Buchcover

Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut

Aus dem Dänischen von
Bernd Kretschmer und Ulrich Sonnenberg

Saga

Vorwort

Die Dinesens sind ein literarisches dänisches Geschlecht, das in seiner Mischung aus Primitivität und Raffinesse, Blutdurst, Unerschrockenheit und Hochkultur schon immer aufregend gewesen ist.

Tom Kristensen

Auf Wilhelm Dinesen stieß ich bei den Düppeler Schanzen, als ich vor einigen Jahren das Buch Schlachtbank Düppel schrieb. Im Verlauf meiner Recherchen fand ich ein schmales Bändchen mit dem Titel Fra Ottende Brigade (»Über die Achte Brigade«), eine autobiografische Erzählung über den geradezu selbstmörderischen Versuch dieser Brigade, den massiven preußischen Vorstoß während der Schlacht von Düppel am 18. April 1864 zurückzuschlagen. Bei dem Autor des Buches handelte es sich um Wilhelm Dinesen, der 1864 als achtzehnjähriger Leutnant der jüngste Offizier des dänischen Heeres gewesen war. Die Ereignisse auf den Düppeler Schanzen sollte er sein Leben lang nicht vergessen. Obwohl er Fra Ottende Brigade erst 1889 veröffentlichte, fünfundzwanzig Jahre nach der Schlacht, schrieb er über seine Erlebnisse mit einer Frische, einer Intensität und Präzision, als hätte der Pulverdampf sich gerade erst verzogen.

Fra Ottende Brigade unterscheidet sich von den Tausenden von Büchern, die über den Dänisch-Deutschen Krieg 1864 erschienen sind. Es wurde mit literarischem Schwung und erzählerischer Kraft geschrieben. Als Leser fühlt man sich aufs Schlachtfeld versetzt und steht in den erschütternden Kämpfen gleichsam neben dem jungen Wilhelm Dinesen.

Meine Neugier war geweckt. Dinesens Familiengeschichte erhöhte diese Neugier nur. Wilhelm Dinesens Vater, A. W. Dinesen, wurde in die französische Ehrenlegion aufgenommen, nachdem er im französischen Heer als Artilleriehauptmann in den frühen Kolonialkriegen 1837 in Algerien gekämpft hatte. Wilhelm Dinesen wurde für seinen Einsatz als freiwilliger Hauptmann im Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 die gleiche Ehre zuteil. Ein halbes Jahrhundert später sollte Wilhelms Sohn, Thomas Dinesen, die höchste Auszeichnung von allen erhalten, das Victoria-Kreuz, nachdem er 1918 als Soldat der kanadischen Armee einen wilden Ritt durch das Niemandsland an der Westfront unternommen hatte.

Und Wilhelm Dinesens Tochter? Ja, sie ist keine Geringere als die Schriftstellerin Karen (Tania) Blixen, die ihre ersten Bücher bekanntlich unter dem Pseudonym Isaak Dinesen veröffentlichte.

Und so überrascht es nicht, dass seine berühmte Tochter ihre Originalität, ihre joie de vivre, ihren Abenteuerdrang, ihre Erzählfreude und ihre Lust zu schreiben von ihm geerbt hatte. Ebenso wenig, dass auch sie ihre dunkleren Seiten hatte. Doch während Karen Blixen sich damit begnügte, am Rand des Abgrunds zu balancieren, ging ihr Vater deutlich darüber hinaus. Am 29. März 1895 wurde er in einer Kopenhagener Pension erhängt aufgefunden. Sein Ende ist bis heute ein großes Mysterium geblieben, doch es hat tiefe Spuren bei seinen Kindern hinterlassen – nicht zuletzt bei Karen und seinem ältesten Sohn Thomas, der ebenfalls Schriftsteller wurde und für den der Vater das hellste Licht und die tiefste Dunkelheit war.

Und doch hat Wilhelm Dinesen sein Leben in vollen Zügen gelebt. Seine Lebensgeschichte hat so viele Facetten und war so großartig, dass es beinahe wie eine lange Reihe von fantastischen Erzählungen erscheint. Als ich begann, seine Spuren ernsthaft zu verfolgen, gab es für mich keinen Weg zurück. Im Laufe der vergangenen Jahre bin ich in Archiven und privaten Verstecken auf der Jagd nach Tagebüchern, Briefen und Erinnerungen gewesen. Die Reise hat mich von der Welt der dänischen Herrenhöfe, in der er aufwuchs, zu den Schlachtfeldern in Frankreich, von Paris bis zum Bosporus und in die Prärien und Wälder Nordamerikas geführt.


Nun also liegt Hauptmann Dinesen: Feuer und Blut vor, der erste Band einer dokumentarischen Erzählung über den Abenteurer, Krieger, Jäger, Politiker, Gesellschaftskritiker, Aristokraten, Lebemann, Verführer und Autor Wilhelm Dinesen. Er war zu seiner Zeit als »Hauptmann Dinesen« bekannt. Die Geschichte von Wilhelm Dinesen ist auch eine Geschichte von Vätern und Söhnen und von den Sünden der Väter. Dieses Buch ist ebenso sehr eine Familienchronik über Männer, die den Krieg im Blut hatten, wie eine Biografie über Wilhelm Dinesen, der mit seiner Persönlichkeit und seinen Taten Vergangenheit und Zukunft personifiziert.

