Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen
Jenen gewidmet, die den Mut aufbringen, gefährlich zu leben
Dissertation
zur Erlangung des Akademischen Grades
Doktor der Philosophie (Dr. phil.),
am Seminar der Orientkunde
der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
vorgelegt von
Muhammad Sameer Murtaza M.A.
aus Bad Kreuznach
2014
Betreut durch:
Erstgutachter: Dr. phil. habil. Hermann Kandler
Seminar für Orientkunde
Zweitgutachter: Prof. Dr. Hendrik Boeschoten
Seminar für Orientkunde
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 05 Seminar für Orientkunde der Johannes Gutenberg-Universität Mainz im Jahr 2016 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil) angenommen.
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© 2016
1. Auflage 2016
Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
ISBN 9783741230707
Mit seiner Entscheidung, militärisch gegen die Extremisten des »Islamischen Staates« vorzugehen, begibt sich der US-Präsident Barack Obama mitten in das Chaos einer Zivilisation, die zusammengebrochen ist. Denn die arabische Zivilisation, wie wir sie einmal kannten, gibt es nicht mehr. Die arabische Welt von heute ist so gewalttätig, so instabil, so fragmentiert und so sehr von Extremismus getrieben – Extremismus sowohl von Herrschern als auch von Oppositionellen – wie noch nie seit dem Ende des Osmanischen Reiches vor hundert Jahren. Alle Hoffnungen der modernen arabischen Geschichte sind enttäuscht worden. Politische Mitwirkung, die Wiederherstellung der Menschenwürde – die Versprechen aus der Blütezeit der arabischen Aufstände sind verweht. Zurückgeblieben sind Bürgerkriege, ethnische, konfessionelle und regionale Konflikte, sowie die Wiederkehr eines militaristischen Absolutismus. (…) Zurückgeblieben sind nur zerbrochene Gesellschaften. (…) Die Araber haben Jahrzehnte und Generationen gebraucht, um an diesen Tiefpunkt zu gelangen. Es wird sie viel Zeit kosten, sich wieder zu erholen.1
In seinem Artikel Die Barbaren sind unter uns hat der libanesische Journalist Hischam Melhem den Zusammenbruch der islamischarabischen Zivilisation diagnostiziert. In dieser Deutlichkeit wurde dies bisher so noch nicht formuliert. Gleiches wird sich sehr wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zukunft auch für die islamisch geprägte Zivilisation auf dem Subkontinent sagen lassen. Diese Zusammenbrüche werden Auswirkungen auf die gesamte muslimische Religionsgemeinschaft haben.
Drei Tendenzen glaubt der Autor erahnen zu dürfen. 1) Das Aufkommen einer Restaurationsbewegung analog zur Restaurationsbewegung des 13. Jahrhunderts nach der Reconquista und dem Mongolensturm. Sie wird versuchen, das Primat der Islamauslegung wieder den Religionsgelehrten zuzuschreiben, die allein und nun umso entschlossener die Auslegung des Islam als ihr Vorrecht betrachten werden. Ein letztes Aufbäumen des religiösen Establishments, das aber längst nicht mehr an das intellektuelle Niveau der Gelehrten der islamischen Frühzeit heranreicht. Der offene Brief von 120 muslimischen Gelehrten an den Führer des IS, Abu Bakr Al-Baghdadi, war eine trockene leblose juristische Verklausulierung ohne jegliche Morgenröte.2 2) Das Aufkommen einer atheistischen Bewegung, wie sie sich jetzt bereits in den sozialen Netzwerken abzeichnet. Bei ihnen handelt es sich um ehemalige Muslime, die Unterdrückung, Verfolgung, Misshandlung und Tötungen im Namen des Islam erlebt haben. Für diese Atheisten des islamischen Kulturraumes sind Begriffe wie Gott, Muhammad, Qurān und šaria nur in Verbindung mit religiöser Tyrannei zu denken. Freie Internetforen sind zu den Logen und Treffpunkten dieser im Netz wachsenden Bewegung geworden, die im IS keine Pervertierung des Islam erblickt, sondern einen Zusammenschluss von Muslimen aus der ganzen Welt mit dem Ziel, den Islam zu verwirklichen. Ob IS, Boko Haram, Al-Qaida oder die Taliban, sie allesamt stellen für diese Atheisten das eigentliche Wesen des Islam dar. Deshalb gilt es, die Religion zu überwinden.3 Muslime mögen Anstoß an dieser Bewegung nehmen, aber ihre Religionskritik ist aufgrund der vorherrschenden Umstände berechtigt. Es kann sein, dass ihr die Zukunft gehört. 3) Das Aufkommen eines Geistes, der den Islam neu denkt. Für den der Islam keine politische Ideologie ist. Für den der Islam etwas zu tun hat mit Glaube, Persönlichkeitsentwicklung, Mut zur Freiheit, Demokratie, Offenheit, Neugierde, Nächstenliebe, Kreativität und einem Mit-den-Menschen-Sein. Er könnte dem Islam und den Muslimen eine neue Morgenröte bescheren. Es könnte ihm gelingen, das geistige wissenschaftliche Erbe des Islam, die theologischen Schulen, die Rechts-, die Philosophie- und mystischen Schulen zu bewahren und zugleich einen modernen offenen neugierigen Weltbezug herzustellen, dessen ständiger Bezugspunkt der Qurān und der Prophet Muhammad wären: Manifestation eines Gottesbewusstseins im Gläubigen und gerechtes Handeln in der Welt. Die Folge wäre eine erneuerte muslimische Gemeinschaft, die nach ihrem Zusammenbruch zu sich selbst gekommen ist und emanzipiert mit der heutigen Welt, den Nationen, Religionen und Weltanschauungen in Dialog tritt.4
Um Denkanstöße für einen solchen Islam zu finden, muss man nicht lange suchen, sie sind Gegenstand der vorliegenden Arbeit.
Islamische Existenzialphilosophie. Muhammad Iqbal nietzscheanisch gelesen. Bereits die Überschrift lässt aufhorchen, macht stutzig, wirft Fragen auf.
