In Erinnerungen und unter Hilfename meines Tagebuches, entstand diese Erzählung aus einer wahren Begebenheit. Einige Details wurden bewusst so weit aufgerundet, das dadurch die Grenze von Wahrheit und Fiktion verschwimmt. Die vermeintlich realen Namen der meisten Personen wurden aus Rücksicht verändert oder sind ausschließlich mit ihren Spitznamen bedacht worden.
Uwe Thater, 1958 geboren und aufgewachsen in Hamburg, genauer gesagt in Barmbek, wo er auch seine aufregende Jugend, zwischen den für den Stadtteil typischen dunklen Klinkersteinbauten, verbrachte. Er hat die Welt von der sonnigen, aber auch von der schattigen Seite gesehen; ein heilloser Herumtreiber, der sich immer noch gerne zum guten alten Rock 'n' Roll mit seinen ehemaligen Weggefährten trifft. Gelernt hatte er die verschiedensten Tätigkeiten im Druckgewerbe, dem er bis auf wenige kurze Unterbrechungen immer treu blieb. Lange Zeit war er beim Militär, kellnerte und lernte, wie hart man im Hafen arbeitet. Er war ein erfolgloser Boxer und Bodybuilder, doch brachte er mit zähem Willen und ein wenig Kondition so einige Marathonläufe hinter sich. Er fuhr mit dem Fahrrad durch die Weltgeschichte, wanderte viele Kilometer quer durch Deutschland und zu guter Letzt versucht er sich auch noch als Geschichtenschreiber. Man könnte ihn als einen Hans-Dampf in allen Gassen bezeichnen, der sich vornahm, Erinnerungen an die Aufbruchstimmung der wilden 70er-Jahre, die in Wirklichkeit schon in den 60ern begann, mit einer gewissen Schnoddrigkeit zusammenfassend festzuhalten. Mit aufmerksamem Blick geht er – seine Jugend beschreibend – durch die geliebte Heimat; dabei sind ihm auch noch so belanglos wirkende Nebensächlichkeiten von höchster Wichtigkeit.
Copyright: © 2015 Uwe Thater
Cover: Uwe Thater
Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 978-3-7392-8687-7
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Schon seit Langem reifte in mir der Gedanke, die kleinen Geschichten meiner Jugend aufzuarbeiten.Entschlossen, zumindest eine davon, an die ich mich gleich erinnerte und die im Sommer '71 im Landheim der Bismarckschule stattfand, wollte ich unbedingt umsetzen. Dabei sollte mir mein akribisch mit der Hand geschriebenes, über vierzig Jahre altes Tagebuch behilflich sein. In der Absicht vielleicht später, viel später, einen Roman oder Ähnliches daraus zu machen, hatte ich glücklicherweise damals allerhand niedergeschrieben.
Nach kurzem Suchen kramte ich die verblichenen, in einem Pappumschlag provisorisch zusammengebundenen Geschehnisse von damals hervor.
Es musste doch möglich sein, den jahrelangen Notizen einen Sinn zu geben. Daneben legte ich einen dünnen Ordner. In diesem befand sich die auf einer Schreibmaschine mühsam, mit dem Einfinger-Adler-Suchsystem überarbeitete Fassung, die ich irgendwann einmal angefangen – das war sicherlich auch schon wieder über zwanzig Jahre her – aber wieder abgebrochen hatte.
Nun saß ich vor einem Computer, geblendet von der gähnenden Leere eines Textfeldes. Die Finger ruhten noch auf der Tastatur und ich wusste zuerst nicht so recht, wo ich beginnen sollte. Ich horchte in mich hinein, doch der Kopf war voll mit einem Gewirr der verschiedensten Geschichten, Szenen und zufälligen Erlebnissen, dass es fast unmöglich war, einen klaren Gedanken zu fassen.
Wie sollte ich also vorgehen? Wie könnten Leute sich damit selber identifizieren und dabei auch noch Emotionen aufbauen? Nicht auf die wirklichen Personen sollte es ankommen, sondern die Zeit, in der so viele Dinge passiert waren, wollte spannend und authentisch geschildert sein. Von vornherein würde es mir leichter fallen eine Figur von außen zu beschreiben und zu beobachten, als von mir selber zu berichten und mich der Versuchung hinzugeben, mich selber als egozentrischen Helden voller Eitelkeit, der ich mit Sicherheit nicht war, in irgendeiner Weise hervorzuheben. Also musste eine Figur herhalten, die stellvertretend für mich und eine ganze Generation diese aufregende Zeit Revue passieren lassen sollte.