Hauptmann Dinesen besaß eine besondere Gabe, sich immer dort aufzuhalten, wo die großen Stürme der Geschichte tobten; sein Leben wurde zu einer tour de force durch bedeutende Phasen der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts. Auf diese Reise begibt man sich, wenn man seinen Wegen folgt. Es ist eine Reise, die über mehrere Kontinente und durch viele Länder führt. Eine Reise, die sich – obwohl Dinesen nur neunundvierzig Jahre alt wurde – über einige der großen Bruchstellen der Geschichte erstreckt. Er wurde in die harmoniesuchende Welt der Romantik hineingeboren, wuchs aber im lärmenden, hektischen Zeitalter der Industrialisierung auf, in dem auch Kunst und Literatur markante Veränderungen erlebten – mit dem Wechsel zu Naturalismus, Impressionismus und dem Durchbruch der Moderne als zentralem Ereignis.

Als Dinesen geboren wurde, gab es weder Eisenbahn noch Telegrafen im Königreich Dänemark. Segelschiffe dominierten die Häfen, Nachrichten wurden mit Pferdepostkutschen überbracht, Bilder wurden gemalt oder gezeichnet. Als er starb, waren das Auto, das Telefon und das Dynamit erfunden. Zeitungen waren zu Massenmedien geworden, die kurz davor standen, Fotografien zu drucken, die deutsche Marine verfügte über ihr erstes U-Boot.

Die Grenzen schienen sich mit der gleichen Geschwindigkeit zu verschieben wie die künstliche Landgewinnung aus dem Meer – was selten friedlich vonstattenging. Dänemark, Dinesens Vaterland, das im Laufe der Napoleonischen Kriege 1814 Norwegen abtreten musste, schrumpfte weiter durch den Verlust der Herzogtümer Schleswig und Holstein als Konsequenz aus der Niederlage von 1864. Deutschland wurde nach dem Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 und dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71 vereint und wurde zu Europas stärkster kontinentaler Macht. Italien wurde ebenfalls zu einem Reich zusammengeführt, während das Osmanische Reich und das der Habsburger schwächer wurden. Das Großbritannien des Viktorianischen Zeitalters schuf sich zu Lebzeiten Dinesens ein mächtiges Weltimperium, in dem die Sonne niemals unterging. Gleichzeitig wurde aus den demokratischen und hyperkapitalistischen USA mit einer Bevölkerungsexplosion durch Massenauswanderungen aus Europa die führende Industriemacht der Welt.

Währenddessen kämpften die alten autokratischen Regierungsformen in Europa einen Kampf der Titanen, um die liberalistischen und demokratischen Kräfte einzudämmen, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts an Boden gewannen. Parallel dazu machte eine weitere gesellschaftsumwälzende Theorie von sich reden: der Sozialismus. Und mitten in all dem, mitten in diesem Mahlstrom an Veränderungen, lebte Hauptmann Dinesen sein ruheloses Leben.

Er hat an vier Kriegen teilgenommen: dem Dänisch-Deutschen Krieg 1864, dem Deutsch-Französischen Krieg 1870–71, in dem er zum Hauptmann befördert wurde, dem französischen Bürgerkrieg 1871, den wir unter dem Stichwort Pariser Kommune kennen, und dem Russisch-Türkischen Krieg 1877–78. Nach den französischen Kriegen versuchte er, seinen gehetzten Geist zu heilen, indem er sich in der äußersten Wildnis der USA niederließ und in einer kleinen Hütte in den nördlichsten Wäldern von Wisconsin lebte. Seinen Unterhalt bestritt er als Pelzjäger und führte ein Leben, das an James Fenimore Coopers Lederstrumpf und Der letzte Mohikaner denken lässt. Im Laufe seiner Jahre in der Wildnis hatte er engen Kontakt zu einem Indianerstamm, der sich Chippewas nannte. Er war ein außerordentlich tüchtiger Jäger und gewann den Respekt der Indianer. Sie gaben ihm den Spitznamen Boganis, Haselnuss. Boganis wurde zu seinem Pseudonym, als Dinesen später versuchte, in Dänemark als Schriftsteller zu reüssieren.


Hauptmann Dinesen war in vieler Hinsicht die Personifizierung einer gewaltigen Spanne von Ereignissen, die zu seinen Lebzeiten stattfanden. Er wuchs auf in der traditionsverbundenen, stark patriarchalischen, konservativen und königstreuen Welt der Herrensitze, deren Fundamente Unveränderbarkeit und Weiterführung durch die Familie hießen. Das Geschlecht der Dinesens war nicht adlig, gehörte aber zu einer exklusiven Gruppe von bürgerlichen Gutsherren – Großgrundbesitzern –, die ihrem Wesen nach durch und durch aristokratisch waren. Vom Adelsstand, in den sie teilweise einheirateten, und vom Königshaus, dem sie loyal dienten, wurden sie – obwohl sie formal nicht den gleichen Rang hatten – als Standesgenossen anerkannt. Wilhelm Dinesen war ein Romantiker des alten Schlages, was Frauen und Liebe betraf, und mit Leidenschaft gab er sich dem Krieg und der Jagd hin – aus einem Ritterethos heraus, das wie so vieles in seinem Wesen seine Wurzeln in einer verschwundenen Zeit hatte.

