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Intro

Kurz nach sieben. Ich sitze vor den großen Sprossenfenstern im Wohnzimmer. Es ist ein kühler, klarer Septembermorgen in den Bergen. Die Sonne strahlt noch ein wenig verhalten durch die Bäume. Der Ahorn im Garten und einige Pappeln tragen schon gelbe Blätter. Es riecht nach Herbst. Um mich herum eine nackte Rubensfrau aus Ton, die an einer Weinrebe posiert, ein paar Grünpflanzen, Kerzenhalter, Bilder, Fotos und Regale voller Bücher. Eine große Laubzweiglampe aus vergilbtem Metall mit drei Glühbirnen hängt an der weiß getünchten Steinwand. Viel Tinef, dazu überall Kartons mit Unterlagen, Ordnern und ein paar Umzugskisten. Jane Dorsa O’Dell, die letzte Bewohnerin von Stoneapple Farm, war im Januar gestorben, mit sechsundneunzig Jahren. Das Haus selbst ist noch älter, Ende des 19. Jahrhunderts erbaut, um hier die Äpfel der umliegenden Plantagen zu verpacken. Die Gegend hier, eine Autostunde östlich von San Diego, zählt zu den fruchtbarsten in Kalifornien.

Als ich vor einem halben Jahr zufällig mit dem Auto hier durchkam, musste ich sofort anhalten. Meine Freundin und ich waren auf dem Weg von der Wüste zur Küste, als wir plötzlich durch Julian fuhren. Was für ein verwunschen schöner Platz. Die Main Street ließ noch den Charme der Goldgräberzeit erkennen. In den alten, liebevoll renovierten Holzhäusern reihten sich kleine Geschäfte aneinander. Alles wirkte beschaulich, fast schon kitschig, aber irgendwie nett. Ja, hier ließe es sich leben, waren wir uns sofort einig und sind gleich ins Maklerbüro an der Hauptstraße. Eine Stunde bis San Diego und ans Meer, drei Stunden bis Los Angeles, die Wüste im Osten und hier auf rund 1300 Metern alpines Klima mit vier Jahreszeiten. Maklerin Deborah gab uns einen Stapel Broschüren mit halbwegs finanzierbaren Angeboten …

Als ich vor ein paar Wochen dann überlegte, wo ich mein Buch über die Americana fertig schreiben soll, fiel mir Deborahs Karte in die Hand. Zu Hause gab es zu viel Ablenkung, der Rasen musste gemäht werden, die Fenster hatten auch schon lange kein Wasser mehr gesehen, zumindest von innen, unzählige Anrufe mit Bitten um sofortige Erledigung. Ich musste raus. Warum also nicht nach Julian? »Dass Sie sich ausgerechnet jetzt melden«, stand in Deborahs Mail. »Gerade habe ich mit einem Ehepaar aus Philadelphia gesprochen. Ihre Tante ist hier kürzlich verstorben, und nun überlegen sie, ob sie das Haus zeitweise vermieten sollen.«

Schon bei den ersten Bildern, die ich sah, war ich begeistert. Natursteinmauern, massive Holzdielen im Wohnzimmer, rustikaler Kamin, grobe Tonfliesen in der Küche mit kleinem Holzofen in der Mitte. Ich stehe auf alte Häuser, ihr Flair und ihre Geschichte.

Als mir Gillian, die Nichte der Verstorbenen, dann am Telefon erzählte, dass der Mann ihrer Tante mehrere Bestseller in dem Haus geschrieben habe, sie selbst – Jane Dorsa – als Kolumnistin für Lebensfragen für verschiedene Zeitungen arbeitete und sie einen Hund hatten, der Dirk hieß, war ich mir nicht mehr sicher, ob das alles wirklich nur Zufall sein konnte.

Nun bin ich also hier. Inmitten von Rehen, die durch den Garten stapfen, Kolibris, wilden Truthähnen und Spechten, die permanent an die Holzgiebel oben am Haus klopfen. Manche Stellen sehen aus wie Einschusslöcher von einer Schrotflinte. Gestern musste ich einen kleinen Frosch retten, der sich in die Kloschüssel verirrt hatte. Jetzt noch schnell die Vögel draußen füttern, Jane Dorsa O’Dell hat das auch immer getan, jahrzehntelang, und ihre Nichte bat mich darum. Aber dann kann es endlich losgehen …

Julian, Kalifornien,

September 2008

Prolog

»Du solltest unbedingt eine Adrenalinspritze mitnehmen, wegen der Giftschlangen, Spinnen und Skorpione!«

Vor meinem geistigen Auge sah ich mich mit letzter Kraft mir die Injektionsnadel durch den Brustkorb direkt ins Herz jagen. Nur um alsbald festzustellen, dass mein vom tödlichen Gift vermutlich schon völlig umnebelter Verstand die rechte Hand einen Tick zu hoch steuerte, sodass ich versehentlich die Lunge perforierte. Wahrscheinlich würde dann wenigstens der Todeskampf verkürzt … Oder hatte ich mich gerade verhört?

»Nein, nein!«, bestätigte mir der Anrufer seinen überlebenswichtigen Tipp.