So entstand mein Freund Ulli Pohlmann. Ihn wollte ich in das besagte Schullandheim schicken. Zum Glück hatte ich fast alles an Musik angesammelt und abgespeichert, was damals in unserer Jugendzeit so gehört wurde. Diese sollte mich in meinen Erinnerungen bestärken.
Während damals mit Sean Connery – die Techniker in den Geheimlabors ihrer Majestät waren wieder fleißig gewesen – der inzwischen siebte James-Bond-Film, Diamantenfieber, in den Kinos anlief, interessierte mich mehr die Musik. Denn in der Geschichte des Rock und Pop markierte unwiderruflich das Jahr 1971 den Beginn einer Ära, mit der die Musikszene endgültig die letzten Überbleibsel des klassischen Rock 'n' Roll und Beat hinter sich ließ. Darauf folgte der psychedelische Flower-Power. Bands wie Pink Floyd oder Emerson, Lake & Palmer waren in den Vordergrund getreten. Während einer anhaltenden Wirtschaftskrise bot der Glamrock unter anderem mit Gary Glitter, Sweet und Suzie Quatro, bei dem ich aber gleichzeitig auch an den später leider tödlich verunglückten Marc Bolan von den T-Rex denken musste, eine laute, glitzernde Inspiration. Hot Love oder Get it on lief damals gerade in den Hitparaden.
Noch aber war die britische Hardrock-Legende Deep Purple, die wochenlang mit ihrem Album Fireball den ersten Platz der deutschen LP-Charts belegte, angesagt. Damit hatten sie ihr Child in Time abgelöst. Die Rolling Stones veröffentlichten mit Sticky Fingers, damals auch berühmt für das von Andy Warhol entworfene Cover mit dem Reißverschluss, ihr wahrscheinlich bestes Album. Vor allem wurde damit ihr neues Logo, mit dem Mund und der obszön herausgestreckten Zunge, zum Markenzeichen. Die Beatles, die sich im Vorjahr mit der LP Let it Be verabschiedet hatten, waren nun als Solokünstler unterwegs; John Lennon mit der sehr schönen Ballade Imagine und Georg Harrison kam mit seiner Single My sweet Lord. In der sonstigen Popwelt waren Butterfly und Mamy Blue zu hören. Und die Fabrik, ein Veranstaltungs- und Stadtteilkulturzentrum in Ottensen, wurde in diesem Jahr gegründet.
Schon erklang der Summertime Blues, eine damals in nur 45 Minuten aufgenommene Eigenkomposition von Eddie Cochran, aus meinen Boxen. Ein Song über Trübsal und typischen Teenagerfrust. Dieser zur folgenden Erzählung passende Klassiker, wirkte wie ein ungeheurer Motivationsschub auf mich – meine Güte waren das aufregende Zeiten. Und endlich fingen die Erinnerungen wie in einem Film vor meinen Augen abzulaufen.
So stellte ich, tief in einem Kopfkino versunken, meinen neuen Freund auf eine S-Bahn wartend, inmitten des Feierabendverkehrs des Hamburger Hauptbahnhofs …
Mit dem Rücken lässig an der Wand des Schaffnerhäuschens gelehnt, sah Ulli dem einfahrenden Zug entgegen. Langsam löste er sich vom Häuschen und trat zwischen die am Bahnsteig stehenden Menschen. Die Waggontüren wurden aufgerissen und die Fahrgäste strömten, hektisch nach einem Sitzplatz suchend, in die Bahn. Er hatte sich schon damit abgefunden die Fahrt im Stehen zu verbringen, als er doch noch einen freien Fensterplatz gegen Fahrtrichtung erspähend, ansteuerte. Da erblickte er sie, der er schon des Öfteren begegnet war: seine Vergangenheit. Diesmal hatte sie sogar den Fensterplatz ihm direkt gegenüber eingenommen.
Die Bahn setzte sich nach einem lauten Zuschnappen der Türen in Bewegung. Diese dunklen Augen, die Haare inzwischen etwas in Mahagoni getönt, ihr Seitenprofil, wie sie abwesend wirkend aus dem Fenster des nun den Bahnhof verlassenden Zuges sah … Er erlaubte sich bei dieser Gelegenheit, für einen Moment einen verträumten Blick auf ihren vollen Brüsten ruhen zu lassen. Er musste ihn etwas tiefer, als vor über vierzig Jahren senken. Man schrieb inzwischen das Jahr 2011. Die könnten es gewesen sein, bildetete sich der leicht ergraute Ulli – aus dem damals blonden Jungen war inzwischen ein in die Jahre gekommener Mann geworden – ein. Wie jeden Abend von der Arbeit ermüdet, befand er sich auf der Heimfahrt in den östlichen Teil von Hamburg.