Gleichzeitig war er auf anderen Gebieten einer der modernsten Männer des Landes. Wie so viele Vertreter seines Standes verhielt er sich wie ein wahrer Kosmopolit, der sich von Impulsen aus der großen weiten Welt außerhalb der Grenzen seines kleinen Heimatlandes beeinflussen ließ. Ihn interessierten die neuesten Entwicklungen in jeder Form. So schockierte er beispielsweise seine aristokratischen Standesgenossen, als er mit der Idee des Sozialismus liebäugelte. Ein Flirt, den er öffentlich in seinem ersten Buch Paris under Kommunen (»Paris unter der Kommune«) präsentierte. Dinesen schrieb seinen Augenzeugenbericht im Alter von nur sechsundzwanzig Jahren. Das Ergebnis ist eines der authentischsten Werke, die es über dieses gewaltsame Kapitel der französischen Geschichte gibt. In seinem Buch sympathisiert er offen mit den Roten oder den Kommunarden, wie die Aufständischen genannt wurden, die gegen die konservative französische Regierung kämpften. In diesem Sinn wurde Dinesen nach und nach zu einer Art enfant terrible in seinem eigenen Stand. Dies zeigte sich auch in seinem späteren Leben, als er in die Politik ging und sich trotz seiner Herkunft als Gutsbesitzer für die Partei der Bauern, Venstre, aufstellen ließ. Die Vertreter der Venstre kämpften vehement gegen das Gutsherrensystem, das die dänische Politik bis weit in die neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts dominierte – bis in die Regierungszeit des damaligen Premierministers J. B. Estrup.


In seinen bekanntesten Erzählungen, Jagtbreve (»Jagdbriefe«) und Nye Jagtbreve (»Neue Jagdbriefe«), die erst im Laufe der 1880er Jahre in der damals progressivsten dänischen Zeitung, der Tageszeitung Politiken, abgedruckt wurden, pflegte Dinesen einen sinnlichen, impressionistischen Stil. Er hätte kaum moderner sein können. Dem prominenten zeitgenössischen Literaturkritiker Georg Brandes zufolge, der Wilhelm Dinesens Werk schätzte und lobte und der ihn für einen Vertreter des »modernen Durchbruchs« hielt, hatte der Hauptmann »Unruhe im Blut«. Es war eine Untertreibung. Ebenso wie seine nervöse Zeit war er ruhelos und permanent in Bewegung, ohne dass sich immer vorhersagen ließ, wohin er unterwegs war.

Hauptmann Dinesen befand sich fast sein ganzes Leben auf der Jagd nach dem, was Karen Blixen und ihr Bruder Thomas Dinesen später als »Des Vaters Gott – Das Große im Leben« loben sollten. Aber es war auch eine Lebensexpedition mit Schattenseiten und tiefen Tälern. Und es wurde niemals ganz geklärt, ob Hauptmann Dinesen Gott oder nicht doch den Teufel suchte und fand.

Tom Buk-Swienty

Feuer und Blut

12 Boulevard du Temple, Paris, Freitag, 26. Mai 1871. Wie die vergangenen Tage beginnt auch dieser Morgen mit einem gewaltigen Spektakel. Im Lärm fliegender Steine, berstender Fenster und pfeifender Kugeln kriecht der fünfundzwanzigjährige dänische Offizier Hauptmann Wilhelm Dinesen vorsichtig ans Fenster der Wohnung, in der er übernachtet hat, um die Kämpfe zu verfolgen, die auf dem Boulevard du Temple im östlichen Teil von Paris wieder aufgeflammt sind.

Ein Bürgerkrieg wütet in der französischen Hauptstadt, und vom Fenster aus kann Dinesen direkt auf die Barrikade blicken, um die auf dem Boulevard gekämpft wird. Eine Gruppe Aufständischer, die sich Kommunarden nennen, halten noch immer gegen eine gewaltige Übermacht an Regierungstruppen stand, die in die Stadt einmarschiert sind. Zwei Monate zuvor hatten die Kommunarden die Macht in Paris übernommen – mit dem erklärten Ziel, die französische Hauptstadt vom restlichen Frankreich abzuspalten. Doch nun haben sie die Stadt nicht mehr in der Hand und kämpfen einen letzten verzweifelten Kampf gegen die Regierungssoldaten.