Frage: Was ist Existenzialphilosophie? Antwort: Eine Philosophie, die sich mit der Existenz des Menschen beschäftigt. Warum ist der Mensch? Was ist der Mensch? Was kann der Mensch werden? So lauten die grundlegenden Fragen dieser philosophischen Richtung. Um sie zu beantworten, erkunden Existenzialphilosophen das Innere des Menschen. In den unendlichen Weiten der Innerlichkeit versuchen sie die Potenziale des Menschen zu entdecken, auszugraben und hervorzuholen. Existenzialphilosophie ist also keine Seins-Philosophie, sondern eine Werde-Philosophie, bei der das Individuum vom Sein zum Dasein schreiten soll, also zum Verständnis seines Selbst, seines Da-Seins. Existenzialphilosophie ist aber keine Philosophie der Innerlichkeit und des Rückzuges, wie man ihr oft vorgeworfen hat, sondern der zum Dasein gelangte Mensch soll die Welt kraft seines inneren Potenzials verändern.5
Existenzialphilosophen gibt es zuhauf. Um einige Namen aufzuzählen: Søren Kierkegaard (gest. 1855), Friedrich Nietzsche (gest. 1900), Miguel de Unamuno (gest. 1936), Henri Bergson (gest. 1941), Gabriel Marcel (gest. 1973), Jean-Paul Sartre (gest. 1980), Nicola Abbagnano (gest. 1990), Ernesto Grassi (gest. 1991), Luigi Pareyson (gest. 1991) und – Muhammad Iqbal (gest. 1938).
Der Untertitel dieser Arbeit macht verdeutlicht, es geht nicht um irgendeinen dieser Existenzialphilosophen, sondern um einen ganz bestimmten, nämlich den letztgenannten. Ist dann die Bezeichnung Islamische in der Überschrift nicht überflüssig? Vielleicht sogar irreführend? Immerhin geht es ja nicht um islamische Existenzialphilosophie an sich, sondern nur um einen ganz bestimmten Philosophieentwurf, nämlich jenen von Muhammad Iqbal. Oder etwa nicht?
Die Philosophie Muhammad Iqbals stellt den Ausgangspunkt dieses Buches dar. Warum? Weil er vielleicht der erste, aber ganz bestimmt der bedeutendste muslimische Existenzialphilosoph ist. Aber es geht nicht darum, lediglich einen Philosophen und sein Denken zu porträtieren – dies ist keine geschichtsphilosophische Arbeit! Sondern es geht um die Relevanz Muhammad Iqbals für eine heutige islamische Existenzialphilosophie. Schließlich liegt diese, wie überhaupt große Teile der islamischen Philosophie, brach. Dieses Werk will also aktiv philosophieren. Hierzu stützt sich der Autor auf Iqbal, da dieser bereits mit dem Philosophieren begonnen hat. Die Gedanken des Inders sollen zusammengetragen werden. Sie sollen kritisch betrachtet werden. Aber sie sollen auch mit neuen Erkenntnissen ergänzt werden. Dadurch soll der Horizont der bisherigen islamischen Existenzialphilosophie ein stückweit vorwärts geschoben werden.
Es sollte deutlich geworden sein, dass der Autor diese Studie nicht nur aus der Perspektive der historisch-kritischen Forschung, d. h. als Islamwissenschaftler, sondern auch als islamischer Philosoph geschrieben hat.
Aber was hat Nietzsche mit all dem zu tun? Wenn Muhammad Iqbal der Reibungspunkt für dieses Buch ist, so setzt dies voraus, dass man den indischen Philosophen versteht, wenn möglich richtig versteht. Der Autor dieser Arbeit stellt die These auf, dass dies dann gelingt, wenn Iqbals eigener Reibungspunkt betrachtet wird. Dieser Reibungspunkt sei primär der Philosoph Nietzsche gewesen. Mit ihm setzte sich Iqbal auseinander. Manche der Gedanken des Deutschen stießen ihn ab, andere zogen ihn an. Manche kritisierte und dekonstruierte er, andere übernahm er und islamisierte sie. Nietzsche befruchtete – ganz neutral verstanden – Iqbal. Ein Verständnis der Philosophie Nietzsches und ein Verständnis, wie Iqbal Nietzsche verstand, sind demnach Voraussetzung, um Iqbal zu verstehen; denn er denkt ja Nietzsche weiter, nur eben anders! Folglich muss sich dieses Buch mit beiden Philosophen beschäftigen. Dies ist dann auch gemeint, wenn es heißt: Muhammad Iqbal nietzscheanisch gelesen.
Gleichwohl ist ein solches Forschungsvorhaben nicht unproblematisch. Da zu Iqbals Lebzeiten und in den 78 Jahren seit seinem Tod sich niemand tiefengründig mit dieser Thematik auseinandergesetzt hat, ist die Quellenlage hinsichtlich der Rezeption Nietzsches durch Iqbal schwierig. Daher soll sich zunächst Schritt für Schritt der Frage angenähert werden, inwiefern eine Nietzsche-Rezeption durch Iqbal als gesichert gelten kann. Eine weitere Schwierigkeit stellt natürlich die Frage dar, wie liest man nietzscheanisch? Um welches Verständnis von Nietzsche geht es? Um das des Autors? Um jenes von Iqbal? Oder im Sinne des Autors, der sich in die Denkweise Iqbals einbringt? Wie verhindert man, dass die Arbeit auf Subjektivität hinausläuft? Daher sollen in jedem Großkapitel zunächst Nietzsche und dann Iqbal samt ihren Philosophien getrennt dargestellt werden. In den Kapiteln zu Nietzsche sollen verschiedene Deutungen der Nietzsche-Forschung präsentiert werden und wo möglich, Iqbals Verständnis von dem deutschen Philosophen herausgearbeitet werden, aber auch Iqbals Überschreiten und Weiterdenken von Nietzsche. Anschließend werden in einer Synopse die beiden Philosophien gegenübergestellt. Hier soll aufgezeigt werden, wo sich Iqbal an Nietzsche rieb, wo er sich von ihm angezogen und wo abgestoßen fühlte.
Was will nun dieses Werk? Es will neue sinnstiftende Antworten auf sechs grundlegende Fragen geben:
Existiere ich?
Was bin ich?
Bin ich frei?
Warum bin ich?
Was kann ich sein?
Was darf ich hoffen?
Alle Antworten zusammengenommen sollen die Frage beantworten, was es morgen bedeuten wird, Muslim zu sein.