»Mein Bruder hat mal was ganz Ähnliches wie du gemacht. Und dem hat das Adrenalin echt geholfen …«

Ich schluckte. Auf was hatte ich mich da eingelassen? Ich wollte doch nur eine Radtour machen. In den USA, dem Mutterland der Klimaanlagen und Drive-in-Restaurants, wo Bequemlichkeit und Sicherheit mindestens so wichtig sind wie die von den Gründervätern in der Verfassung verankerten Grundrechte, auf die die amerikanische Nation so stolz ist.

Ich war dankbar für die vielen Tipps, die mir meine Hörer in der letzten Radiosendung vor der Abreise mit auf den Weg gaben. Melkfett sollte ich natürlich mitnehmen, fürs strapazierte Gesäß. Eine Radhose mit Ledereinsatz, angeblich viel besser als das, ich zitiere, »Synthetik-G’lump«. Außerdem eine homöopathische Hausapotheke mit Arnika gegen Muskelkater, die schon erwähnte Notfall-Adrenalinspritze, und am Morgen »klatscht du dir am besten einen Teller Nudeln ins Gesicht«.

Gegen Sonnenbrand oder Mückenstiche?, überlegte ich für einen Moment.

»Nein! Wegen der Kalorienbilanz. Nudeln zum Frühstück, und du kannst den ganzen Tag strampeln, ohne müde zu werden.«

Verlockender Gedanke, obwohl ich morgens eher nach Süßem giere …

Geschätzte 15 000 Kilometer hatte ich mir vorgenommen. In 180 Tagen, allein. Von Florida nach Kalifornien, dann die Westküste hoch bis nach Seattle, von dort wieder an die Ostküste und schließlich zurück zu meinem Ausgangspunkt in Florida.

Ja, Sie haben recht, es gibt Härteres, viel Härteres. Jedes Jahr brechen Menschen auf, um die Welt mit dem Fahrrad zu umrunden, ohne zu wissen, wie lang sie dafür brauchen und wo ihre Route verlaufen wird. Oder denken Sie an waghalsige Abenteurer, die einen Schubkarren quer durch die Sahara schieben und anschließend in einem Jutesack die Antarktis umhüpfen. Solche Menschen verdienen meinen Respekt, sie faszinieren mich. Weil sie etwas Einzigartiges, Gefährliches unternommen und hoffentlich überlebt haben.

Mir ging es bei meiner Reise allerdings nicht so sehr um sportliche Höchstleistungen. Obgleich ich zugeben muss, dass mich der Gedanke, ein solch riesiges Land aus eigener Kraft im wahrsten Sinne zu erfahren, schon auch reizte. Vor allem aber wollte ich den Menschen dort begegnen, sie kennenlernen. Schließlich verdanken wir ihnen so bahnbrechende Erfindungen wie die Glühbirne (okay, die ist eigentlich deutsch, aber von den Amis halt weiterentwickelt und besser vermarktet worden), den Cowboy (könnten natürlich auch die Spanier gewesen sein, zumindest der Begriff aber klingt doch uramerikanisch …) oder die Ich-kann-nicht-glauben-dass-es-keine-Butter-ist-Margarine (die heißt wirklich so!).

Die Idee zu diesem Vorhaben kam mir schon bei meiner ersten Reise in die USA vor fast zwanzig Jahren. Wir besuchten damals einen Großonkel meiner Freundin in Seattle und fuhren dann mit dem Greyhound-Bus zunächst nach San Francisco. Diese Art des Reisens schien mir unumgänglich, allein der Name »Greyhound« klang verrucht und abenteuerlich. Wir wähnten uns auf gleicher Stufe mit den Pionieren des Westens, die monatelang auf gefährlichen und entbehrungsreichen Planwagentrecks ins gelobte Land zogen und dabei von Banditen und Indianern verfolgt wurden. Schon bald aber mussten wir feststellen, dass der Ruhm der legendären Greyhound-Buslinie wohl eher einer geschickten Marketingkampagne als der Realität zu verdanken war. In Wirklichkeit entpuppte sich diese Art des Reisens als mäßig praktisch, mäßig günstig und sehr mäßig bequem. In San Francisco nahmen wir uns dann einen Mietwagen und folgten der klassischen Touristenroute Kaliforniens. Yosemite, Death Valley, Joshua Tree, San Diego und natürlich Disneyland. Alles sehr beeindruckend, aber irgendwie auch so real. Mir fehlte der verruchte Hochglanz der Hollywood-Filme, durch die der Westen Amerikas für mich zum Inbegriff des Abenteuers geworden war. Die achtspurigen freeways hatten so gar nichts mit den staubigen Wüstenpisten meiner naiven Vorstellungen gemein. Und wo waren die Freaks, die Outlaws, die Glückssucher? Vielleicht liefen sie als verkleidetes Brathähnchen vor einem Schnellrestaurant mit Werbetafeln umher, die das geheime Panaderezept anpriesen. Möglicherweise aber waren sie auch verschwunden, ausgestorben oder hatten sich in versteckte Täler zurückgezogen.

Trotzdem hatte mich diese erste Reise nachhaltig beeindruckt. Ich war fasziniert, in vielerlei Hinsicht. Auf der einen Seite überwältigende Natur, auf der anderen Seite extrem freundliche, hilfsbereite Menschen. Aber ich sah auch die Kluft zwischen moralischen Ansprüchen und tatsächlichem Geschehen, die Schizophrenie der amerikanischen Gesellschaft. Den mitunter militanten Patriotismus, die Engstirnigkeit. Und spätestens seit dem letzten Irakkrieg gab es wohl kaum ein Land, das so umstritten war und in der Kritik stand wie die USA. Was aber denken denn die Menschen dort wirklich? Was bewegt sie? Was ist übrig geblieben vom Pioniergeist, der das Land und seine Menschen geformt hat? Ich wollte die USA erfahren, ohne Vorurteile und Klischees.