Nun saß sie ihm hier in der S-Bahn sogar gegenüber und er war sich immer noch nicht sicher. Er suchte einen vorsichtigen Blickkontakt, aber da sie ihn nicht ansah und er sie nicht ansprechen mochte, blieben sie in der Gegenwart. Sollte er sich vielleicht doch einmal bemerkbar machen? Nee, lieber nicht.
Alsbald riss er sich aus den Träumereien, gab den zaghaften Versuch eines Blickkontaktes auf und starrte, wie seine Gegenüber, ebenfalls wieder aus dem Fenster der fahrenden S-Bahn.
Ja, damals 1971 – es war genau wie heute ein warmer Julitag, hing Ulli Pohlmann seinen Gedanken weiter nach. Einige Tage vor den Sommerferien, den Großen Ferien, da fing alles an …
Man muss sich das mal vorstellen: Die Mango und die Kiwi waren dieses Jahr in Westdeutschland eingeführt worden – eine ungemeine Bereicherung für jeden Fruchtsalat.
Zum Probieren hatte Ullis Mutter, Lieschen, solch eine Kiwi von einem freundlichem Gemüsehändler mitbekommen.
Ulli wusste zuerst gar nicht, wie er diese fremdartige Frucht essen sollte.
Begutachtend drehte er sie zwischen den Fingern hin und her, tastete neugierig die bräunliche, etwas raue Haut ab.
»Und wie isst man so was? Mit Haut?«
Die Mutter schnitt sie ihm in zwei Hälften, legte diese auf eine Untertasse und gab ihm einen kleinen Löffel.
»Versuch es mal damit.«
Als Ulli so in der Küche stand und das saftig-grüne Innerste mit dem kleinen Löffel aus der braunen Hülle herausschälte, verschwand Lieschen im langen dunklen Flur. Er hörte nur noch, wie sie nach seinem Vater rief.
»Was ist denn da los?«, fragte der sich beim Lesen eines Buches gestört fühlende Vater.
»Du wolltest unserem Sohn doch noch was erzählen.«
»Was denn?«
»Du weißt schon …«
»Ach so!«
Kurzes Gemurmel und dann: »Uuulli …!«
»Ja-haa … was is denn?«, kam es genervt aus der Küche zurück.
»Kommst du mal bitte?«
»Glaa-heich!«, wischte der Sohn sich murrend die von der Kiwi klebrig gewordenen Hände an einem Handtuch ab. Was sie wohl wieder wollten? Meist bedeutete es nichts Gutes, wenn er so lautstark ins elterliche Wohnzimmer zitiert wurde.
Der Vater setzte sich in seinen angestammten Sessel, die Mutter hielt ihrem Sohn den schweren dunkelgrünen Samtvorhang der Wohnstube auf.
»Waaas soll ich …?«, tönte es kurz darauf aus dem inmitten des Barmbeker Arbeiterviertels gelegenen kleinen Wohnzimmer der Pohlmanns. Ulli hatte gerade in dem Sessel gegenüber seinem Vater Platz nehmen wollen, hielt nun aber in der Bewegung inne.
»Nee, näh?«, wehrte er ätzend ab.
»Ihr wollt mich abschieben, da hab irgendwie gar kein Bock drauf.«
»Den Prospekt, den du letztens von der Schule mitbekommen hattest, wo ist der?«, fragte sein Vater Hans unbeirrt weiter.
»Der is für Schullandreisen«, sagte Ulli in einem übertrieben abwertenden Ton und ließ sich endlich in den Sessel fallen.
»Hast du den noch? Dann hol ihn uns mal bitte.«
»Ich weiß nich wo der is.«
»Dann suchst du ihn!«
»Ich will aber nich verreisen«, erwiderte Ulli trotzig.
»Deine Eltern haben einen Urlaub in den Kaufungerwald gebucht. Der wird sich etwas mit deinen Ferien überschneiden …«
Ulli überkam das Gefühl, seine Eltern meinten es womöglich ernst,
»… und wir kommen erst eine Woche später wieder.«
»Ich will nich!«, unterbrach er abermals seinen Vater und sah Hilfe suchend seine Mutter an.
