein Zuhause konzentrierte, umso besser konnte er den Lärm aushalten.

»Alles okay bei dir?«, brüllte ihm Isabel ins Ohr. »Geht’s dir …?«

»Ja.« Ash ließ die Kennmarke los und hob seine Hand. »Mir … mir geht’s gut. Was ist das für ein Krach?« Er öffnete die Augen und blickte sie an.

»Der Alarm. Irgendwas ist passiert.«

In dem Moment ertönte ein Geräusch aus den Tiefen des Gebäudes, noch tausendmal furchteinflößender. Im echten Leben hatte Ash es noch nie gehört, aber er hatte genug Filme gesehen und Videospiele gespielt, um zu wissen, was es war.

Schüsse.

virus

Sie standen immer noch da, starr vor Schock, als die ­Sirene völlig unvermittelt verstummte. Doch in Ashs Ohren heulte sie noch eine ganze Weile weiter. Er fühlte sich, als hätte ihm jemand auf den Kopf geschlagen.

»Was ist hier los? Ich muss Mum …« Ash unterbrach sich. »Warte! Da kommt jemand.«

»Ich höre nichts.«

Doch Ash hörte es, als wäre es direkt neben ihm: schnelle Schritte. Er fuhr herum und sah zwei Männer die Treppe zur Empfangslobby herunterrennen.

Der Schnellere von beiden nahm die letzten Stufen springend. Dumpf landete er auf den Fliesen und verdrehte sich dabei offenbar den Knöchel, denn er sackte auf die Knie. Fluchend rappelte er sich hoch. Der zweite Mann, der jetzt ebenfalls unten war, half ihm dabei. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, der Erste humpelnd, entdeckten sie Ash und Isabel.

Brrrratatata! Irgendwo im oberen Stock ratterte eine neue Gewehrsalve.

»Lauft! Schnell! Raus hier!«, rief ihnen einer der beiden im Vorbeirennen zu. »Ist zu gefährlich! Na los, kommt.«

Als die Schiebetür aufglitt, trat Ash ein paar Schritte zurück. »Nein, wir müssen meine Mutter finden.«

»Und mein Papa arbeitet auch dadrinnen.« Isabel blickte den Männern nach, die auf den Helikopter zueilten. Als sie ihn erreichten, zog der Typ mit dem verdrehten Bein die Tür auf und kletterte hinein.

Brrrratatata!

Diesmal klangen die Schüsse deutlich näher, schienen direkt über ihnen zu sein. Und dann dröhnten Schritte auf der Treppe.

»Verstecken!« Ash stürzte auf die Rezeption in der Mitte der Lobby zu. Isabel zögerte kurz, dann folgte sie ihm. Ash schlüpfte bereits durch den Durchlass im Tresen und verkroch sich unter einem der Computerarbeitsplätze.

Kurz darauf polterten mehrere Stiefelpaare die Treppe herunter.

»Da vorne! Stoppen Sie sie!« Das war eine Frauen­stimme, laut und bestimmt.

Eine Schrecksekunde lang dachte Ash, die Frau hätte sie gesehen und hetzte ihnen nun jemanden auf den Hals. Aber gleich darauf rief sie: »Sie dürfen nicht abheben!«

Es folgte hektisches Getrampel auf den Fliesen, direkt an ihrem Versteck vorbei, dann surrte die automatische Tür und die Schritte verschwanden nach draußen.

Ash sah in Isabels dunkelbraunen Augen, dass sie genauso verschreckt und verwirrt war wie er. »Wir kommen hier raus, wirst sehen«, wisperte er, schon allein, um sich selbst Mut zu machen.

»Warum tun die das?«, flüsterte Isabel. »Warum schießen die?«

»Ich gucke mal.«

»Nein!«

»Doch, ich muss sehen, was da los ist.« Ash holte tief Luft und richtete sich gerade so weit auf, dass er über die Tresenkante spähen konnte.

Durch das gläserne Eingangsportal sah er eine Frau – und sofort überrollte ihn eine Erinnerung, wie ein Auto, das mit Wahnsinnstempo aus dem Nichts auftauchte und in ihn reinbretterte. Du kennst sie, sagte die Stimme. Sie war bei euch zu Hause. Hat sich als »Cain« vorgestellt.