Schon diese Fragen zeigen, dies ist kein Werk, das im akademischen Elfenbeinturm verbleiben will. Es eignet sich auch nicht zum Verstauben in Universitätsbibliotheken. Es ist ein Arbeitsbuch. Ein Buch zum Mitdenken. Ein Buch zum Widersprechen. Ein Buch zum Streiten.
Doch um sinnvoll streiten zu können, muss zunächst die Frage der Erkenntniskraft und der Erkenntnisgrenzen des Menschen beantwortet werden. Was vermögen die Sinnesorgane, der Verstand und die Vernunft? Gibt es einen Erkenntnisweg für den Menschen, der über der Vernunft liegt? Um dieses Vorhaben zu bewältigen, werden die Erkenntnistheorien Nietzsches und Iqbals zu betrachten sein. Die Grenzen, die sie aufzeigen, bestimmen ihr gesamtes jeweiliges weiteres Philosophieren. Sie münden in eine unterschiedliche Bewertung der Welt: bei Nietzsche atheistisch, bei Iqbal theistisch. Zudem werden Nietzsche und Iqbal nicht isoliert betrachtet, sondern in die europäische und islamische Geistesgeschichte eingebettet, um so zu einem tieferen Verständnis ihrer Denkwege zu gelangen.
Nachdem die Erkenntniskraft des Menschen klar abgesteckt ist, wird die Kosmologie der beiden Philosophen verglichen, die Antwort auf die Frage gibt, was der Mensch ist und ob er frei ist. Sowohl die Erkenntnistheorie als auch die Kosmologie der beiden Philosophen stellt den Unterbau für ihre Existenzialphilosophie dar.
Schließlich befinden wir uns dann im Herzen der Existenzialphilosophie und betrachten, was nach Ansicht der beiden Philosophen der Mensch sein kann und worauf er hoffen darf.
Mit Blick auf die gegenwärtige Lage der muslimischen Religionsgemeinschaft sollte gerade die Antwort auf die Frage, was der Mensch sein kann, besonders für muslimische Leser relevant sein. Für nichtmuslimische Leser dürften der ständige Diskurs Nietzsche-Iqbal und die geistige Berührung der beiden, gerade in Zeiten, in denen vor einer Islamisierung des Abendlandes gewarnt wird, verdeutlichen, was Goethe einst so schön zum Ausdruck brachte:
Wer sich selbst und andre kennt
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen.6
Eine Arbeit, die auf der Grundlage von Quellen in Arabisch, Persisch und Urdu beruht, steht immer vor dem Problem der Transkription. Um einen Kompromiss zwischen der Lesbarkeit und der exakten Transkription zu finden, wurde folgendermaßen transkribiert:
Bei Qurān-Übertragungen wurde die Übersetzung von Max Henning/Murad Wilfried Hofmann und Ahmad von Denffer berücksichtigt, während bei Bibelübersetzung auf Martin Luther und die Einheitsübersetzung zurückgegriffen wurde.
Diese Arbeit verbindet drei langjährige Forschungsbereiche des Autors miteinander, die er bei der Stiftung Weltethos verfolgt: 1) Die Beschäftigung mit der heterogenen Erneuerungs- und Reformbewegung der salafiyya, 2) die Restauration der islamischen Philosophie und 3) den Entwurf eines post-salafiyya Islam auf der Grundlage der islamischen Philosophie und der Gedanken des Weltethos.
Dies bringt eine nicht unerhebliche Schwierigkeit mit sich, für die der Autor keine wirklich befriedigende Lösung finden konnte. Es war nicht zu vermeiden, dass Gedanken und Textstücke aus früheren Veröffentlichungen in kumulativer Weise sich in dieser Arbeit wiederholen. Trotzdem ist diese Arbeit keine Wiederholung früherer Gedanken, sondern eine Ergänzung und Vertiefung bisherigen Nachdenkens, wie auch zugleich Boden für neue Erkenntnisse. Es ist eine Konzentration auf ein gänzlich neues Thema: islamische Existenzialphilosophie.
In vielerlei Hinsicht ist es ein Zwilling meines 2014 erschienenen Buches Islam. Eine philosophische Einführung und mehr… mit dem Unterschied eines Perspektivwechsels. Islam konzentrierte sich auf das Diktat der Offenbarung. Islamische Existenzialphilosophie widmet sich dem kreativen Umgang des Menschen mit der Offenbarung. Beides ergänzt sich. Beides sind die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Beides ist Ausdruck einer dynamischen und lebendigen Gott-Mensch-Beziehung. Beide Bücher gehen ineinander über, sollen aber zugleich für sich gelesen und voll verstanden werden, was schließlich Wiederholungen unvermeidbar macht.
Und Islam und Islamische Existenzialphilosophie sind ihrerseits auf dem Acker meines 2012 erschienenen Buches Islamische Philosophie und die Gegenwartsprobleme der Muslime. Reflexionen zu dem Philosophen Jamal Al-Din Al-Afghani gewachsen.
Ihnen allen gemeinsam ist ein kritisches Bewusstsein, durchtränkt mit Liebe für den Islam.
1 Melhem, Hischam (2014: 6).
2 Siehe: Madrasah e. V. (2014).
3 Vgl. Friedman, Thomas L. (2014).
4 Vgl. Küng, Hans (2004: 564).
5 Vgl. Müller, Max; Halder, Alois (1988: 87-89).
6 Goethe, Johann Wolfgang (1993a: 344).
Ich greife an dieser Stelle etwas vor: Es ist keine Frage, dass mit dem indischen Philosophen Muhammad Iqbal (1877-1938) die Problematik der Fraglichkeit der Welt, des Zweifelns an Gott, der Erfahrung der Gottesverlassenheit, der Wiederentdeckung einer intuitiven Erkenntnisfähigkeit im Menschen, der Bejahung der menschlichen individuellen Persönlichkeit und damit der eigenen Existenz in der islamischen Philosophie völlig neu zum Bewusstsein gekommen war. Es ist das Anliegen dieser Arbeit, dies aufzuzeigen.