»Doooch, du musst mal woanders hin. Wir wollen mal für uns sein, wir brauchen auch mal unsere Ruhe«, ging Lieschen entschieden dazwischen.
»Du hast doch gehört was deine Mutter gesagt hat? Also, du wirst für drei Wochen in ein Schullandheim und anschließend kommst du für eine Woche zu Tante Amelie und Onkel Ernie«, fuhr der Vater fort.
»Dann muss ich die letzte Woche ja von da aus zur Schule. Nö, da bleib ich eben alleine hier. Fahrt man schön in euren Kaufungerwald.«
»Wir und dich alleine lassen? Du spinnst ja wohl!«, tippte Hans Pohlmann sich mit dem Finger an die Stirn. »Kommt gar nicht infrage. Dich kann man nicht allein lassen«, zeigte der Vater seinem Sohn weiterhin einen Vogel.
»Du kannst auch für drei Wochen zu Tante Amelie«, rief er seinem Sohn hinterher, der bereits genervt und unwillig in sein Zimmer ging, um dann schließlich unwirsch den gefalteten Prospekt auf den Wohnzimmertisch fallen zu lassen.
»Guck mal, gleich hier auf dem Umschlag ist schon so ein Heim.«
Ulli, genervt an die Zimmerdecke blickend, wollte davon absolut nichts wissen.
»Guck doch mal hiiier, wär das nichts?«, wedelte der Vater mit dem zweifarbigen Prospekt vor ihm herum und sah dabei zu seiner Frau,
»Sieht doch schon mal ganz gut aus.« Hans Pohlmann setzte, die Reiseangebote intensiver studierend, seine Brille ab.
»Ja, sieht ganz gut aus«, murmelte Ulli, seine Gegenwehr inzwischen als sinnlos betrachtend, nahezu unverständlich.
Er hatte längst mitbekommen, dass die Deutschen sich in den letzten Jahren zum Reiseweltmeister entwickelt hatten. Nichts und niemand konnte sie daran hindern, sofort bei Ferienbeginn fluchtartig ihre Behausungen zu verlassen. So auch seine Eltern.
Vorletztes Jahr war er mit ihnen noch unten im Hessischen gewesen. Wie hieß das da noch gleich? Eine kleine Pension, Hasenmühle hieß sie, in der Nähe von Witzenhausen im Werratal war es. Da, wo er schon am zweiten Tag in der Schankstube ausversehen sein Glas mit Cola über den Tisch gekippt hatte. Die anwesenden Landwirte hatten sich mürrisch umgedreht. Sein Vater, peinlich berührt, wäre damals am liebsten im Erdboden versunken.
Am Besten war die Pute im Gehege draußen vor der Pension gewesen. So ein Vieh hatte er vorher noch nie zu Gesicht bekommen. Gleich morgens nach dem Frühstück war er zu ihr gelaufen und hatte sie ein wenig geärgert, bis sie dann vor Aufregung anfing zu kollern. Es war schon Lustig anzusehen, wenn der knallrote Hautlappen am Schnabel so schön herumschlabberte. Von diesem Anblick angespornt, äffte er sie jedes Mal aufs Neue lauthals nach.
Als seine Eltern sich eines Tages dann in der Nähe des Geheges auf zwei alten morschen Sonnenliegen legten und sein Vater mit seiner zusammenbrach, streckte die Pute erschrocken ihren schlanken Hals, guckte, guckte noch mal und fing wieder mit ihrem nervigen Gekoller an. Sie wollte gar nicht mehr aufhören zu lärmen. Jeder Beschwichtigungsversuch des verärgerten Vaters war erfolglos und regte sie eher noch mehr auf. Was hatte Ulli gelacht.
Aber das war vor zwei Jahren. Und jetzt?, jetzt wollten sie offensichtlich alleine los, ohne ihn. Er durfte sich nur noch aussuchen, wo seine Reise hingehen sollte.
Vielleicht wäre es doch nicht so schlimm, mal woanders hinzukommen, besann er sich. Die meisten seiner Kumpels fuhren sowieso in die Ferien, nach Mallorca oder so.
Warum nicht auch ich?, dachte Ulli. Aber nein, die Herrschaften blieben schön im deutschsprachigen Raum. Und jetzt durfte er auch noch in so ein schnödes Schullandheim.
Da konnte er nach den Sommerferien ja überhaupt nicht mit punkten.