Das Fahrrad schien mir das ideale Fortbewegungsmittel für mein Vorhaben. Von meinen jährlichen Kurztrips entlang der Fernwanderwege in Deutschland wusste ich, wie intensiv diese Form des Reisens sein kann. Ausreichend schnell, um voranzukommen, aber auch langsam genug, sich Menschen und der Natur behutsam zu nähern, sie wirken zu lassen. Ich begriff, dass auch die Wahl der Route der Schlüssel zu meinem Amerika sein würde, und fühlte mich bestätigt durch einen Countrysong, der damals im Radio lief. Ich muss gestehen, dass ich Country Music großartig finde, auch wenn sie für viele der Inbegriff des Gedankengutes der reaktionären, konservativen Hinterwäldler ist. Ich mag die Musik, sie hat etwas Beruhigendes, Wehmütiges, und wenn sie vielleicht auch nicht die innovativste ist, so ist sie mit Sicherheit die amerikanischste aller Musiken.

Der Song hieß auch noch »Americana« und erzählte von einem Mann, der eines Tages auf dem Nachhauseweg nicht wie üblich den freeway, sondern eben die kleinen Nebenstraßen fuhr und dabei seine Heimat und die Menschen ganz neu entdeckte. Da waren sie wieder, die beschaulichen kleinen Wildwestdörfer, die Menschen, die wild und frei ihr Leben lebten und sich einen Dreck darum scherten, was andere von ihnen denken.

Mittlerweile wird der Begriff »Americana« ja für alle Bereiche der amerikanischen Kultur verwendet, Literatur, Filme, Musik. Und so schien mir dieser Titel auch passend für dieses Buch und meine Reise. Schließlich wollte ich Amerika und seinen Bewohnern so nah wie möglich kommen, sie verstehen und dabei eben vielleicht auch begreifen, wie sie einen Redneck aus Texas gleich zweimal in das Amt des Präsidenten wählen konnten. Ich bin wahrlich kein politischer Mensch und erspare Ihnen auch aus Respekt jeglichen Kommentar zur amerikanischen Politik und Regierung. Aber neugierig war ich schon, wie die Amerikaner selbst über ihren Präsidenten dachten. Nun möchte ich Sie einladen, mich auf meiner Entdeckungsreise zu begleiten, und wünsche Ihnen spannende und amüsante Stunden beim Lesen.

Der Süden – von Tampa nach Los Angeles

Von Amerika in Deutschland, der Vorbereitung, dem schönsten Strand der Welt, einem Samariter im Pick-up, einem Augenarzt im Cadillac, Reisfeldern in Texas, Heino-Hits in der Kaktushauptstadt, einer nächtlichen Schlangenjagd, Schwarzwälder Kirsch in El Paso, Marshall Günters Klapperschlangeneintopf, einem Engel auf dem Müllberg, dem größten Country-Music-Festival der Welt, 45 Grad in der Wüste ohne Wasser und Superman in Hollywood …

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Von Amerika in Deutschland, der Vorbereitung und dem schönsten Strand der Welt

»Sie wollen also eine Radtour machen …« Gespannt blicke ich durch das Panzerglas auf den Mann hinterm Schalter, der nun mein Vorhaben billigen oder einen Traum platzen lassen würde. Gut zwei Stunden hatte ich auf diesen Moment gewartet. Frankfurt, Amerikanisches Konsulat, Sielmayerstraße. Damals noch gesichert durch Stacheldraht und Betonbarrikaden auf der sonst beschaulichen Wohnstraße. Kein besonders einladender Anblick. Aber der 11. September hatte die Nation so verschreckt, dass für alle staatlichen Einrichtungen noch immer höchste Sicherheitsstufe galt. Sogar die deutsche Polizei schützte das schmucklose Gebäude mit den meterhohen Mauern.

Als ich zum Eingang laufe, wird gerade eine asiatische Frau vom Portier am Außenschalter zurückgewiesen, weil irgendwelche Papiere fehlen. Schikane denke ich, auch mit Blick auf die teure 0190er-Nummer, bei der man einen Termin ausmachen und Informationen über die Visapolitik der USA bekommen kann. Gastfreundschaft wirkt anders. Wenigstens der farbige Wachmann, mit dem wir über eine Stunde im Vorhof des Konsulats verbringen, ist zu Scherzen aufgelegt. Nach einer Weile aber sind seine Entertainerqualitäten auch erschöpft. Drinnen die vertrauten Sicherheitsschleusen wie am Flughafen. Scanner für die Taschen und Unterlagen, danach Leibesvisitation. Irgendwann aber finde ich einen Plastikschalensitz im Warteraum. Das fahle Kunstlicht unterstreicht die kühle Behördenatmosphäre. An den Wänden Porträts des amerikanischen Präsidenten, des Vizepräsidenten und des Außenministers. Ein paar Automaten mit amerikanischen Softdrinks und candy. Ein Stück USA mitten in Deutschland. Ich überlege, warum die anderen hier sind. Da ist die deutsche Frau, die ihrem amerikanischen Ehemann folgen will und nun eine Aufenthaltsgenehmigung braucht. Ein paar Abiturienten, die in den USA studieren wollen. Ein arabischer Mann wird in einen Nebenraum gerufen, offenbar gibt es Probleme. Was, wenn sie mir gleich das Visum verweigern, weil sie glauben, ich will mir die Einreise erschleichen und dann terroristische Zellen unterstützen oder, noch schlimmer, illegal arbeiten? Dabei habe ich alles akribisch vorbereitet. Meldebescheinigungen, Verdienstabrechnungen und jede Menge Bestätigungen meiner Arbeitgeber besorgt, die klarmachen sollen, dass ich nur eine Auszeit nehme, meine Familie in Deutschland lebt, ich hier verwurzelt bin und nicht vorhabe, auch nur einen Tag länger als erlaubt in den USA zu bleiben, geschweige denn dort illegal leben und arbeiten möchte.