Des Weiteren postuliert der Verfasser an dieser Stelle kühn: Muhammad Iqbals Philosophie wurde bisher nicht in ihrer Tiefe durchdrungen und verstanden. Die Schwierigkeit für muslimische Wissenschaftler, Iqbals Philosophie inhaltlich zu fassen, liegt darin, dass der Philosoph anders dachte und sprach, als man es von einem muslimischen Philosophen bisher gewöhnt war. Seine Terminologie, seine Symbolik, sein Sprachschatz, sein Denkschematismus unterscheiden sich nachhaltig von der etablierten islamischen Philosophie. Die Denk- und Sprachform Iqbals versteht sich als eine Überwindung des Etablierten und als eine Rückkehr zum Qurān. Der Philosoph kritisierte Entwicklungen innerhalb der islamischen Philosophie und Mystik. Er wollte den Islam ausgehend von der Offenbarungsschrift neu denken und im Lichte dessen die bisherige Geschichte islamischer Philosophie und Mystik selektiv fortschreiben. Hierzu provoziert und herausgefordert sah er sich von dem deutschen Philosophen Friedrich Nietzsche (1844-1900). Warum? Weil Iqbal erkannte, dass der deutsche Philosoph sich mit denselben Fragen konfrontiert sah wie er selbst. Iqbal, so die Grundthese dieser Arbeit, studierte eingehend Nietzsches Denkwege und Antworten, da sein Vorgänger mit dem Prozess des Denkens bereits angefangen hatte. Der muslimische Philosoph musste somit bei seinem eigenen Denken nicht bei null anfangen, sondern konnte von Nietzsches vorangegangenen Denkleistungen profitieren. Muhammad Iqbal suchte bei dem deutschen Philosophen nicht nach den endgültigen Antworten auf die gemeinsamen Fragen, aber die Lektüre Nietzsches half Iqbal, mit dem Philosophieren überhaupt zu beginnen. Der Vergleich zeigt, dass der atheistische und der theistische Philosoph in bestimmten Fragestellungen ein Stück weit denselben Weg gegangen sind und beide sich dann an einer Kreuzung trennten. Bei anderen Themen übernahm der Inder Teile der Philosophie Nietzsches, bettete sie aber in den Kontext der eigenen Philosophie, islamisierte diese also. Und wiederum bei anderen Fragen wehrte sich Iqbal heftig gegen Nietzsche, stellte sich ihm entgegen und zeigte schonungslos die Irrtümer in den Denkwegen des Deutschen auf. So entstand in der lebhaften Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche etwas kreativ Neues. Schimmel (gest. 2003) schrieb über Iqbals Leistung:
Hat Iqbal ein neues philosophisches System erbaut? Sicherlich nicht. Aber er hat in einer überraschenden, genial zu nennenden Synthese östliches und westliches Geistesgut zu verschmelzen gesucht, und seine Bewertung Nietzsches – dem er bewundernd und kritisch gegenüberstand – ist von erstaunlicher Einsicht in die Größe und Grenze dieses tragischen Denkers.7
Friedrich Nietzsche und Muhammad Iqbal? Es gibt Bücher über den Einfluss muslimischer Mystiker auf Muhammad Iqbal wie z. B. Abu Al-Mughith Al-Husain ibn Mansur Al-Halladsch (gest. 922), Muhyi Al-Din Abu Abd Allah Muhammad ibn Ali ibn Arabi Al-Hatimi Al-Tai (gest. 1240), Dschamal Al-Din Muhammad Rumi (gest. 1273) und Abd Al-Karim Al-Dschili (gest. 1408/17). Gleichermaßen wird die Bedeutung von Johann Wolfgang von Goethe (gest. 1832) und Henri Bergson (gest. 1941) auf die Philosophie Iqbals ausführlich in Aufsätzen und Monographien behandelt. Aber Nietzsche? Hier lässt sich keine Monographie finden. In Büchern zu Iqbal wird Nietzsches Einfluss marginal gestreift. Allenfalls findet man Aufsätze zu dieser Thematik.8 Oftmals begleitet von dem Versuch einer Inschutznahme Iqbals,9 indem man einen Zusammenhang zwischen Iqbals und Nietzsches Philosophie strikt zurückweist. Doch inwiefern ist diese Zurückweisung berechtigt? Aber genauso stellt sich die Frage, inwiefern ist es berechtigt, Iqbals Philosophie nietzscheanisch zu lesen? Verbaut man sich nicht den Zugang zu Iqbal, wenn man einen möglichen Einfluss durch den deutschen Philosophen kategorisch ausschließt? Oder verbaut man sich erst recht den Zugang zu Iqbal, wenn man den atheistischen Philosophen einbezieht?
Diese spannenden Fragen verdienen eine Überprüfung. Hiervon soll diese Arbeit handeln.
Die Frage, ob Muhammad Iqbals Philosophie nietzscheanisch gelesen werden kann oder nicht, erübrigt sich recht schnell, wenn man zunächst drei grundlegende Fragen versucht zu beantworten. Beginnen wir mit der ersten, der simpelsten Frage, ob denn der aus Indien stammende Philosoph überhaupt die deutschen Werke Nietzsches lesen konnte.
Der muslimische Philosoph hatte 1897 in Lahore seinen M.A. in Philosophie erworben. In weiterer Folge erhielt er 1905 durch die Vermittlung seines Lehrers, des Orientalisten Sir Thomas Arnold (gest. 1930), ein Stipendium für Cambridge. Dort studierte Iqbal Jura und Philosophie. Anschließend machte er sich auf den Weg nach Deutschland. Im Juni 1907 ließ er sich zunächst in Heidelberg nieder, wo er sich die Zeit nahm, die deutsche Sprache zu erlernen. Noch im selben Jahr verfasste er in München bei dem Semitisten Friedrich Hommel seine Doktorarbeit The Development of Metaphysics in Persia. Danach verweilte er eine Weile in Oberammergau, bevor er nach London und schließlich 1908 nach Lahore zurückkehrte.10
Es erscheint unmöglich, dass Muhammad Iqbal sich in so kurzer Zeit profunde Deutschkenntnisse aneignen konnte, um dann Friedrich Nietzsche zu lesen und sogar zu verstehen. Und doch sind 25 Briefe und zwei Postkarten erhalten geblieben, die Iqbal für seine damalige Deutschlehrerin und zugleich platonische Liebe Emma Wegenast verfasst hat. Nach Muhammad Hobohm (gest. 2014), der sich mit diesen Schriftstücken beschäftigt hat, fallen sie in zwei Zeitperioden, einmal in die Jahre 1907 bis 1914 und 1931 bis 1933. Ein einzelner Brief ist auf das Jahr 1919 datiert. Allesamt sind sie auf Deutsch verfasst und erhellen damit Iqbals andauernde Deutschkenntnisse.11
Die deutsche Sprache blieb stets ein Begleiter des Inders, der sich Zeit seines Lebens mit der deutschen Literatur, Philosophie und Kultur beschäftigte. Selbst für seine Kinder stellte er eine deutsche Gouvernante ein.12
Somit können wir zumindest darauf schließen, dass Muhammad Iqbal die Lektüre Nietzsches lesen und verstehen konnte. Kommen wir zu der zweiten Frage: Interessierte sich Iqbal überhaupt für den atheistischen Philosophen?