»Landheim der Bismarckschule bei Eldagsen, Kreis Springe. Wenn ihr mich schon loswerden wollt, denn kann ich ja dahin«, zeigte Ulli mit dem Finger auf die Vorderseite des Prospektes. Inzwi schen war er schon selber davon überzeugt, dass es vielleicht doch nicht ganz so schlimm sei, in den Ferien alleine zu verreisen. Schließlich hatte es in den letzten Jahren ja schon zwei ähnliche Verschickungen gegeben, einmal ging es in den Schwarzwald und das zweite Mal nach Sprötze.
Aber das war etwas ganz anderes gewesen, die waren vom Schularzt verschrieben worden.
»Wo ist das? … Weserbergland?«
»Weiß ich doch nich – Eldagsen, keine Ahnung, wo das sein soll.«
»Zeig mal, wie teuer ist das denn überhaupt …«, runzelte sein Vater die Stirn,
»Huiii, drei Wochen zweihundertfünfundzwanzig Mark«, pfiff er. »Und denn auch noch für so 'n Raudi.«
»Ich kann mich ja auch ändern.«
»Und Mädchen sind auch dabei.«
»Na uuund?«
»Zwölf bis fünfzehn Jahre. Sind die Kinder da nicht etwas zu alt? Das sind ja bald Heranwachsende.«
»Macht doch nichts, wenn 'n paar Ältere bei sind.«
»Guck mal hiiier ...«, fuchtelte er wieder mit dem Prospekt vor der Nase seines Sohnes herum, »hier ist noch eins.«
Ulli stand auf und beugte sich über seines Vaters Schulter.
»Neun bis Zwölfjährige. Hör doch auf, das is ja der reinste Kindergarten. Nööö, da möcht ich nun wirklich nich hin.«
»Na gut, da musst du dich in nächster Zeit aber in deinem Verhalten noch fix anstrengen. Und ärger deine Mutter nicht immer.«
Von seinen Eltern und Verwandten bekam er in den nächsten Tagen noch eine Menge Taschengeld zugesteckt. Davon wurde eine echte Lee-Hose angeschafft. Die musste es sein, eine andere kam nicht infrage. Die Erwachsenen sagten damals Nietenhose dazu – sie wussten es halt nicht besser. Mutter kaufte ihm noch zwei dünne Rollkragenpullover und dann konnten die lang ersehnten Sommerferien kommen.
Ulli hatte es so im Gespür, es könnte diesmal vielleicht doch etwas Besonderes werden. Er war für die Reise ins Schullandheim gewappnet.
Die Sonne ließ um halb neun Uhr in der Früh auf sich warten. Sehr zurückhaltend warf sie ihre ersten Strahlen über die Moorweide.
Endlich war es so weit. In der für diesen Sommer relativ angenehmen morgendlichen Kühle trafen sich am Dammtor etwa siebzig Jugendliche, alle im zarten Alter von zwölf bis fünfzehn Jahren, die ganz aufgeregt mit ihren Eltern an der Tesdorpfstraße standen und sich gegenseitig, zwischen Unmengen von Koffern und Taschen, neugierig beäugten.
Die Moorweide war ganz früher mal, vor der städtischen Nutzung, eine Viehweide gewesen. Danach musste sie als Exerzierplatz fürs Militär herhalten. Nun war sie einem Park ähnlich und wurde damit mehr zu einem Naherholungsgebiet, das für die verschiedensten Freizeitaktivitäten genutzt wird. Aber des Öfteren wurde sie auch zu einem Versammlungsort für unzufriedene Mitbürger, die sich von hier aus, demonstrierend ihren Forderungen kundtuend, auf den Weg begaben und in die Innenstadt marschierten. Im südwestlichen Teil des Parks, zwischen dichten Bäumen, schien sich ein düsterer Zeuge des letzten Weltkrieges aus dem weißlich grauen Morgendunst zu lösen: der alte Rundbunker.
Ein Junge, der eine Weile neben den Pohlmanns gestanden hatte, begrüßte höflicherweise erst die Eltern und dann Ulli selber, mit einer überschwänglich tiefen Verbeugung und einem festen Handschlag. Er stellte sich als Holger Boencke vor. Neugierig musterte er Ulli und zog sich selber voller Tatendrang am Gürtel seiner beigen Cordhose in die Höhe.
»Ich bin ja mal gespannt, was dat wird!?«, grinste er freundlich in die Runde. Ulli hatte in seiner zurückhaltenden Vorfreude nur ein stummes Nicken übrig.
Ein kurzer scharfer Pfiff ertönte vom Straßenrand.