Ash fühlte sich benommen, wie aus einem Traum hochgeschreckt. Weitere Erinnerungen tauchten auf und wurden immer deutlicher. Er in seinem Zimmer, wie er aus dem Fenster schaute. Und plötzlich war ein metallicschwarzer Range Rover mit getönten Scheiben in ihre Sackgasse gerast, hatte mit quietschenden Reifen vor ihrem Haus gehalten. Ein Mann und eine Frau waren ausgestiegen und zur Haustür gekommen. Mum hatte geöffnet und sie hatten sie beiseitegeschoben und …

Dich betäubt. Und hierhergebracht.

Ash schüttelte die Stimme ab und musterte die Frau namens Cain, die direkt vor dem Helikopter stand. Sie sah durchtrainiert und selbstbewusst aus, trug Tarnhose und -jacke, darüber eine dunkelgrüne Weste mit aufgesetzten Taschen und ein Basecap mit großem, gebogenem Schirm. Ihr schwarzes Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden, ihre Füße steckten in schwarzen Armeestiefeln. In der Hand hielt sie ein Sturmgewehr, das Ash aus seinen Videospielen kannte. Es war ein M4-Karabiner und die Frau zielte damit geradewegs auf die Cockpitscheibe.

Neben ihr stand ein Mann in absolut identischer Kleidung, als wäre es eine Art Uniform. Er war ein echter Hüne, wie Hulk, mit irre breiten Schultern und kaum Hals. Wie ein Besessener rüttelte er an der Helikoptertür, während Cain irgendetwas brüllte. Ash wandte sein Ohr in die Richtung, versuchte ebenso intensiv zu hören wie zuvor, aber die Glasscheiben waren zu dick. Mehr als Gemurmel drang nicht herein. Doch Cains Gestik und Mimik sprachen Bände: Offenbar herrschte sie die Männer an, sofort aus dem Hubschrauber zu steigen. Aber sie schienen ihrem Befehl nicht folgen zu wollen, denn kurz darauf dröhnte der Motor los und Sekunden später begannen die Rotorblätter zu kreisen.

»Fliegen sie weg?«, flüsterte Isabel.

In diesem Moment wandte Cain ihren Kopf und warf ­einen prüfenden Blick auf das Gebäude, als hätte sie etwas gehört. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten ihre kalten blauen Augen denen von Ash.

»Runter!«, zischte er und duckte sich.

Diesmal kroch er noch weiter unter den Tresen, presste sich so dicht an die Holzverkleidung wie nur irgend möglich. Sein Hals brannte von der Magensäure, die er aufgestoßen hatte. Cain hatte ihn gesehen und würde …

Moment. Verspiegeltes Glas.

Cain konnte ihn nicht gesehen haben. Unmöglich. Von innen waren die Scheiben getönt, von außen verspiegelt.

Das sagte sich Ash ein paarmal zur Beruhigung, bevor er sich erneut aufrichtete und einen Blick riskierte.

Cain stand immer noch in seine Richtung gewandt da. Sie hatte einen Finger aufs Ohr gepresst und kommunizierte offenbar über Funk mit jemandem. Es sah nach Streit aus.

Der Hubschraubermotor heulte so laut, dass man ihn sogar in der Lobby hörte. Die Rotorblätter kreisten immer schneller. Cains Basecap klappte nach hinten und wurde dann regelrecht weggepeitscht, aber das schien sie nicht zu kümmern, sie stritt unbeirrt weiter. Nach ein paar Sekunden nickte sie, drehte sich zum Hubschrauber zurück und richtete ihre Waffe erneut aufs Cockpit.

Hulk kapierte und sprang von der Tür weg.

Brrrratatata!

Gedämpft hörte Ash die Gewehrsalve und beobachtete den Rückstoß der Waffe in Cains Hand. Dann zersplitterte die Cockpitscheibe. Aber es war zu spät. Der Helikopter hatte bereits abgehoben, die Kufen schwebten schon ein paar Meter über dem Gras.

»Runter mit ihm!«, brüllte eine Stimme oben von der Treppe. »Nicht fliegen lassen!«

Blitzschnell tauchten Ash und Isabel wieder hinter den Tresen. Schritte eilten die Stufen herunter und an ihnen vorbei. Die Automatiktür surrte und das Hubschrauberwummern schallte herein.

