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Für Kristenn und Kari, in Dankbarkeit
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Offline«
bei Vigmostad & Bjørke, Bergen.
Übersetzung aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
ISBN 978-3-492-97609-1
März 2017
© Anne Holt 2015
Published by agreement with Salomonsson Agency
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2017
Covergestaltung: Cornelia Niere, München
Covermotiv: Martin Wahlborg/Getty Images
Datenkonvertierung: psb, Berlin
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Eine Brieftaube flog über Oslo.
Der Besitzer nannte seinen Täuberich »Oberst«, weil der Vogel drei sternförmige Flecken auf der Brust hatte. Der Oberst war ein kleiner, kräftiger Vogel und fast zwölf Jahre alt. Alter und Erfahrung hatten ihn selbstsicher gemacht, aber auch sehr vorsichtig. Er flog niedrig, um Raubvögeln zu entgehen. Hellwach durchschnitt er die Luft, kam vom Fjord herein und flog zwischen den Rathaustürmen weiter, ehe er ein wenig nach Osten abdrehte.
Dort stand die Ruine eines Hochhauses. Der Oberst setzte zur Landung an.
Er war schon weit geflogen.
Das Heimweh bohrte in der breiten grauen Brust mit den Ehrenzeichen, die so schön und so deutlich waren, dass der Oberst seinen Besitzer mehr gekostet hatte, als sein Stammbaum hätte erwarten lassen, als er damals als kleiner Federwuschel gekauft worden war. Seine Eltern waren schlichte Arbeitstiere. Liebevolle Pflege und große Erwartungen hatten den Obersten dennoch zum Champion gemacht. Es war eine der meistprämierten Brieftauben Nordeuropas, die jetzt ganz oben auf einem vor knapp drei Jahren an einem Julitag zerstörten Hochhaus saß.
Der Oberst wollte nach Hause. Er wollte zu Ingelill, die seit über zehn Jahren seine Gefährtin war. Er wollte seinen Besitzer zur Fütterungszeit heranpfeifen und dazu das beruhigende Gurren der anderen Brieftauben hören. Der kleine graue Vogel mit den scharfen Augen fühlte sich zu dem Taubenschlag im Apfelgarten hingezogen, zu dem Nistkasten, in dem Ingelill wartete. Den Weg dorthin kannte er genau. Es war jetzt nicht mehr weit. Minuten nur, wenn er nur endlich wieder in die Luft käme.
Hoch oben unter der kalten Aprilsonne flog ein Raubvogel. Er war noch so jung, dass er ab und zu aus den Wäldern im Norden der Stadt hereinkam, um sich an den trägen Türkentauben in den Parks der Stadt gütlich zu tun. Er entdeckte den Obersten in dem Moment, in dem der alte graue Vogel die Flügel ausschüttelte und sich an einer Brustfeder zupfte, ehe er abhob.
Der Habicht ließ sich fallen.
Ein magerer Mann stand vor der Absperrung um die Gebäuderuine und beschattete die Augen mit der Hand, um besser sehen zu können. Ein Habichtvogel, wie er sah. Ein Sperber, da war er sich sicher, auch wenn die hier unten in der Innenstadt ein seltener Anblick waren. Der Mann blieb stehen. Der Sperber mit seinen kürzeren, kräftigen Flügeln machte eigentlich nicht auf diese Weise Jagd auf seine Beute. Er brauchte Hügellandschaft, um sich verstecken zu können. Der Sperber war eher Meuchelmörder denn Jagdflieger.
Nun stürzte der Vogel jählings auf etwas zu, das der Mann nicht erkennen konnte. So, wie er dastand, noch immer mit der Hand über den Augen, merkte er, wie ihm sein eigener strenger Körpergeruch in der Nase brannte. Er hatte sich seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Es war ihm noch immer peinlich, so unrein zu sein, selbst nach all den Jahren im hektischen Wechsel zwischen Rausch und Hospizen und der Kirchlichen Stadtmission.
Vor Jahren hatte er alles über Vögel gewusst. Damals hieß er Lars Johan Austad und trug eine Militäruniform. Jetzt wurde er nur Schuh genannt, wenn sich ein seltenes Mal überhaupt jemand die Mühe machte, ihn beim Namen zu nennen. Er hatte schlimme Füße und trug fast immer zu große Schuhe.
Bestimmt hatte der Sperber eine Taube geschlagen, dachte er, als eine kleine Wolke aus grauen Federn über dem Rand des Daches dort oben aufstob. Schuh mochte Tauben. Sie waren eine gute Gesellschaft, vor allem im Sommer, wenn er meistens im Freien schlief.
Er ließ den Arm sinken und ging los.
Ein schöner Tod, dachte er, als er, die Hände tief in die Taschen geschoben, in Richtung Karl Johansgate schlurfte. Im einen Moment genießt man die Aussicht. Im nächsten wird man für einen anderen zum Mittagessen.
Lars Johan Austad wünschte sich insgeheim dasselbe Schicksal. Er fröstelte in der Aprilkälte, als er den Schatten des Finanzministeriums erreichte, und merkte, dass es an der Zeit war, sich etwas zu essen zu besorgen. Es war Mittagszeit und vom Rathaus her konnte er das Glockenspiel hören.
Eine Messingglocke bimmelte schrill.
»Komm doch, Oberst, puiiit!«
Das Pfeifen ließ die anderen Tauben unruhig gurren. Es ging auf den Abend zu, die Fütterungszeit war längst vorüber.
»Oberst! Puiiiiiiit!«
»Ich glaube, du solltest für heute Schluss machen.«
Eine schmächtige ältere Frau kam über die Schieferplatten zwischen den noch immer schmutzig braun auf dem Rasen vor dem Taubenschlag liegenden Schneeflecken.
»Oberst!«, wiederholte er dennoch und pfiff noch einmal, ehe er die kleine Glocke schwenkte.
Die Frau legte ihm vorsichtig den Arm um die Schulter.
»Komm jetzt, Gunnar. Der Oberst findet den Weg auch ohne dass du lockst, das weißt du doch.«
»Er müsste schon längst hier sein«, jammerte der Mann und trat steif von einem Fuß auf den anderen. »Der Oberst müsste schon seit vielen Stunden hier sein.«
»Er verspätet sich eben«, tröstete die Frau. »Du wirst sehen, morgen früh, wenn du aufwachst, sitzt er im Kasten. Bei Ingelill. Der Oberst lässt seine Ingelill nicht im Stich, das kannst du dir doch denken. Komm jetzt. Ich habe Tee gekocht. Und Scones gebacken. Deine Lieblingssorte.«
»Will nicht, Mama. Will nicht!«
Sie lächelte und ignorierte seinen Protest. Behutsam nahm sie ihn bei der Hand und zog ihn in Richtung Haus. Er trottete widerwillig hinter ihr her.
»Du hast morgen Geburtstag«, sagte die Frau. »Fünfunddreißig Jahre. Wo ist die Zeit geblieben, Gunnar?«
»Der Oberst«, wimmerte der Mann. »Dem muss was passiert sein!«
»Nicht doch. Komm jetzt. Ich habe einen Tortenboden gebacken. Morgen kannst du mir beim Verzieren helfen. Mit Sahne und Erdbeeren und Kerzen.«
»Der Oberst …«
»Wo ist nur die Zeit geblieben«, wiederholte sie, vor allem an sich selbst gerichtet, und öffnete die Haustür, ehe sie ihren Sohn in die Wärme schob.