»Ich hoffe …«, fährt der Mann am Schalter fort. Ich spüre meinen Puls am Hals – warum schaut der mich nicht an? Ich kann doch alles erklären … »Ich hoffe, dass Sie im Süden starten, da ist es jetzt schon warm. Gute Reise!« Stempel drunter, fertig. Das war alles? Fünf Minuten, keine Rückfragen, keine Schikanen, nicht mal ein Blick in die Unterlagen, die ich fein säuberlich zusammengeheftet habe? »Der Nächste …«

Ein paar Tage später kommt mein Reisepass mit dem B-Visum per Post. 180 Tage darf ich jetzt in den USA bleiben, ohne Unterbrechung, doppelt so lang wie ohne Visum, zehn Jahre gültig. Ich bin erleichtert, die größte Hürde scheint genommen, was jetzt? Auf der Heimfahrt nach München ordne ich meine Gedanken. Flug buchen, Wohnung auflösen, Sachen einlagern, Ausrüstung zusammenstellen, Finanzen klären. In sechs, sieben Wochen könnte es losgehen. Aber wo? Der Mann am Schalter hat ja den Süden vorgeschlagen, wegen des Wetters. Außerdem kenne ich die Strecke ganz gut, von einigen Reisen mit dem Auto. Flach wäre es, für die ersten 2000 Kilometer, wenn ich nach Westen fahre. Könnte mich also quasi einfahren, und wenn dann die ersten Berge kommen, wäre ich fit. Ich maile an die Schwester meines amerikanischen Freundes Jim in Palm Harbor, Florida. Klar kann ich ein paar Tage bleiben, sie würden mich auch vom Flughafen abholen. Perfekt. Start also am Golf von Mexiko bei Tampa, und dann? Viel will ich sehen, gerade auch Gegenden, wo ich noch nicht gewesen bin, an die man als Tourist vielleicht auch nicht zuerst denkt. Vielleicht liegt hier ja das »wahre« Amerika, das nur darauf wartet, entdeckt zu werden, und alle negativen Klischees widerlegt. Warum also nicht eine Umrundung im Uhrzeigersinn. Ich könnte in Houston, Texas, einen ersten Zwischenstopp machen, nach etwa zwei Wochen. Hier lebt Rosina, unsere Wetterfrau von Bayern 3, mit ihrem amerikanischen Ehemann Paul. Bald darauf würden die ersten Hügel und schließlich die Rocky Mountains kommen, für die ich dann längst fit wäre. In Los Angeles könnte ich Kerstin besuchen, unsere ARD-Hörfunk-Korrespondentin. Die kennt mich zwar (noch) nicht, aber unter Kollegen … Dann die Küste hoch, auf der angeblich schönsten Küstenstraße der Welt, Highway Number One, ein Mythos und wahrscheinlich die populärste Touristenattraktion, die ich auf meiner Tour erleben würde. Nationalparks, große Städte und touristische Hotspots will ich nicht gezielt anfahren, eher meiden, schließlich geht es mir um die Begegnung mit den Menschen. In der Nähe von Seattle lebt Bruce, ein Maler, den ich bei einer Reise nach South Dakota kennengelernt hatte, wo er mit indianischen Kindern ein großes Wandgemälde für die Schule malte. Das könnte meine nordwestlichste Station werden. Von dort würden mich die Westwinde sicher und entspannt an die Ostküste tragen. In South Dakota will ich auf jeden Fall zwischenstoppen, um meinen Freund Jim zu besuchen. Auch Leonard Little Finger lebt hier, der Ururenkel von Chief Big Foot, der als letzter Häuptling 1890 während der Indianerkriege beim Massaker von Wounded Knee getötet wurde. Ihn habe ich schon vor vielen Jahren kennengelernt und könnte ihn jetzt im Reservat mit dem Rad besuchen. Die Strecke von Dakota bis zur Ostküste wäre dann Neuland. In Washington wohnt Martin, unser BR-Mann in der amerikanischen Hauptstadt. Auch er kennt mich nicht, aber unter Kollegen … Die letzte Etappe wäre für mich wieder unbekanntes Terrain. Vielleicht würde ich noch mal in die Berge der Appalachen abzweigen oder mich direkt an der Küste zurück nach Tampa schlagen. Rund 15 000 Kilometer wären das, je nach Route ein paar mehr oder weniger. Bei einem Schnitt von 100 Kilometern pro Tag, was zwar auf Dauer nicht sonderlich entspannt, aber bei Radreisen realistisch ist, wäre ich also in 150 Tagen durch und hätte noch 30 Tage Urlaub, bis ich das Land wieder verlassen muss. So weit die Theorie … nun zur Praxis.