Allein aus Iqbals Deutschkenntnissen lässt sich noch nicht rückschließen, ob er sich denn auch mit dem Philosophen Friedrich Nietzsche auseinandersetzte. Eine so lückenhafte Schlussfolgerung wäre allenfalls spekulatives Glasperlenspiel. An dieser Frage entscheidet sich also, ob die in dieser Arbeit vorgenommene nietzscheanische Leseperspektive eine Berechtigung besitzt.
Die Nietzsche-Rezeption setzte um 1890 ein. Ein Jahr zuvor hatte der deutsche Philosoph einen geistigen Zusammenbruch erlitten und verbrachte die kommenden elf Jahre bis zu seinem Tod in geistiger Umnachtung.
Als Iqbal nach Europa kam, galt Nietzsche als der Philosoph der Stunde, mit dem sich Philosophen, Theologen, Dichter und Komponisten beschäftigten.13 Erst einige Jahre zuvor, 1896, hatte Richard Strauss sein sinfonisches Werk Also sprach Zarathustra verfasst.14 Leben, Dynamik und Kreativität wurden durch die Nietzsche-Rezeption zu den Schlagwörtern der damaligen Jugendbewegung in Deutschland, des Jugendstils, der Neuromantik und der Reformpädagogik.15 Es entstand die Lebensphilosophie, eine Strömung, die das Leben steigern, ihm neue Formen geben und herausfinden wollte, welche Werte lebensdienlich sind und welche vitalisierenden Werte neu geschaffen werden müssten. Nietzsche war also in aller Munde, sodass zur Jahrhundertwende bereits Parodien, Satiren und Schmähschriften über den deutschen Philosophen erschienen waren.16 Architekten wie Peter Behrens und Bruno Taut ließen sich von Nietzsche inspirieren und konstruierten Räume für freie Geister. Während Mary Wigmann in den zwanziger und dreißiger Jahren einen sogenannten dionysischen Tanzstil erfand, bei dem Zeilen aus Nietzsches Zarathustra rezitiert wurden.17 Marufs Inschutznahme Iqbals, dieser habe sich niemals mit Nietzsche beschäftigt, da der deutsche Philosoph zu dieser Zeit überhaupt nicht ernst genommen wurde, kann daher zumindest als eine falsche Einschätzung der Nietzsche-Rezeption abgetan werden.18 Und wie steht es mit einem Studium der Philosophie Nietzsches durch Iqbal?
Die aus Bombay stammende Inderin und in London kennengelernte Kommilitonin Iqbals, Atiya Begum (gest. 1967), berichtete, dass sie und Iqbal intensiv über Platon und Nietzsche miteinander diskutierten.19 Um über etwas fundiert diskutieren zu können, muss man sich mit dem Diskussionsgegenstand auseinandergesetzt haben. Immerhin schreibt Begum, Iqbal habe sie wiederholt bzgl. lesenswerter Lektüre angefragt.20 Auch ihre Aussage, Iqbal und sie seien bei der Interpretation der Philosophien Platons und Nietzsches unterschiedlicher Meinung gewesen, lässt eine tiefer gehende Beschäftigung mit dem deutschen Philosophen erahnen.21 Unklar an dieser Stelle ist jedoch, in welcher Form dies bereits in London geschah. Begum, die dann zu Iqbal in Heidelberg stieß, notierte, dass der Student Iqbal gerne die Gesellschaft seiner beiden wunderschönen Deutschlehrerinnen, Frau Wegenast und Frau Seneschal, auch nach der Beendigung des Unterrichtes genoss. Man machte sich auf den Weg zu einem Kaffeehaus oder an den Neckar, um über deutsche, griechische oder französische Philosophie zu diskutieren.22 Obwohl Begum nicht ins Detail geht, so ist es doch nicht auszuschließen, dass auch hier der Name Friedrich Nietzsche fiel.
Sicher ist also, dass Iqbal sich mit Nietzsche beschäftigt hat. Dies wirft dann die dritte Frage auf, ob der deutsche Philosoph einen bleibenden Eindruck bei dem indischen Philosophen zurückließ.
Maruf zufolge ist der Versuch, durch Nietzsche zu einem tieferen Verständnis der Philosophie Iqbals zu gelangen, unzulässig. Der muslimische Philosoph habe sich allenfalls ablehnend gegenüber Nietzsche geäußert. In weiterer Folge untermauert Maruf diese Ablehnung durch eine Reihe von Zitaten seitens Iqbals.23 Aber belegt diese scheinbar durchgängig negative Auseinandersetzung mit Nietzsche nicht auch, dass Iqbal sich zumindest an dem deutschen Philosophen gerieben hat? Kann so etwas nicht auch das eigene Denken befruchten? An dieser Stelle ist nicht der Platz, um Iqbals Kritik an Nietzsche zu behandeln, dies soll im weiteren Verlauf der Arbeit geschehen. Vielmehr geht es um die Frage, wie intensiv sich Iqbal an Nietzsche abgearbeitet hat. Sollte Muhammad Iqbal beispielsweise sich nur ein einziges Mal zu Nietzsche geäußert haben, so wäre es recht übertrieben und bemüht, dessen Philosophie durch Nietzsche besser verstehen zu wollen. War also Nietzsche nur eine Randerscheinung im Denken Iqbals? Und stimmt Marufs Schilderung, dass wenn Iqbal sich mit Nietzsche beschäftigte, dann nur ablehnend? Oder lässt sich vielleicht sogar eine Würdigung des deutschen Philosophen ausfindig machen, die eine nietzscheanische Lesart umso mehr rechtfertigt?