»Solls schon losgehn?«, rief Holger, mit einem Blick auf die beiden gerade vorgefahrenen großen weißen Reisebusse, die sie alle nach Eldagsen befördern sollten.
»Kommst mit?«, fragte er Ulli, dem Drängen und Herbeiwinken seines kleinen Bruders nachgebend, dabei entschlossen seinen Koffer ergreifend.
»Vielleicht können wir ja im Bus zusammensitzen.«
Beim Besteigen der Busse verabschiedeten sich die Jugendlichen artig von ihren Eltern.
Ulli blickte, bevor er einstieg, um sich. Die blass bleiche Morgensonne hatte endgültig den Durchbruch vollzogen. Damit war er sich fast sicher, dass es ein schöner Tag werden konnte.
»Also, in drei Wochen sehen wir uns wieder!«, rief ihm sein Vater noch hinterher.
Eldagsen! Wo sollte dieser Ort noch mal sein? Ulli wusste es damals gar nicht so genau. Irgendwo, ein ganzes Stück südwestlich, also unterhalb von Hannover gelegen. Und Hameln sollte auch nicht weit sein.
Ullis Bus hielt Vormittags an einer Autobahnraststätte. Die Jungen sprangen erschöpft hinaus, für eine halbstündige Pause von der im Fahrzeug herrschenden Wärme erlöst. Hinter ihnen hielt der zweite Bus mit den darin befindlichen Mädchen. Verdeckt durch einen Schatten spendenden Baum gab man sich gegenseitig Feuer für die ersten Zigaretten.
»Dürfen wir eigentlich rauchen?«, fragten sie sich.
»Ach, ist doch scheißegal!«
Trotzdem überzeugten sie sich dabei doch etwas unsicher davon, ob nicht irgendwo ein Betreuer in der Nähe herumstand.
Es war ein sehr heißer Sommertag geworden. Die Hitze schien förmlich über der Raststätte zu liegen. Der Rasen, auf dem sie verweilten, war ausgedörrt. Das stetige monotone Verkehrsrauschen von der Autobahn drang bis zu ihnen herüber. Eine Cola musste her! Mit einem erfrischenden Zischen war die Dose geöffnet. Kaum in der Lage den Durst spontan zu löschen.
Dort auf dem Rastplatz machte Ulli die Bekanntschaft mit Helmut. Die Kippen lässig im Mundwinkel standen sie sich gegenüber. Helmut mit etwas schütteren, strähnigen, dünnen Haaren, die eine breite Stirn freigaben. Die Hände bequem in den tiefen Seitentaschen seiner mintfarbenen Flanellhose vergraben, stand er mit seinen leicht verschlagen wirkenden Gesichtszügen breitbeinig vor ihm.
Aha, einer aus gutem Hause, dachte Ulli bei sich. Helmut war seinem Äußeren und seinem Wesen nach durchaus der Typ, der aus besserem Hause stammte und an dem man eine gute Erziehung versucht hatte. Einer, der nie ohne einwandfreie Bügelfalte auf die Straße gegangen wäre. Nicht so, wie viele andere zu dieser Zeit, mit verwaschener und womöglich mehrfach geflickter Jeans. Komischerweise waren Ulli an Helmut sofort die sogenannten Budapester aufgefallen. Die Halbschuhe mit den breiten Absätzen, schönem Lochmuster und vor allem die mit aufwendig verarbeiteten Ziernähten versehenen Kappen, gaben dem Schuhwerk etwas Edles.
Bei einer belanglosen Unterhaltung pendelten ihre Blicke immer wieder hinter den an ihnen vorüberziehenden kessen Mädels her. Mit einem frechen, abschätzenden Kennerblick pfiff Helmut leise auf. In den Knien ein leichtes Wippen, deutete er mit einem Kopfnicken über Ullis Schulter die kommende Sensation an.
Uuiih, so ein Mädchen …!, verschlug es dem fast den Atem und guckte entzückt einer Blondine hinterher. Als diese mit einer, die vermutlich ihre kleine Schwester war, an ihnen vorbeispazierte. Sie sah einfach hinreißend aus mit ihrer das knackige Hinterteil betonenden dunkelbraunen Hotpants. Diese Heißen Höschen waren in letzter Zeit der Hit überhaupt.
Die sind der Reißer. Jedes Mädchen will es heißer.