Ash wagte einen vorsichtigen Blick. Ein dickbäuchiger Mann in einem zerknitterten Anzug hastete hinaus, die Augen gen Himmel gerichtet. Er war älter als die anderen, klein und ungepflegt, mit wirrem Haar, kurzem Bart und einer dunkel eingefassten Brille. Über seiner Schulter hing eine Kuriertasche mit geschlossenem Reißverschluss.

Der Mann von der Beerdigung! Der Typ, der Mum so in Panik versetzt hatte!

Dicht auf den Fersen folgten ihm ein kräftiger Rothaariger und zwei soldatenähnliche Typen, die zusammen eine riesige Holzkiste schleppten: die Art Kiste, die man zum Transport von Tieren benutzte und bei der man, zum besseren Tragen, zwei Stangen durch Seilschlaufen am Rand stecken konnte. In die Seitenteile waren sechs Reihen kleiner Luftlöcher gebohrt, in der Vorderseite befanden sich zwei große runde Öffnungen mit Drahtnetz. Eine furchtbare Sekunde lang dachte Ash, seine Mum würde in der Kiste stecken.

Als sich die Automatiktür hinter ihnen schloss, gestikulierte der Anzugträger in Richtung Hubschrauber und schrie Cain etwas zu.

Cain blickte sich nach Hulk um, dann hoben beide ihre Waffen und begannen erneut zu feuern.

Brrrratatata!

Kugeln bohrten sich in den Helikopter, der schon oberhalb der Baumwipfel schwebte, durchlöcherten die komplette Unterseite. Schnell lud Cain nach und feuerte weiter, sie hatte bereits ein ganzes Magazin verballert.

Der ungepflegte Beerdigungstyp trat bis zur Automatiktür zurück und beobachtete, wie der aufsteigende Hubschrauber einen Seitwärtsschwenk machte – wie ein Tier auf der Flucht vor nervigen Insekten. Als sich der Heli schon weit oberhalb der Bäume befand, senkte sich die Nase und für einen Moment sah es so aus, als würde er tatsächlich wegfliegen. Aber dann drehte er sich plötzlich um die eigene Achse und das Heck sackte ab, so dass die Nase himmelwärts zeigte.

Cain und Hulk feuerten unbeirrt weiter, während der Hubschrauber immer mehr nach hinten kippte. Dann ruckte er plötzlich nach links und fiel.

In einer unglaublichen Geschwindigkeit.

Cain und Hulk senkten ihre Waffen und rannten zum Gebäude zurück. Die Tür glitt auf und das Geräusch der stotternden Maschine drang herein. Auch der Rothaarige und die zwei Kistenträger eilten in die Lobby, samt ihrer schweren Fracht. Was auch immer sich in der Holzbox befand, es musste ihnen so wichtig sein, dass sie es nicht draußen stehen lassen wollten.

Am anderen Ende der Lichtung zerhäckselten die Rotorblätter ein paar Baumkronen, was den Helikopter derart ins Trudeln brachte, dass er sich erst zur einen, dann zur anderen Seite drehte, bevor er bodenwärts kreiselte und schließlich mit einem abscheulichen Krachen aufschlug.

Auf der Wiese drehte er sich weiter, wie ein altmodisches Aufziehspielzeug. Das Heck peitschte in den elektrischen Zaun und schlitzte die Drahtmaschen auf, was einen gewaltigen Funkenregen auslöste. Dann knallte es gegen einen dicken Baumstamm und brach mit einem metallischen Kreischen ab. Der Rest der Maschine kippte zur Seite, die Rotorblätter rissen ab und zerschredderten in kleine Teile, die wie Granaten durch die Gegend schossen.

Rauchschwaden und Staub stiegen vom Wrack auf und bauschten sich zu einer gewaltigen Wolke zusammen, die wie eine Flutwelle über die Lichtung rollte, durch die offene Tür in die Lobby quoll und überall Erdklumpen und Zweige verteilte. In wenigen Sekunden hatte sich die gesamte Empfangshalle in ein Katastrophengebiet verwandelt – und mittendrin, vollkommen davon eingehüllt, standen Cain und ihre Männer.

virus