Vom Fenster aus sieht Dinesen eine Kommunardin auf den Barrikadenwall springen. Sie ist jung, kräftig und zornig. Sie schreit und schwingt ihr Gewehr. Dann legt sie die Waffe an und feuert auf die Feinde, die an den Toren und hinter den Fenstern des Boulevards Deckung suchen. Völlig ungeschützt lädt sie ihr Gewehr nach und schießt erneut. Sie achtet nicht auf die um sie herumfliegenden Kugeln. Der Wahnsinn des Kampfes hat sie gepackt. Es muss furchtbar enden. Und es endet furchtbar. Sie wird getroffen, lässt das Gewehr fallen und taumelt verletzt in einen Graben hinter den Barrikaden, der bereits voller Toter und Verletzter ist.

Mit ihrem Fall ist der Widerstand der Barrikade gebrochen. Hauptmann Dinesen sieht, wie die Soldaten dagegen anstürmen. Ein Soldat springt auf die Barrikade, auf der zuvor die Frau gestanden hat. Sie liegt ihm zu Füßen im Graben, er richtet seinen Gewehrlauf auf sie. »Schieß nicht, schieß nicht!«, schreit die Frau. Deutlich hört Dinesen ihre Stimme, sie ist voller Todesangst. Doch der Soldat zögert nicht. Er drückt ab.

Weitere Soldaten kommen hinzu und postieren sich bei den Verletzten hinter der Barrikade. Ein hohles Dröhnen ist zu hören. Einem Verletzten nach dem anderen wird in den Kopf geschossen. Dies ist kein Krieg. Es ist eine Schlächterei. Wilhelm Dinesen weiß auch, was diese Entwicklung für ihn persönlich bedeutet. Auch er ist nicht mehr in Sicherheit, obwohl er nicht zu den Kämpfenden gehört, sondern den Bürgerkrieg in Paris privat als ausländischer Beobachter verfolgt hat. Bisher wurde dies von den streitenden Parteien immer respektiert. Doch in dieser Situation kann sich niemand mehr sicher wähnen. Er muss verschwinden.

Er stürzt aus der Wohnung, die Treppen hinunter, vorbei an aufgereihten Leichen und Verletzten. Er erreicht den Hinterhof, von hier aus kann er die großen Boulevards erreichen. Um dorthin zu kommen, muss er durch eine kleine Gasse, sie schwimmt im Blut der Toten und Verletzten. Als er endlich auf den offenen Boulevards steht, sieht er zum ersten Mal das unglaubliche Ausmaß der Zerstörung. Die ganze Stadt, ganz Paris, atmet »Feuer und Blut«. Das ist die einzige Formel, mit der er diesen Wahnsinn beschreiben kann. »Feuer und Blut«. Straße um Straße niedergebrannte, qualmende Häuser, vielerorts quillt schwarzer Rauch aus den Ruinen. An anderen Stellen flackern die Flammen in einem letzten Totentanz unter dem grauen, regnerischen Himmel.

Ja, es regnet tatsächlich. Zum ersten Mal seit Wochen regnet es. Der Himmel weint. So ist es wohl. Das Ausmaß der Zerstörung ist unfassbar. Viele der berühmtesten Gebäude der Stadt bestehen nur noch aus Schutt, Mauerbrocken und Asche. Die Oper, die Tuilerien, der Louvre, das Hôtel de Ville. Dasselbe gilt für den Opernplatz, die Place Vendôme und die Place de la Bastille.

Dinesen hat das Gefühl, tief in einem Albtraum zu stecken, der mit jedem Schritt, den er weiter in die Stadt hineingeht, intensiver wird. Die Sinneseindrücke dringen wie spitze Pfeile auf ihn ein. In den Rinnsteinen und auf den Bürgersteigen liegen ganze Reihen von Leichen: hingerichtete Aufständische, viele von ihnen Zivilisten, viele von ihnen Frauen. Wie eine düstere Symphonie ist das Gewehrfeuer und das Dröhnen der Kanonen von den Kämpfen zu hören, die in anderen Vierteln der Stadt noch immer ausgefochten werden. Die düstersten aller Geräusche sind jedoch die knatternden Schusssalven der Hinrichtungskommandos. Dinesen sieht, wie Bürger aus ihren Kellern und Wohnungen gezerrt werden, in denen sie sich versteckt haben.

Ohne Gerichtsverfahren werden diese Menschen – Frauen und Männer, die verdächtig sind, sich an dem Aufstand beteiligt zu haben – in langen Reihen an die Hausmauern gestellt und auf der Stelle erschossen. Erst mit einer Salve in die Brust, dann mit einer Kugel, die den Gefallenen von den Soldaten sicherheitshalber in die Stirn geschossen wird.

Hauptmann Dinesen hat trotz seines jugendlichen Alters bereits sehr viel Krieg und Gewalt gesehen und erlebt. Er ist ein Veteran des Dänisch-Deutschen Krieges 1864 und hat 1870–71 als Freiwilliger auf der französischen Seite im Deutsch-Französischen Krieg gekämpft, der erst vor wenigen Monaten zu Ende ging. Doch was er hier in den Straßen von Paris sieht, ist ungeheuerlich. Ekel steigt in ihm auf, als er diese abgestumpfte Vernichtung von Menschenleben um sich herum beobachtet. Vor allem kann er den Blick nicht von den zum Tode verurteilten Menschen abwenden, die vorgeführt und an die Mauern gestellt werden. Die Art, wie sie in den Tod gehen, lässt ihn nicht los.