28. April, Flughafen Frankfurt. Bin ziemlich am Ende. Die letzten Stunden sind hart gewesen. Bis in die Nacht hinein habe ich noch gepackt, gegen Mitternacht die letzten Sachen aus meinem Haus bei Freunden untergestellt. In München. Dann auf die Autobahn nach Norden, gegen 6 Uhr früh erreiche ich Hanau, völlig übernächtigt. Ruhe nur für ein paar Momente, dann zum Flughafen. Habe gerade noch mal 80 Dollar Transport für mein Rad zahlen müssen, obwohl es eigentlich kostenlos sein sollte. Jetzt muss ich noch rüber ins andere Terminal, die Reiseschecks abholen. Meine Bank hatte versehentlich 2000 Dollar Bargeld geschickt. War mir zu riskant. Also wurden in letzter Minute noch Travellerschecks bestellt und am Flughafen hinterlegt.

Ich neige – nur leicht – dazu, alles auf den letzten Drücker zu erledigen. Hat bisher auch immer funktioniert. Aber diesmal wird es echt grenzwertig. Erst als ich im Flieger sitze, löst sich die Anspannung ein wenig. Die Turbinen werden angelassen, es geht los. Endlich. Lange hat es gedauert von der spleenigen Idee bis zur Verwirklichung. Immer war der Zeitpunkt irgendwie ungünstig. »Im Job läuft’s gerade so gut … bin doch erst umgezogen … wollte diesen Sommer den Lampionumzug bei den Gartenfreunden …« Schluss mit den fadenscheinigen Entschuldigungen. Der Haushalt ist aufgelöst, die Sachen stehen bei Tim, einem Basketballfreund, dessen Schwester ein Jahr um die Welt reist. Mein Chef beim Sender hat mir eine Auszeit genehmigt, mit der Aussicht, weiterarbeiten zu können, wenn ich wiederkomme. Beste Voraussetzungen also. Und allmählich siegt die Vorfreude über die Erschöpfung.

Pam, die Schwester meines Freundes Jim, holt mich in Tampa vom Flughafen ab. Wir verstauen das Rad im Kofferraum des kleinen PKW. Den Pappkarton, in den ich es verpackt habe, lasse ich gleich da. Die nächsten zwei, drei Tage will ich für die letzten Vorbereitungen nutzen. Ein amerikanisches Handy möchte ich noch besorgen. Ein befremdlicher Gedanke für mich, weil ich mich in Deutschland bis heute dagegen wehre. Die ständige Erreichbarkeit, die nervig-lauten Privatgespräche, die man in Restaurants, Zügen oder öffentlichen Wartezonen mithören muss, und nicht zuletzt die völlig überteuerten Preise sorgen bei mir für große Abneigung. Verbrecherische Abzocker, diese Mobilfunkfirmen, wenn Sie mich fragen. Zumindest das scheint in den USA auf den ersten Blick anders zu sein. Es macht keinen Unterschied, ob man eine Festnetznummer oder ein Handy anruft, die Preise sind gleich niedrig. Allerdings zahlt der Handykunde auch, wenn er angerufen wird. Dazu kommen die versteckten Steuern, die auf die verlockend günstigen Paketpreise draufgeschlagen werden. Bundessteuern, Steuern für den Staat, den County (Bezirk), Stadt, Land, Fluss … eine Gebühr, die die kostenlosen Notrufnummern finanzieren soll. Und so ärgert man sich am Ende auch in den USA wieder und kommt zu dem Schluss: alles verbrecherische Abzocker, diese Mobilfunkfirmen. Ich will trotzdem ein Handy. Auch weil ich mich einmal die Woche beim Sender melden und berichten soll von meiner Reise. Am Ende entscheide ich mich für einen Jahresvertrag mit 1000 Freiminuten im Monat und kostenlosen Anrufen nach 21 Uhr, über den ich mich noch viele Male ärgern werde …

Nach drei Tagen Akklimatisieren und Vorbereitungen verabschiede ich mich von Pam und Familie. Samstag, der 1. Mai. Tag der Arbeit in der Heimat und für mich der Start in mein Abenteuer. Brauche noch eine ganze Weile, bis alles Gepäck verstaut ist. Zelt, Schlafsack, Isomatte, Kleider, Schuhe, Erste-Hilfe-Set, Waschzeug, Foto- und Audio-Equipment mit Mikrofon, MD-Rekorder und 100 Filme. Gut 40 bis 50 Kilo mögen es sein, und ich freue mich schon jetzt aufs Ausmisten in zwei Wochen, wenn ich bei Bayern-3-Kollegin Rosina in Houston zwischenstoppe. Die ersten Kilometer sind noch etwas wackelig wegen des großen Gewichts vor allem in den Vorderradtaschen. Bald aber läuft es besser, und ich komme gut voran. Highway 19 nach Norden, der Seitenstreifen ist breit und der Verkehr außerhalb der Städte sehr überschaubar. Muss nur auf Scherben und tote Tiere auf dem Asphalt achten. Gürteltiere, Waschbären, Schlangen, Rehe. Tierreiche Gegend hier, nach den vielen Kadavern zu schließen, deren süßlichen Verwesungsgestank man manchmal schon von Weitem riecht. Ich muss an die Road-Kill-Cafés denken, die es überall in den USA gibt. »You kill it, we grill!«, heißt ihr Slogan. Ob die das ernst meinen? Kann mir jedenfalls nicht vorstellen, so ein zermatschtes Opossum noch bluttriefend ins Restaurant zu schleifen: »Sorry, hab das hier gerade versehentlich erwischt. Ob Sie das für mich frittieren könnten?«