Dazu trug sie einen fliederfarbenen gestrickten Pullover und an den Beinen bis über die strammen Waden geriemte weiße Römersandalen. Obwohl sie die linkischen Blicke der beiden Jungs fühlen musste, die jeden ihrer Schritte atemlos verfolgten, bewegte sie sich völlig ungezwungen. Ulli konnte seine Augen nicht von diesem reizenden Wesen abwenden, bis sie in den anderen Bus kletternd entschwand. Die Fahrt, sie sollte ja nicht mehr allzu lange dauern, ging dann bald weiter. Helmut saß ihm schräg gegenüber und sah erwartungsvoll durch den Mittelgang. Bis in die hintersten Sitzreihen vernahm man Chris Roberts aus dem Radio des Busfahrers:
Hab ich dir heute schon gesagt, dass ich dich liebe. Hab ich dir heute schon gesagt, wie schön du bist?
Vorne im Bus fingen die Ersten an lustig zu werden. Bei Tony Marshall wurde schon kräftig mitgesungen:
Schöne Maid, hast du heut für mich Zeit? Ho-ja ho-ja ho … sag bitte ja … schöne Maid, glaub mir so jung wie heut … ho-ja ho-ja ho … kommen wir nicht mehr zusammen …
Das konnte ja noch heiter werden, verzog Ulli griesgrämig sein Gesicht.
… wir singen trallala und tanzen hopsasa …
Nach einer weiteren guten Stunde Fahrt bogen die beiden Busse in eine unbefestigte Auffahrt ab. Neugierig sahen sie durch die Scheiben des Reisebusses dem entgegen, was sie erwarten sollte. Mit behäbiger Mühsamkeit schaukelten sie auf der holprigen Strecke, bis sie schließlich auf dem Vorplatz eines altehrwürdigen, vom wilden Wein um rankten Gebäudes zum Stehen kamen. Endlich war das Ziel erreicht.
Mit hohem Giebel, umsäumt von einem großen, romantisch unmittelbar an einem Wald grenzenden Gelände lag das Landheim der hannoverschen Bismarckschule vor ihnen.
Vor Erlösung schnaufend, öffneten sich die Türen und die Busfahrer entließen die Ankömmlinge hinaus in die unerbittlich brennende Mittagshitze. Da standen sie nun, erlöst von der langen Fahrt, auf einem staubigen Platz, der auf dem ersten Blick, wie ein großer Hof auf sie wirkte. Alle trugen sie eilig ihre Koffer und Taschen herbei.
Herr Eggers, ein Lehrer, der auch in den Ferien seine pädagogischen Fähigkeiten unter Beweis stellen wollte und hier mit seiner Frau die Funktion der Herbergseltern einnahm, begrüßte sie. In der einen Hand ein Klemmbrettchen mit einer Namensliste haltend, mit der anderen die einzelnen Zimmer im jeweiligen Gebäude zuweisend.
Geduldig abwartend, bis irgendwann der Name Pohlmann fallen würde, hockte Ulli mit einigen Jungs auf dem dicken gemauerten Sims einer Außentreppe die, wenn man einen Blick hinter sich warf, zu einem Heizungs- und Wirtschaftsraum, beziehungsweise einer Spülküche hinabführte.
Aus dem Schatten dieses in die Jahre gekommenen Hauptgebäudes heraus, an deren uralter Kalksteinfassade der wilde Wein bis unter das Dach emporgeklettert war, beobachteten sie ein im grellen, flirrenden Mittagslicht über den Hof kommendes sonnengebräuntes Mädchen. Der zur Stirn gefranste blonde Kurzhaarschnitt gab ihr ein äußerst pfiffiges Aussehen. Sie trug ein recht kurzes, schwarzes, in der Sonne matt glänzendes Etuikleidchen, das eine etwas knabenhafte schlanke Figur mit leicht zu übersehenden Brüsten, betonte. Mit einem weit von sich gestreckten Arm der einen schweren Koffer angestrengt ausbalancierte, trat sie in den kühlen Schatten des Hauses. Nicht ohne vorher einen beiläufig prüfenden Blick auf die Jungs zu werfen, stellte sie das schwere Gepäckstück direkt vor deren Füßen ab.
»Ooah, puuh … is das warm!«, blähte sie ihre Wangen kurz auf, um die angestaute Luft mit einem deutlich hörbaren Pusten wieder zu entlassen. Sich nun erleichtert fühlend, wendete sie sich mit einem strahlenden Lächeln den auf sie aufmerksam geworden und sie mit äußerstem Interesse beobachtenden Jungs zu. Mit den Fingerspitzen beider Hände, an deren Gelenken kleine goldene Kettchen glitzerten, zog sie an dem Stoff ihres knappen schwarzen Satinteilchen, um mit dem wedelnd ein kühlendes Lüftchen an ihren Körper zu lassen. Ihre wasserblauen Augen blitzten belustigt die vor ihr sitzenden Jungs an.