Der indische Philosoph veröffentlichte folgende Werke:
In den Werken 3),24 4),25 6),26 9),27 10)28 und 13)29 finden wir eine namentliche Erwähnung Nietzsches und in den Werken 8)30 und 12)31 eine direkte Anspielung auf den deutschen Philosophen. Wobei nietzscheverwandte Themen und sogar Adaptionen von dessen Gedichten32 sich in allen Werken finden.
Nietzsche ist der einzige Philosoph, mit dem sich Iqbal durchgängig beschäftigt hat. Man kann den deutschen Philosophen somit nicht als eine Randerscheinung in Iqbals Denken marginalisieren, wie dies auch oftmals die Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel tat.33 Zu erwähnen ist auch, dass Iqbal beabsichtigte, ein Werk ganz im Stile von Also sprach Zarathustra zu verfassen namens Das Buch eines vergessenen Propheten,34 womit wir bei der Frage der Anerkennung Nietzsches durch Iqbal angekommen wären.
In einem Aufsatz aus dem Jahr 1917 würdigte Iqbal den Philosophen aus dem Abendland, da dieser das Denken in den Dienst des Lebens gestellt habe:
Nietzsche sah die Dekadenz des Menschentyps rings um ihn, enthüllte die feinen Kräfte, die dahingewirkt hatten, und versuchte schließlich den Lebenstyp zu skizzieren, welcher der Aufgabe auf unserem Planeten angemessen ist. »Nicht wie der Mensch zu bewahren ist, sondern wie der Mensch zu überschreiten sei«, war der Grundton von Nietzsches Denken.35
Bewundernd heißt es in zwei Gedichten des payām-e mašreq, die den Titel Nietzsche tragen:
Der Menschen Langsamkeit ließ zittern ihn im Gram,
Sein Denken schuf ein Bild, das sollte fester sein;
Warf hundert frische Wirrn er in der Franken Land –
Ach, ein Besessener trat zur Glasfabrik hinein!36
Wenn süßen Sang du suchst, so flieh vor ihm –
In seinem Rohr liegt Donnergrollens Wut!
Er warf ins Herz des Westens einen Speer –
Rot seine Hand noch von des Kreuzes Blut!
Er, der aufs Heiligtum den Tempel baute:
Heidnisch sein Hirn, gläubig sein Herz und gut.
Verbrenne dich in dieses Nimruds Feuer –
Der Garten Abrahams kommt aus der Glut!37
Insbesondere das letzte Gedicht, in dem Nietzsches Denken als Glaubensverweigerung, sein Herz jedoch als gottsuchend und gut bezeichnet wird und in dessen Feuer der Mensch eintreten soll, verdeutlicht, dass ein Ignorieren von Nietzsches Einfluss auf Iqbal nicht nur das Verständnis für dessen Philosophie verbauen kann, sondern definitiv verbaut. Schimmel schreibt richtigerweise, dass Iqbal in Nietzsche so etwas wie einen fernen Bruder erblickt haben muss, der sich ganz ähnliche Fragen stellte.38 In ğāvīd nāme schließlich macht Iqbal Nietzsche zu einem Sternenwanderer jenseits der Sphären:
Ich sprach zu Rumi: „Wer ist der Besess’ne?“
Er sprach zu mir: „Es ist ein deutscher Weiser;
Sein Standort ist inmitten beider Welten;
Ein langes Lied liegt noch in seinen Saiten.
Denn er ist Halladsch ohne Strick und Galgen,
Hat neu gesprochen jene alten Worte!
Sein Wort ist ohne Fehl, tief sein Gedanke,
Sein Wortschwert spaltete entzwei die Westler.
Die Nachbarn wussten nicht, was ihn entrückte,
Und als Verrückter galt nun der Verzückte.
Vernünft’ge, ohne Teil an Rausch und Liebe,
Sie gaben seinen Puls in Arztes Hand!
Was kommt von Ärzten außer Heuchelei?
Weh dem Entrückten, der im West geboren!
Für’s Herz schreibt ein Rezept ihm Avicenna,
Lässt ihn zur Ader, gibt Beruhigungspillen. –
Er war Halladsch, im eignen Lande fremd,
Entkam den Pfaffen, fand beim Arzt den Tod.
(…)
Ein Liebender, in seinem Ach verwirrt!
Ein Wanderer, in seinem Weg verirrt!
In seinem Rausch zerschlug er jedes Glas,
Er trennte sich von Gott, zugleich vom Selbst.
Er wollte mit dem äußern Auge sehen,
Wie Gottes Macht und Lieblichkeit sich mischt.
(…)
Was er gesucht, war Ort der Gottesmacht,
Und dieser Ort liegt jenseits der Vernunft.
Das Leben kommentiert des Ichs Symbole –
>Keiner< – >Als Er< sind nur des Ichs Stationen.
Er kam vom > Kein Gott< nicht zum >außer Ihm<
Und wusste nicht den Sinn des Worts >Sein Diener<.
So nah an seinem Glanz, doch ohne Kunde,
Noch ferner als die Frucht vom Wurzelgrunde.
Sein Auge wollte nur den Menschen schauen –
>Wo ist der Mensch?< so rief er unablässig.
Sonst hätte er die Irdischen verlassen,
Um Mose gleich, die Schau des Herrn zu fassen!
Ach, hätte er in Ahmeds39 Zeit gelebt,
Dass er gelangte zur ew’gen Freude wär‘!
Doch sein Verstand spricht immer nur mit sich –.