Da stoppe ich doch lieber bei einem der unzähligen Fast-Food-Restaurants am Wegesrand. Vor allem wegen ihrer soda fountains, die ganz allmählich auch bei uns Einzug halten. Du kaufst also einen Medium Drink an der Kasse, bekommst einen Pappbecher und ziehst dir dann deine Limo am Automaten. Was und sooft du willst. Ein Paradies für trockene Radlerkehlen. Bei einem Taco Bell setze ich mich kurz und verschnaufe bei Cola mit Eis. Komme mit dem Mann nebenan ins Gespräch. Was ich vorhabe, will er wissen und beißt genüsslich in seine Enchilada. Ich erzähle kurz. »Oh, you better watch out for the niggers up here!« Bin mir erst nicht sicher, ob ich mich verhört habe.

»Die sind fies, kannst ihnen nicht trauen. Pass also auf, wo du übernachtest.«

Sein Sohn pflichtet ihm bei. Acht oder neun mag er sein. Ich bin erschüttert, wie tief der Rassismus hier immer noch sitzt. Die Tatsache, dass es vermutlich bei uns ähnliche Meinungen über Türken oder Asylanten gibt, tröstet da nicht wirklich.

Aber es gibt auch erfreuliche Begegnungen. Als ich am Straßenrand pausiere und das Rad auf dem Seitenstreifen abstelle, hält kurz darauf ein Pick-up. Ob alles okay sei oder ich Hilfe brauche, will der Fahrer wissen. Er sei selbst road biker, da helfe man sich doch selbstverständlich. Mein Zeltnachbar auf dem ersten campground lädt mich gleich am nächsten Morgen zum herzhaften Sandwich mit Ei, Schinken und Käse ein. Southern hospitality, die berühmte und herzliche Gastfreundschaft, auf die der Süden so stolz ist. Zu Recht. Obgleich sie mir auch anderswo noch widerfahren wird, immer wieder.

Ich lasse es langsam angehen, die ersten Etappen liegen zwischen 100 und 150 Kilometern. Gut machbar, weil die Straßen meist flach bleiben und kaum Wind herrscht. Einzig die manchmal endlosen Highways, auf denen man meint, kaum voranzukommen, zermürben ein wenig. Dann hilft das Radio. Kopfhörer ins Ohr und weiter. Den MP3-Player habe ich zu Hause gelassen. Radio ist lebendiger, unterhaltsamer, von den ständigen Werbeunterbrechungen nach jeweils zwei Songs mal abgesehen.

Gleich am zweiten Tag verbrenne ich mir gewaltig die Schulter. Habe da wohl eine Stelle übersehen und nicht gewissenhaft genug den Sonnenblocker aufgetragen. Ein paar Tage also Fahren mit langärmeligem T-Shirt. Unangenehm bei der schwülen Hitze.

Für die Nacht versuche ich meist, einen offiziellen Campingplatz anzusteuern, allein schon wegen der Dusche. Den ganzen Tag schwitzen, dazu die Sonnencreme, manchmal noch Mückenschutz. Da tut es gut, abends frisch gewaschen in den Schlafsack zu kriechen. Gelegentlich bleibt nur ein wildes Camp im Wald neben dem Highway. Und wenn gar nix mehr geht, nehme ich ein klimatisiertes Motelzimmer.

Nach einer Woche erreiche ich »the world’s most beautiful beach«. So ähnlich steht es auf dem Schild am Eingang zum Grayton Beach State Park am Florida Panhandle. Der Allerschönste überhaupt ist er wahrscheinlich nicht, allein schon, weil die Palmen fehlen. Aber auf der ganzen Tour werde ich keinen Strand mehr erleben, wo das Wasser so einladend wirkt. Türkisblaues Meer, schneeweißer Sand, keine Steine. In der Nähe liegt Seaside, eine Feriensiedlung, die am Reißbrett entstanden ist und ständig weiter wächst. Architekten aus ganz Amerika können hier ihrer Kreativität freien Lauf lassen und entwerfen verspielte Holzhäuser, die an historische Gebäude erinnern sollen, mit Giebeln, Türmchen, überdachten porches, fast ausnahmslos in Pastellfarben gehalten. Der Blockbuster Die Truman Show mit Jim Carrey als nichts ahnender Hauptdarsteller einer inszenierten Realityshow wurde hier gedreht. Das passt, denn die hochpreisige Gegend wirkt schon sehr künstlich und steril, trotz des netten Anblicks.

Judy und Sidney von nebenan bringen mir Rindfleisch mit Gemüse zum Abendessen. Sehe ich jetzt schon so ausgemergelt und erbärmlich aus? Aber vielleicht ist das ja nur ein weiteres Beispiel der Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft der Südstaatler. Auch wenn die beiden Pensionäre eigentlich aus dem Norden kommen. Sie leben die meiste Zeit des Jahres in einem riesigen Wohnwagen, den ein mächtiger Pick-up zieht. Drinnen alle Annehmlichkeiten, die man sich wünscht, inklusive Klimaanlage, Satelliten-TV und Internet. Nirgendwo gibt es wohl so viele Wohnwagennomaden wie in den USA, Holland eingeschlossen. Besonders im Winter, wenn sie als sogenannte snowbirds in die warmen Regionen an der Golfküste ziehen. Nicht die schlechteste Art, seinen Lebensabend zu verbringen, oder?