Schweigend, resigniert und mit gleichgültigen Blicken lassen sie sich erschießen. Nicht einer von ihnen leistet Widerstand. Sie wissen, dass es vorbei ist.

Dinesen geht an einer Gruppe Gefangener vorbei, die noch nicht erschossen wurden und aus einem unbekannten Grund zunächst in einen anderen Stadtteil transportiert werden sollen. Unter den Gefangenen ist ein Mann, der hinkt.

Dinesen hört, wie ein Soldat seinen Offizier fragt: »Hier ist einer, der nicht Schritt halten kann, er hat eine Wunde am Bein. Was soll ich machen?«

»Erschieß ihn!«

Und mit dem Dröhnen des Schusses in den Ohren setzt Wilhelm Dinesen sich auf eine Bank am Boulevard de Sébastopol in die Nähe eines Regiments Soldaten, die ihre Gewehre zu Pyramiden zusammengestellt haben. Auf der Bank neben ihm sitzt eine alte, ärmlich gekleidete Frau.

Zunächst sitzen sie schweigend nebeneinander. Einen Kilometer östlich von ihnen toben die Kämpfe am Friedhof Père-Lachaise, hin und wieder fliegt ihnen eine Granate über den Kopf.

Während sie dort sitzen, wird ein Bürger in Hemdsärmeln und mit der Kopfbedeckung eines Zivilisten aus einem Gebäude gezogen und zu einem Zeitungskiosk in der Nähe geführt. Aus der Tür des Kiosks ragen die Füße einer Leiche. Dinesen beobachtet den Vorgang. Dem Gefangenen wird die Mütze vom Kopf geschlagen. Er legt die Hände auf den Rücken und blickt ruhig vor sich hin. Ein Schuss fällt. Der Mann fällt um, in die Brust getroffen. Einer der Soldaten tritt an ihn heran und schießt ihm eine Kugel in die Stirn. Neben dem Kiosk steht eine Gruppe Offiziere. Sie drehen sich nicht einmal um und unterhalten sich einfach weiter.

Dinesen wendet sich an die alte Dame.

»Wart ihr gute Republikaner in diesem Viertel?«, erkundigt er sich und deutet damit an, dass die meisten Kommunarden radikale Republikaner und Sozialisten waren, die eine Republik wollten, die sich auf Freiheit, Gleichheit und weitgehende demokratische Rechte für die Bürger gründete.

»Ja, das waren wir«, erwidert sie.

»Und sind hier viele exekutiert worden?«

»Alle! Sowohl die, die gekämpft haben, als auch die, die nicht gekämpft haben. Man hat sie erschossen, mein Herr, so wie man ihn dort drüben erschossen hat, wie Sie gesehen haben. Man hat sie an den Haaren die Straße hinuntergeschleift.«

Sie steht auf und geht.

Auch Dinesen macht sich wieder auf den Weg – tiefer hinein in ein Inferno. Denn anders kann diese Welt, die jegliche Humanität, jedwede moralische Basis und Haltung verloren zu haben scheint, nicht beschrieben werden.

Am Théâtre Français kommt er an einer Barrikade vorbei, in deren Graben seiner Schätzung nach ungefähr dreißig Leichen liegen. Ein Karren wird vor den Graben gezogen. Soldaten werfen die Leichen auf die Ladefläche. Währenddessen laufen neugierige Zuschauer zusammen, Bürger, die weder am Aufstand teilgenommen noch damit sympathisiert haben. Sie sehen zu, während einer der Soldaten »einer Leiche die Hose auszieht und ihr einen Schlag auf das entblößte Hinterteil versetzt. Das Publikum lacht.«

Als der vollbeladene Karren davonrumpelt, stößt, wie es Dinesen später beschreibt, »ein Rad an den Kopf einer Leiche und rollt darüber hinweg«.

»Das kann nicht schaden«, hört er den Kutscher sagen. »Wenn er nicht richtig tot war, dann hat’s ihm gut getan.«

In dem Moment, als Dinesen das knirschende Geräusch der Radfelge des schweren Karrens auf dem Schädel hört, ist ihm bewusst, dass er jetzt – jetzt – genug hat.

In den vergangenen sechs Monaten waren seine Sinne in höchstem Maße angespannt, das Adrenalin hat gepumpt. Ununterbrochen war er in Bewegung geblieben. Er hatte den völligen Zusammenbruch der französischen Armee erlebt, danach den blutigen französischen Bürgerkrieg. Es war ein durchaus verlockender und intensiver Wahnsinn gewesen, der beinahe etwas Abenteuerliches an sich gehabt hatte. Das Gefühl, an etwas Großem teilzunehmen, ein welthistorisches Ereignis zu erleben, hatte ihn mit erregtem Kribbeln erfüllt.