Geh deinen Weg, der besser ist für dich! (…)“40
Ohne Nietzsche wird ein Leser Iqbal nur teilweise verstehen und es bleibt ihm mitunter verborgen, worin eigentlich Iqbals philosophische Bedeutung liegt. Nietzsches Denken ist Ausgangspunkt für Iqbals Philosophieren, von daher erklärt sich der Ratschlag, sich in Nietzsches Feuer zu verbrennen. Zugleich gilt es, sich gegen Nietzsche zu wehren, um nicht dessen Denkfehler zu wiederholen, sondern als neuer Abraham aus dem Feuer zu treten (siehe Sure 21, Vers 68-70). Beachtet man also Nietzsches Spuren im Denken des indischen Philosophen nicht genügend, so wird man zu einer vorschnellen Interpretation und damit zu einem schiefen Urteil über Iqbal verführt sein. Der Iranist Stephan Popp ist wohl der Einzige, der Iqbals Philosophie bisher in ihrer vollen Bedeutung erfasst hat:
Ein besonderes Verdienst Iqbals besteht darin, ein guter Kenner von Nietzsche zu sein und Nietzsches Philosophie weiterentwickelt zu haben. Iqbals Lehre vom Leben als Wert an sich ist von der vitalistischen Philosophie Nietzsches abgeleitet, allerdings in einer ordnenden Darstellungsweise, die aus Nietzsches Denkfragmente, Zweifel und Widersprechungen eine viel klarere und positivere Lehre baut.41
Wie erklärt sich jedoch die Blindheit in Orient und Okzident für diesen Sachverhalt? Es ist zu vermuten, dass Annemarie Schimmel Iqbal zu sehr durch die sufische Brille gelesen hat, während muslimische Wissenschaftler schützend verhindern wollten, dass Iqbals Ansehen durch eine mögliche Verbindung zu einem atheistischen Philosophen Gefahr läuft, obskur in den Augen vieler Muslime zu erscheinen. Wie hätte sonst ein solch mangelhafter, an den Tatsachen vorbei geschriebener Artikel wie jener von Maruf bei der Iqbal Academy in Pakistan erscheinen können? Für diesen Aufsatz, aber auch für die Mehrheit der Publikationen der Iqbal Academy – so die subjektive Meinung des Verfassers im Hinblick auf die vorliegende Arbeit – gilt, was Schimmel dereinst beklagte, dass nämlich die Iqbal-Forschung thematisch immer wieder die gleichen Themen wiederhole, jedoch keine neuen Wege einschlägt.42
Diese Arbeit soll keine Wiederholung der bisherigen Iqbal-Forschung darstellen, sondern sie will Neuland betreten. Muhammad Iqbal und Friedrich Nietzsche – diese Betrachtungsweise wird in der vorliegenden Form die erste dieser Art sein. Viele Themen und Interpretationen der Philosophie Iqbals werden Kenner des indischen Philosophen als neu, unvertraut und in die bisherigen Denkschemata nicht einzuordnen erscheinen. Der sparsame Fußnotenapparat mag noch misstrauischer stimmen, ist aber bedingt durch das gewählte Thema. Es wird nicht der Anspruch erhoben, dass dies die finale oder einzig gültige Interpretation der Philosophie Iqbals darstellt. Es ist lediglich ein neuer Blick auf diese, wodurch ein neues und tieferes Verständnis von der Philosophie Iqbals gewonnen werden soll. Dass dieses Vorgehen legitim und berechtigt ist, sollte an dieser Stelle einleuchtend geworden sein. Ob der Ansatz jedoch zu einem gründlicheren Verständnis des muslimischen Philosophen und seiner Bedeutung führt, muss der Leser nach der Beendigung dieser Lektüre selber entscheiden.
nachstehendem Gedicht Iqbals:
Still ist der Berg und der Fluss und das Tal
Es scheint die Natur in Sinnen versunken.
Die gefiederten Sänger verstummen zumal
Und der Wald an dem Hügel ruht schlummertrunken.
Die Karawane der Sterne zieht
Ohne Glöckchenklingen auf die himmlischen Wegen
Still leuchtet der Mond. Die Bewegung entflieht,
Im Schosse der Nacht sich schlafen zu legen.
So stark ist der Stille Zaubermacht,
Dass der Neckar ruht, nicht weiter fliessend.
Nun sei auch Du stille, mein Herz, in der Nacht
Und schlafe, das Leid in Dich verschliessend.
7 Iqbal, Muhammad (1977: 15-16).
8 Siehe z. B. Badaiyuni, Zamir Ali (2003); Weischer, Bernd Manuel (2001).
9 Siehe z. B. Maruf, Muhammad (1982).
10 Vgl. Schimmel, Annemarie (1989: 19).
11 Vgl. Hobohm, Muhammad (2000).
12 Vgl. ebda.
13 Vgl. Biser, Eugen (2008: 13).
14 Vgl. Safranski, Rüdiger (2000: 338).
15 Vgl. ebda. (333).
16 Vgl. ebda. (334).
17 Vgl. ebda. (338).
18 Vgl. Maruf, Muhammad (1982).
19 Vgl. Begum, Atiya (2011: 5).
20 Vgl. ebda.
21 Vgl. ebda.
22 Vgl. ebda. (15).
23 Vgl. Maruf, Muhammad (1982).
24 Siehe Iqbal, Muhammad (2012: 55, 82 u. 118).
25 Siehe Iqbal, Muhammad (1944: XXIX).
27 Siehe Iqbal, Muhammad (2006: 141-143, 212, 215-216 u. 223-224).
28 Siehe Iqbal, Muhammad (1977: 295-297).
26 Siehe Iqbal, Muhammad (1963: 90, 92 u. 94).
29 Siehe Iqbal, Muhammad (o. J.e: 318).
30 Siehe Iqbal, Muhammad (o. J.b: 252).
31 Siehe Iqbal, Muhammad (o. J.a: 267).
32 Siehe ebda. (299).
33 Vgl. Schimmel, Annemarie (1960: 706).
34 Vgl. Mir, Muntansir (2001) u. Schimmel, Annemarie (1963: 323).
35 Iqbal, Muhammad (1968: 62).
36 Iqbal, Muhammad (1963: 92).
37 Ebda. (94).
38 Vgl. Schimmel, Annemarie (1963: 326).
39 Synonym für den Namen Muhammad, siehe Sure 61, Vers 6.
40 Iqbal, Muhammad (1977: 295-297).
41 Popp, Stephan (2007: 125).
42 Vgl. Schimmel, Annemarie (1963: VII).
Die Ausgangssituation des philosophischen Denkens von Friedrich Nietzsche und Muhammad Iqbal war die gleiche Erfahrung: Die Gewissheit des Glaubens war bei ihnen nicht mehr gegeben. Beide Philosophen – der Pfarrerssohn Nietzsche und der in einer muslimischen, sufisch geprägten Familie aufgewachsene Iqbal – stellten das auch ihrerseits bisher Für-selbstverständlich-Gehaltene infrage: die Existenz Gottes. Die Folge war, dass für sie die Welt und damit die Existenz des Menschen fraglich wurde.