Ich liege auf meinem ausgebreiteten Schlafsack und denke an den voll klimatisierten Schlafbereich von Judy und Sidney. Es ist selbst in der Nacht noch unerträglich stickig im Zelt. Die Dusche ist längst vergessen, alles klebt schon wieder. Und das bleibt auch erst mal so, vermutlich bis zu den ersten Bergen in Texas. Ist trotzdem die richtige Entscheidung gewesen, zunächst in den Süden zu fahren. In manchen Gegenden, durch die ich später kommen werde, liegt jetzt noch Schnee. Obwohl, eigentlich ein verlockender Gedanke, das mit dem Schnee …

Nach zwei Pausentagen am Golf von Mexiko schwinge ich mich wieder aufs Rad. Bald komme ich nach Alabama, für eine Nacht auf einem Wohnmobilpark bei Gulf Shores. Werde am Ende der Reise noch mal hierher zurückkehren und den Ort kaum wiedererkennen. Doch jetzt ahne ich noch nicht die volle Bedeutung eines Schildes, an dem ich ganz am Anfang vorbeigefahren bin: »Noch 28 Tage bis zum Beginn der Hurrikansaison. Sind Sie vorbereitet?« Aber davon später mehr.

Von einem Samariter im Pick-up, einem Augenarzt im Cadillac und Reisfeldern in Texas

Mit der Fähre geht es vorbei an Bohrinseln Richtung Mississippi. Ein paar Biker auf ihren Harleys wollen Erinnerungsfotos mit mir machen. Bin nicht sicher, ob aus Mitleid (oh, der arme Schlucker kann sich kein richtiges Bike leisten und muss strampeln) oder aus Anerkennung. Auf der gesamten Tour aber wird es immer wieder nette Begegnungen mit Motorradfahrern geben. Manchmal grüßen sie auch einfach nur lässig, indem sie im Vorbeifahren eine Hand vom riesigen Gabellenker nehmen und lässig nach unten, Richtung Asphalt, strecken.

Nach einer weiteren Tagesetappe erreiche ich die erste Großstadt der Tour, New Orleans. Will möglichst schnell durch. Die Sehenswürdigkeiten schenke ich mir diesmal. Habe die Stadt in der Vergangenheit schon ein paarmal besucht und bin jetzt nur hier, weil kein Weg dran vorbeiführt. Das klingt vielleicht ein wenig ignorant. Aber Rad fahren in Großstädten macht ja schon bei uns keinen Spaß, trotz der vielen Radwege. Zu viel Verkehr, rücksichtslose oder überforderte Autofahrer, Fußgänger, die auf den Radwegen spazieren, rote Ampeln. Und die richtige Route in dem Straßengewirr zu finden ist mitunter eine echte Herausforderung. Wie viel heftiger ist das alles noch hier in den USA, wo Radfahrer in den meisten Gegenden wie Fremdkörper auf den Straßen wirken und die ausgeschilderten Radwege oft nur schmale und verdreckte Seitenstreifen der Hauptverkehrsadern sind.

Irgendwann bin ich durch und erreiche am Stadtrand eine mächtige Autobrücke, die sich in hohem Bogen über den Mississippi schwingt, mein Tor in die Freiheit. Na gut, das klingt jetzt vielleicht zu dramatisch. Aber auf der anderen Flussseite geht es wieder durch beschauliches Cajun country, mit kleinen Dörfern und herrschaftlichen Antebellum-Häusern, zu denen Eichenalleen führen. Wie in Vom Winde verweht – stellenweise sieht es hier wirklich so aus, als ob Scarlett O’Hara jeden Moment zwischen den dick mit spanish moss behängten Bäumen ihrem Rhett Butler entgegeneilen könnte.

Für mich liegt also diese gut hundert Jahre alte Brücke dazwischen, zweispurig, ohne Seitenstreifen. Hilft ja nix, also strample ich los. Verdammt steil wird es bald, und ich merke, wie die Autoschlange hinter mir immer länger wird. Ich würde ja gerne schneller, habe aber keine Chance mit dem Gepäck.

»Achtung, Achtung! Fahren Sie sofort rechts ran!«, tönt es plötzlich blechern aus einem Megafon hinter mir. Meint der mich? »Sofort anhalten, ich bringe Sie rüber!« Ich drehe mich um. Ein weißer Pick-up mit orangefarbenem Warnlicht auf dem Dach direkt hinter mir. Ich stoppe, der Fahrer winkt mich zu sich. »Hi, ich bin Ron, wirf dein Rad hinten auf die Ladefläche, ich fahr dich rüber. Ist sicherer.« Und schneller. »Bin so was wie der Brückensamariter …«, meint Ron, als ich neben ihm sitze. Er funkt kurz an die Zentrale, entdeckt noch einen alten VW Käfer vor uns, der liegen geblieben ist, und schiebt ihn lässig mit der Stoßstange über den Scheitelpunkt der Brücke. Auf der anderen Seite werden wir schon von einem Polizisten erwartet. Ob ich lebensmüde sei, will der Officer wissen. Sie hätten schon bis zu vier Tage lang nach den aufgequollenen Leichen meiner Vorgänger gesucht, weil sie, auf der Brücke von LKW erfasst, über die Balustrade geschleudert worden und im Fluss ertrunken seien. Außerdem habe ich mich strafbar gemacht. Das Überqueren von Brücken für Radfahrer sei hier verboten. Alles klar, dann suche ich mir beim nächsten Mal eine schmale Stelle am Mississippi und versuche es mit Schwimmen, denke ich … stumm.