Doch jetzt, jetzt ist es zu viel. Es scheint, als würde an diesem Tag alles auf den Kopf gestellt. Es ist der 26. Mai 1871. Wilhelm Dinesen fragt sich nach dem Sinn des Ganzen und kann Tod und Vernichtung nicht mehr ertragen. Er spürt eine sehr tiefe Müdigkeit. Und als er diese Müdigkeit erst einmal zugelassen hat, lässt sie ihn nicht mehr los, er fühlt sich schlapp, kraftlos und missmutig. Zum ersten Mal seit über einem halben Jahr geht ihm durch den Kopf, dass es Zeit ist, nach Hause zu fahren, zum Herrenhof seiner Väter, auf das Gut Katholm Gods in der hübschen Natur Norddjurslands in Jütland – eine traditionsverbundene Welt, in der sein Vater A. W. Dinesen residiert, der große Patriarch der Familie. Eine Welt von gestern, in der die alte Ordnung noch besteht, eine Welt weit weg von blutgetränkten Rinnsteinen und Massenhinrichtungen. Eine Welt, die ihm Ruhe geben kann.

Kann sie es wirklich?

Teil 1

Der Patriarch und sein Sohn

1

Knapp zehn Kilometer südlich des Provinzstädtchens Grenaa in Norddjursland erhebt sich in der Nähe des tosenden Kattegats ein altes, rostrotes, dreiflügeliges Renaissancegebäude mit Kellergewölben, Türmen, geschwungenen Giebeln und hohen Dachfirsten. Es liegt zwischen üppigen Buchenwäldern auf einer Insel mitten im See. Man gelangt zu dem Ort über einen schmalen Hohlweg. Gekrümmte Buchen säumen den Weg, schmiegen sich aneinander in verzweigten Umarmungen und bilden so einen dunklen Tunnel, der zu einem der schönsten Herrensitze Dänemarks führt, Katholm Gods.

Erbaut wurde das Herrenhaus und die dazugehörenden Wirtschaftsund Arbeitsgebäude Ende des 16. Jahrhunderts von einem Gutsherrn namens Thomas Fasti, einer gewaltigen Erscheinung, der im Kampf ein Auge verloren hatte. Mit großer Tapferkeit hatte Thomas Fasti an etlichen Kriegen teilgenommen, unter anderen an dem Siebenjährigen Nordischen Krieg von 1563 bis 1570. Aber nach zahlreichen Feldzügen und treuem Dienst unter dem kriegslüsternen Frederik II. hatte er das Gefühl, dass es Zeit wäre, ein Leben als Zivilist zu führen. Thomas Fasti war für seinen Einsatz im Krieg vom König reich belohnt worden, er besaß mehrere große Höfe und Güter in Djursland. Zu ihnen gehörte Katholm, das nahe am Kattegat im äußersten Osten der jütländischen Halbinsel lag.

Das heißt, Katholm Gods war zu dieser Zeit lediglich ein großer, schlichter Hof, den er von seinem Vater, Christian Fasti, geerbt hatte. Nun zu Reichtum und Ehre gelangt, war Thomas Fasti von der Idee besessen, dass dieser Ort die Krönung seines Lebenswerks werden sollte. In einer geradezu unverfrorenen Präsentation dessen, was er vermochte, ließ er auf der Insel im See zwei imposante, sehr moderne, zweistöckige Hauptflügel errichten. Im Jahr 1600 war der Bau vollendet.

Abgesehen davon, dass später noch ein weiterer Flügel gebaut wurde und fortlaufend Verbesserungen durchgeführt wurden, ruhte über Katholm Gods, wie dies für Herrensitze typisch ist, bald eine eigentümliche Aura der Unveränderlichkeit. Generationen kamen und gingen, während der Herrensitz einfach stehen blieb, wie ein alter, stolzer Mann, der seinen Blick in die Ferne richtet. Thomas Fasti selbst konnte nur neun Jahre auf Katholm Gods wohnen, bevor er starb. Aber es folgten neue Generationen. Im Laufe der Jahrhunderte war das Landgut als Wohnsitz in wechselndem Besitz von Gutsherren mit klangvollen aristokratischen Nachnamen wie Skeel, Sehested, Ramme, Trolle und Rosenørn. Einige dieser Gutsherren erwiesen sich als human, andere zeigten sich hart gegenüber ihren Zinsbauern. Manche verstanden sich auf die Verwaltung des Gutes, andere wiederum nicht.

Und es gab einiges zu verwalten. Zu Katholm Gods gehörten fast tausend Morgen Ackerland, Wiesen, Heideflächen, Dünen und Strand und ein ebenso großes Waldgebiet. Hierzu kam die Bodenfläche der Zinsbauern, rund gerechnet 3000 Morgen Land, die sich auf 14 Höfe und 10 Häuser im Dorf Høibjerg, 17 Höfe und 19 Häuser im Nachbardorf Aalsrode und sechs Höfe und vier Häuser in der benachbarten Gemeinde Hoed Sogn verteilten. Zum Umland des Landguts gehörte auch die hübsche Kirche der Gemeinde Aalsø. Wenn die Kirche frisch gekalkt war, schimmerte sie weiß durch die sanften Hügel, die sie umgaben.