»Hier bleib ich erst mal.«
»Das is 'ne Hitze, wah?«, stellte auch Holger mittlerweile fest.
»Das kanns wohl laut sagen«, pflichtete Helmut ihm bei.
»So, was is denn nun?«, sah sich das Mädchen ungeduldig nach den anderen herumstehenden Jugendlichen um.
Mühsam rangierten die beiden Busse rückwärts vom Hof. Unter ihren Reifen knirschte der ungleichmäßig verteilte Kies.
Ihnen blieb noch etwas Zeit, die Ulli mit Helmut und noch einigen anderen nutzte, um die nähere Umgebung zu inspizieren. So schlenderten sie vom Hof hinaus auf einen Baumstamm zu, der vor Jahren einmal zu Fall gebracht und nun dort alt und knorrig gegenüber der Einfahrt lag.
Beim Rauchen einer Zigarette hatte sich dann schnell eine Zimmergemeinschaft zusammengefunden: Da waren Holger und sein kleiner Bruder Günni, der hier, und nur hier, wegen seiner Größe immer nur Mini genannt wurde. In Wirklichkeit hieß er natürlich Günther. Dieser Kleine hatte immer einen wiegenden, etwas wichtigtuerisch anmutenden Gang an sich. Die Hemdsärmel waren meist bis weit über die Ellenbogen aufgekrempelt. Dann waren da noch Rolf, vom Typ her ein eher unauffälliger, ruhiger Zeitgenosse, Helmut und natürlich Ulli.
Sogleich drängelten sie sich, Holger vorweg, zwischen den versammelten Ankömmlingen, zum Herbergsvater durch.
»Können wir zusammen auf ein Zimmer?«
»Wer?«, fragte Herr Eggers, dem kleine Schweißperlen auf der Stirn standen, kurz von seiner Namensliste aufsehend.
Holger drehte sich um und zeigte auf die Einzelnen der kleinen Gruppe hinter sich. Nacheinander sagte jeder seinen Namen, der in der Liste abgehakt wurde.
»Zimmer Zwei!«, rief Herr Eggers, auf die obere Etage zeigend.
Die Jungs waren in dem über siebzigjährigen erhaltungswürdigen Hauptgebäude mit den schön anzusehenden Weinranken untergebracht worden.
Mit ihrem Gepäck quälten sie sich die engen Treppen bis in das erste Stockwerk hinauf, durch die uralten dunklen Flure in die einzelnen Zimmer mit den eisernen Etagenbetten und den wackeligen Schränken. Etwa acht Jungs auf ein Zimmer.
Sie, die ihr Zimmer zum Glück nur mit fünf Mann belegten, hatten ein Fenster in der Dachschräge nach hinten, mit Blick auf ein Feld.
Beim Einräumen ihrer Habseligkeiten versprachen sie dem, der jemanden beklauen würde, eine anständige Tracht Prügel. Mit einem durchgeschlagenen Handschlag wurde die Abmachung besiegelt.
Ohne das die neuen Zimmergenossen es bemerkten, verbarg Ulli ein Etui mit seiner ungeliebten Brille im obersten Fach des Schrankes. Er hasste sie dafür, dass sie ihm tagtäglich eine gewisse Schwäche aufzeigte. Für die nächsten Wochen sollte sie hinter einen Stapel Unterhosen verbannt sein.
Die Mädchen bezogen getrennt von den Jungs einen neueren, aber doch sehr provisorisch wirkenden Anbau. Viel Zeit zum Auspacken und sich gegenseitig vorstellen blieb ihnen nicht.
»Und die Koffer nicht alle auf'n Haufen schmeißen. Es ist genug Platz da!«, öffnete Herr Karlson, der Hausmeister im grauen Arbeitskittel, eine Tür zum Dachboden, durch dessen knarrendes Gebälk spärliches Licht einer kleinen Luke fiel.
»Vorne fangen wir an, und dann immer der Reihe nach ins Bord stellen … jaaa, so ist schön!«, nickte er zufrieden wartete, bis auch die Letzten ihr Gepäckstück untergebracht hatten.
Nachdem die ausgeräumten Koffer in den staubigen Holzregalen der Dachschräge verstaut waren, fanden sich alle zur ersten Mahlzeit im großen Speisesaal ein.