Die erste heftige Regenfront erwischt mich. Von einem Gewitterschauer komme ich in den nächsten. Anfangs suche ich noch Schutz unter ein paar Bäumen, stecke dann knöcheltief im Schlamm fest. Und irgendwann bin ich so nass, dass es eh wurscht ist, ob ich abwarte oder einfach weiterfahre. Manchmal flüchte ich in eine öffentliche Bücherei. Hier kann jeder kostenlos ins Internet. Ich nutze die Zeit, bis das Wetter besser wird, verschicke Fotos und Texte fürs Online-Tagebuch. Dann geht es weiter. Von der Hauptroute nach Westen, Highway 90, biege ich auf Nebenstraßen ab und cruise durchs beschauliche Hinterland. Verdunville, Jeanerette oder Delcambre heißen hier die Dörfer. Zeugen der französischen Wurzeln Louisianas. Zwischenzeitlich führt die Strecke auf Stelzen durch den Sumpf. Bei einer Touristeninformation frage ich nach Einkaufsmöglichkeiten und der besten Route. Als ich zu meinem Rad zurückkomme, liegt es am Boden. Der Ständer ist unter der Last gebrochen. Blöd, aber in Houston finde ich sicher Ersatz.

Kurz vor Texas warnen sie im Radio vor Tornados, die sich jederzeit aus den pechschwarzen Gewitterwolken entwickeln könnten. Ich nehme mir sicherheitshalber ein Motelzimmer und quere erst am nächsten Morgen die state line.

»Don’t mess with Texas!«, lese ich auf einem Schild am Straßenrand. Eigentlich als augenzwinkernde Erinnerung gemeint, dass man seinen Müll nicht einfach aus dem Auto auf die Straße wirft. Aber man kann’s natürlich auch anders verstehen: »Leg dich nicht mit Texas an!« – weil wir hier alle eine Knarre haben und sie auch gerne benutzen?

Ich mache ein Foto mit Selbstauslöser vor dem mächtigen Willkommensschild. Dabei fällt mein Rad mehrfach um, bis ich meine, alles im Kasten zu haben. Als ich weiterfahre, bemerke ich eine Unwucht im Hinterrad. Ich stoppe und versuche mit dem Speichenschlüssel ein wenig nachzujustieren. Erfolglos. Es wird immer schlimmer. Bald schleift die Felge an der Bremse. Ich steige ab und … bin entsetzt. Da … verdammt! Eine Speiche ist aus der Felge regelrecht ausgerissen. Wie kann denn so was passieren?

So kann ich jedenfalls unmöglich weiterfahren. Bei dem Gewicht bricht am Ende noch das ganze Rad zusammen … und bis Houston sind es noch gut 150 Kilometer. Da muss ich wohl … Bevor ich meinen verzweifelten Gedanken zu Ende denke, hält neben mir ein feuerrotes 67er Cadillac-Cabrio.

»Brauchst du Hilfe?«

Der Fahrer trägt ein Hemd, das genauso feuerrot ist wie sein Schlitten, und eine NASCAR-Kappe, auf der Flammen züngeln.

»Na ja, schon …«

»Wirf dein Rad auf die Rückbank, ich fahre dich in die nächste Stadt.«

Doctor Gene ist Augenarzt, hat gerade Feierabend und bietet mir an, einen »kleinen« Umweg von 50 Meilen zu fahren. Im Ort gebe es wenigstens ein Motel, dann könnte ich mir ja überlegen, wie es weitergeht.

Passiert das alles gerade wirklich? Ich versuche, meine Gedanken zu ordnen.

Mein Hinterrad hat sich gerade verabschiedet, ich bin genervt, vielleicht sogar ein wenig verzweifelt, und im nächsten Moment, keine fünf Minuten später, hält ein Schutzengel mit einem Wahnsinnsschlitten und bietet mir seine Hilfe an? Ich grinse breit, als wir in den texanischen Abendhimmel fahren und uns den Wind um die Nase wehen lassen. Die Sonne geht gerade unter, als wir vor dem ersten Motel in Liberty stoppen. Gene gibt mir seine Karte, falls ich noch was brauche. Dann braust er davon. Ungläubig blicke ich ihm hinterher.

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Doctor Gene, der Cadillac-Arzt

»Oh, you’re from Germany!«, meint die nette Inderin an der Motelrezeption freudig überrascht, als ich einchecke.

»I make you special price!« Wir Ausländer müssen schließlich zusammenhalten, flüstert sie noch hinterher. So bekomme ich das Zimmer für 25 Dollar statt 30. Und weil ich wohl einen etwas verwirrten Eindruck mache, nach den Ereignissen der letzten Stunde, schiebt sie mir noch einen Riegel Twix über den Tresen. »Good for your soul …«

Die 100 bike shop