Das hoch aufragende, rote Gebäude des Herrensitzes und die kleine Welt aus Agrarflächen, Wäldern, Dörfern und der Kirche, die sich um den Haupthof als Zentrum gruppierten, waren durchaus einer königlichen Familie würdig. So dachte zweifellos auch Wilhelm Dinesens Vater, der einunddreißigjährige Junggeselle und Artillerieoffizier im dänischen Heer, A.W. Dinesen, als er den Ort zum ersten Mal sah und 1839 den Herrensitz mit allem, was an Boden und Dörfern dazugehörte, kaufte.

Der neue Gutsbesitzer erinnerte in vieler Hinsicht erstaunlich an den Erbauer von Katholm, Thomas Fasti. Als Wilhelm Dinesens Vater nach Katholm kam, war er durch und durch Soldat. Hochdekoriert hatte er als Freiwilliger im französischen Heer 1837 im Kolonialkrieg in Algerien gekämpft. Er war zum Artilleriehauptmann befördert und mit der renommierten Tapferkeitsmedaille der Ehrenlegion ausgezeichnet worden. Wenige Jahre zuvor hatte das dänische Königshaus ihm als großzügige Anerkennung seiner Fähigkeiten als Offizier den Orden »Ritter des Dannebrog« verliehen.

Der junge Dannebrog-Ritter war das, was er seinem Äußeren nach zu sein schien: ein furchtloser Offizier. Groß und schlank, mit feurigem Blick aus tiefliegenden Augen, einem scharf geschnittenen Gesicht und einem überschäumenden, ruhelosen Temperament, das sein ganzes Wesen zu verkörpern schien. Aber wie Thomas Fasti knapp dreihundert Jahre früher kam auch er nach Katholm, um das wechselhafte Soldatenleben hinter sich zu lassen.


Wilhelm Dinesens Vater war ein Sohn des Gutsbesitzers Jens Kraft Dinesen und wurde am 27. Dezember 1807 auf einem der größten und wirtschaftlich solidesten Herrensitze des Landes geboren, dem Landgut Kragerup Gods in der Gemeinde Ørslev Sogn im Westen von Seeland. Der Junge wurde auf den Namen Adolph Wilhelm Dinesen getauft, aber in seinem späteren Leben als Erwachsener wurde er in der Regel A.W. Dinesen genannt. Er war das siebte Kind einer achtköpfigen Kinderschar und der drittälteste Sohn.

A.W. Dinesen gehörte einem Bauerngeschlecht an, das seinen Stammbaum bis ins Mittelalter zurückführen konnte, allerdings ließ sich mit den frühesten Ahnen nicht sonderlich prahlen. Sie waren einfache Zinsbauern gewesen. Erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde das Zinsjoch aufgehoben, als ein Ahne namens Jørgen Dinissøn sowohl Fronvogt als auch Pächter in der Gegend von Sorø werden konnte.

Jørgen Dinissøns ältester Sohn war Anders Dinesen. Mit ihm wurde »Dinesen« zum festen Familiennamen. Er wird als der eigentliche Stammvater des Dinesen-Geschlechts angesehen, und sämtliche Nachkommen, einschließlich A.W. Dinesen und Wilhelm Dinesen, nannten ihn als Ersten, wenn die Rede auf Leben und Taten des ganzen Geschlechts kam.

Anders Dinesen war ein ungewöhnlich heller Kopf, und lokale Wohltäter bezahlten ihm deshalb ein Universitätsstudium. Als Dreiundzwanzigjähriger war Anders Dinesen fertig ausgebildeter Jurist, im Jahr darauf wurde er Richter. Drei Jahre später wurde er Kanzleiassessor (d.h. juristischer Assistent in der öffentlichen Verwaltung).

Mit Geld, das vermögende Freunde ihm liehen, kaufte er in der Gemeinde Kirkerup nördlich von Roskilde das Gut Store Østrupgaard mit dazugehöriger Schule, sechs Bauernhöfen und elf Häusern. Der Einsatz lohnte sich. Er besaß, wie einer seiner Nachkommen es später nüchtern formulierte, »ungewöhnlich gute wirtschaftliche Fähigkeiten«. Anders war versessen auf seinen Erfolg, und die Expansion seiner Unternehmungen war damit noch längst nicht beendet. 1774 konnte er ein gewaltiges Stück Land erwerben, das der Krone gehörte – knapp 6000 Morgen Land, das der König, der in Geldnöten war, ihm zu einem günstigen Preis verkaufte. Zu dem Land gehörten 133 Bauern und 121 Häusler, eine Ziegelei, eine Meierei, Mühlen, mehrere Kirchen, Wälder, 200 Kühe, ein Dutzend Bullen, Pferde, Ochsen, Schafe und Obstplantagen.