Mit 19 Jahren verfasste Friedrich Nietzsche das Gedicht Vor dem Kruzifix, das sein ganz persönliches Ringen mit Gott zum Ausdruck brachte:
„Steinblock da oben, blöder Narr,
Herunter!
Was willst du noch, was siehst du starr
Auf diese neuen Wunder?
Du hast nun ausgerungen –
Dein Arm ist steif, dein Kopf ist müd –
Säh ich, wie jeder vor mir kniet,
Wär selbst so müd,
Wär längst herab gesprungen.
Ich taumle hier vor dir in Staub
Und Asche –
Herunter! Bist du denn nur taub?
Hier hast du meine Flasche!“
Er wirft sie hin zu Scherben,
Das Glas zerklirrt, das Steinbild steht
Noch unbewegt, am Kreuz erhöht,
Sein Auge fleht
Zu sterben, bald zu sterben.
(…)
Er stieg hinauf, die Füße schwer,
Und reckte
Sich mählich, lächelnd auf, bis er
Die Augen sich bedeckte.
Ein Schwindel faßt ihn leise,
Doch wieder sah er auf so stier,
Rief gellend: „Christus, her zu mir!
Ich komm zu dir!
Glück zu der letzten Reise!“
(…)
„Du wirst mich retten, retten,
Ich reiße dich mit mir herab,
Reiß mich empor zu dir vom Grab,
Vom ew’gen Grab
Und von der Hölle Ketten.“ –
Die Säulen standen todtenstumm,
Erschrocken:
Sie hörten’s dröhnen rings herum
Wie Weltgerichtes Glocken.
Am Boden lag er – leise
Umsummte eine Wespe sein
Gebrochen Auge – starr Gebein –
Sie war allein
Und summte dumpfe Weise. –43
Die betrunkene Person in Nietzsches Gedicht ist ein zutiefst verzweifelter Mensch. Nicht erst seit Kurzem, sondern schon seit Längerem leidet er an der zunehmenden Erfahrung der Gottesferne. Im Alkohol versuchte er, seinen Kummer zu ertränken, zu betäuben. Vergebens. Nun, von allen Hemmungen befreit, richtet er einen blasphemischen Protest an die in Stein gemeißelte Figur Christus, schleudert ihr eine Flasche Alkohol entgegen und versucht gar das Kruzifix zu stürzen – es gelingt ihm nicht.
Die Worte und Taten des Betrunkenen sind aber kein Gegen-Gott-Sein, sondern Zornesausbruch eines Gottesliebenden, für den mit einem Male Gott verstummt ist. Wohin ist das Gefühl des Glaubens? Warum verschwand es? Er zerbricht am Schweigen Gottes, an Seiner plötzlichen Ferne. Weshalb tut dieser liebende Gott ihm dies an? Was stimmt nicht mit ihm? Der in dem Gedicht vorhandene hoffnungstrunkene Hilferuf an Gott darf nicht überlesen werden, wie auch die ausbleibende Antwort registriert werden muss:
„Du wirst mich retten, retten,
Ich reiße dich mit mir herab,
Reiß mich empor zu dir vom Grab,44
Der christliche, in Stein gemeißelte Gott bleibt stumm und lässt den Hilfesuchenden nun mit „[g]ebrochen Auge“45 zurück.
Noch einmal, 1864, kurz vor Beginn seines Studiums der klassischen Philologie und evangelischen Theologie in Bonn, knüpfte der deutsche Philosoph mit dem Gedicht Dem unbekannten Gott an das obige Gedicht an:
Noch einmal eh‘ ich weiterziehe
Und meine Blicke vorwärts sende
Heb‘ ich vereinsamt meine Hände
Zu Dir empor, zu dem ich fliehe,
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht
Daß alle Zeit
Mich seine Stimme wieder riefe.
Darauf erglüht tief eingeschrieben
Das Wort: Dem unbekannten Gotte:
Sein bin ich – und ich fühl die Schlingen,
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen, Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.46
Erneut haben wir es hier mit der Erfahrung extremer Gottesferne und zugleich einem intensiven Verlangen nach Gottesnähe zu tun. Das Gefühl von tiefster Verlassenheit drängt nun zu einer Entscheidung. Was einst Glaube war, ist nur noch Schmerz. Dies ist kein lebenswerter Zustand. Die Möglichkeit eines Lebens im Glauben besteht aber noch, sofern Gott sich Seines Gläubigen erbarmen und ihm endlich ein Zeichen senden würde. Ein letztes Mal also bittet und fleht daher der Gottessucher Ihn an, sich doch finden zu lassen. Doch die Antwort scheint im Hinblick auf Nietzsches weiteres Philosophieren und den Abbruch seines Theologiestudiums ausgeblieben zu sein.
Ähnliche Gedanken plagten auch den muslimischen Philosophen aus Indien, der in seinem Aphorismenbuch Stray Reflections von 1910, in dem er Rückblicke über seine Studienzeit in England und Deutschland von 1906 bis 1908 notierte, festhielt:
Ich werde oft von meinen Freunden gefragt: „Glaubst du an die Existenz Gottes?“ Ich denke, es steht mir zu, erst einmal die Bedeutung der in der Frage benutzten Begriffe zu erfahren, bevor ich sie beantworte. Meine Freunde sollten mir erklären, was sie mit "glauben", "Existenz" und "Gott" meinen, besonders mit den letzten beiden, wenn sie eine Antwort auf ihre Frage möchten. Ich gestehe, ich verstehe diese Begriffe nicht, und immer, wenn ich die Freunde ins Kreuzverhör nehme, stelle ich fest, dass sie sie auch nicht verstehen.47
Ich bekenne, dass ich Hegel, Goethe, Mirza Ghalib48, Mirza Abdul Qadir Bedil49 und Wordsworth50 viel verdanke. Die beiden ersten haben mich in das "Innere" der Dinge geführt, der dritte und der vierte haben mich gelehrt, wie man in Geist und Ausdruck orientalisch bleibt, nachdem man sich fremde dichterische Ideale angeeignet hat, und der letzte hat mich während meiner Studentenzeit vor dem Atheismus bewahrt.51