Der Boden war fruchtbar, und am Rand der besten Äcker, der sogenannten »Goldäcker«, baute Anders Dinesen einen neuen Haupthof in klassizistischem Stil, der auf den Namen Gyldenholm getauft wurde. Damit war Anders Dinesen in ganz kurzer Zeit einer der reichsten Gutsbesitzer Dänemarks geworden und hatte einen schier unglaublichen sozialen Aufstieg geschafft. Aber trotz seines extremen Aufwärtsstrebens gelang ihm nicht die Erfüllung seines alten Traumes, in den Adelsstand erhoben zu werden. Dies war eigentlich die Absicht des Königs gewesen. Anders Dinesen starb, nur sechsundvierzig Jahre alt, und wurde ohne den ersehnten Titel eines Barons begraben. Nichts davon änderte jedoch etwas daran, dass er dem Dinesen-Geschlecht eine goldene Zukunft gesichert hatte.


A.W. Dinesens Vater, Jens Kraft Dinesen, war erst fünfundzwanzig Jahre alt, als er nach seinem verstorbenen Vater die Bewirtschaftung des Herrensitzes übernahm. Zu diesem Zeitpunkt war die Welt aus den Fugen geraten. Überall in Europa erregte die Französische Revolution die Gemüter. Besonders die brutale Klimax mit Maximilien Robespierres Terrorregime in Paris 1793–94, das nahezu 16 000 Bürger unter der sausenden Klinge der Guillotine das Leben kostete, löste Schockwellen aus. Unter den Hingerichteten befanden sich auch König Ludwig XVI. und Königin Marie Antoinette.

Die Fürsten der übrigen Großmächte in Europa verfolgten die Geschehnisse voller Entsetzen. Es herrschte die Furcht, der französische Volksaufstand würde sich ausbreiten und der Absolutismus könnte vor dem Fall stehen. Österreich, Russland, Preußen, Spanien, Portugal, Holland – selbst das Osmanische Reich – standen bereit, in Frankreich zu intervenieren.

Die neue französische Republik ließ sich jedoch nicht einschüchtern. Im Gegenteil, sie ging in die Offensive und stürmte über die Schlachtfelder Europas, angeführt von einem jungen militärischen Genie namens Napoleon Bonaparte. Während eine Reihe von Kriegen große Teile Europas in Brand setzte, konzentrierte sich Jens Kraft Dinesen auf sein Leben als Gutsherr in einer bis auf weiteres friedlichen dänischen Monarchie. Als Landwirt und Geschäftsmann erwies er sich als genau so tüchtig wie sein Vater und schuf sich seine ganz eigene herrschaftliche Welt, als er Gyldenholm verkaufte und stattdessen 1801 nördlich von Slagelse das Gut Kragerup erwarb, ein stolzes Anwesen, das eine Atmosphäre dänischer Adelsmacht ausstrahlte. Hier, auf einem Herrensitz, dessen älteste Mauern aus dem 14. Jahrhundert stammten, hatten einst mächtige Männer wie Christian Friis, Kanzler König Christians IV., und Ove Juul, Vizekanzler und Vizestatthalter in Norwegen residiert.

Auch wenn es Jens Kraft Dinesen trotz geringer Erfolgsaussichten in einer von vernichtenden Kriegen geprägten Zeit gelang, sich die Welt eines grundsoliden Herrensitzes zu schaffen, trat er nicht »in die Fußstapfen seines kühnen Vaters, sondern führte das ruhige, behagliche Leben eines Gutsbesitzers«, wie einer seiner Nachfahren schreibt.

Jens Kraft Dinesens größte und gewagteste Eroberung scheint die Offizierstochter Ulrica Birgitte Christine Göring gewesen zu sein, die er 1795 heiratete. Sie kam aus einer bekannten deutschen Offiziersfamilie (war allerdings nicht verwandt mit dem berüchtigten Hermann Göring), die seit dem Ende des 17. Jahrhunderts dem dänischen König gedient hatte. Ihr Großvater war in königlichen Diensten gefallen. Ulrica brachte militärische Traditionen und ohne Zweifel auch Geschichten über kriegerische Taten mit in die Familie Dinesen, die bis dahin nur aus friedlichen Landwirten bestanden hatte. Diese Erzählungen und Geschichten über die mächtigen Männer des dänischen Hochadels, die einst auf Kragerup residiert hatten, wurden den Kindern zweifellos wieder und wieder erzählt. Erzählungen, die der drittälteste Sohn geradezu aufsaugte und von denen er geprägt wurde.

Im Gegensatz zu seinem Vater, Jens Kraft Dinesen, hatte dieser drittälteste Sohn, A.W. Dinesen, alles andere als ein ruhiges Gemüt. Er war, wie sein Großvater Anders Dinesen, nicht zu zähmen, um es mit einem Wort zu sagen.


Das Erbfolgegesetz schrieb vor, dass der älteste Sohn Gut und Boden erbte, und weil A.W. Dinesen nicht der Erbe von Kragerup war, schlug er, wie viele andere jüngere Brüder in aristokratischen Familien, eine militärische Laufbahn ein. Es war ein Weg, der sich anbot, auch weil durch seine Mutter Offiziersblut in die Familie gekommen war. Im Alter von nur zehn Jahren wurde A.W. Dinesen nach Kopenhagen auf einen militärischen Vorbereitungslehrgang geschickt. Er sollte der erste Offizier in der Dinesen-Familie werden.