Ich danke meinem Sohn Michael

für die Gestaltung dieses Buches

und seine Unterstützung.

Meine Erinnerungen wurden aufgeschrieben

von der Biographin

Frau Britta Lauber,

www.lebensfacetten.de

Fotonachweise:

S. →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, →, → © Privat

S. → © Mit Dank an Klaus Stannek für die Bereitstellung

Titelbilder © DGB – Wir danken Katja Wollenberg von der Friedrich-Ebert-Stiftung

Zu den in diesem Buch verwendeten Fotos konnten nicht alle Inhaber der Bildrechte gefunden werden. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, bitten wir um Hinweise zur Klärung.

© 2016 Günter Drieschner

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt.

ISBN: 978-3-7412-2118-7

Inhaltsverzeichnis

Mein Beitrag für ein besseres Leben

1950 – 2015

Kurzes Vorwort

Ich möchte dem Leser des Buches die Gelegenheit geben, mich kennenzulernen. Dazu ist es wichtig zu wissen, wann, wo und wie ich aufgewachsen bin, denn die Kindheit und Jugend setzen breite, tiefe Fußspuren auf unserem Lebensweg. Vor allem in einem Leben, das vor dem Zweiten Weltkrieg begann.

Meine Erinnerungen an diese ersten Jahre sind vielfältig und sehr präsent. Deshalb habe ich mich vor einiger Zeit entschieden, sie ausführlich in dem Buch „Verlorene Wege“ aufzuschreiben. Sollte Ihre Neugierde geweckt werden, zögern Sie nicht, in dieses Buch einzutauchen. Ansonsten begnügen Sie sich mit einer kurzen und doch vieles einfassenden Einsicht in die ersten siebzehn Jahre meines nun schon so erlebnisreichen, langen Lebens. Der 15. Oktober 1946 und der 20. Januar 1947 kennzeichnen entscheidende Wendepunkte, und es ist mir wichtig, in diesem Buch davon zu erzählen, was danach geschah.

Kindheit und Jugend

In Breslau, einer lebhaften, großen Stadt an der Oder, wurde ich, Günter Drieschner, am 7. Juli 1930 als drittes Kind von Rudolf und Klara Drieschner nach meinen Brüdern Heinz und Werner geboren. Die Zwillinge Gerda und Horst, meine Schwester Helga und mein jüngster Bruder Klaus folgten mir im Abstand von drei, zehn und dreizehn Jahren.

Wie erleichtert müssen die Eltern gewesen sein, als Vater endlich nach langer Arbeitslosigkeit als Schlosser bei der „Fahrzeug- und Motoren-Werke GmbH“ (FAMO) eingestellt wurde. Die Wohnung in der Adolfstraße 5 im Stadtteil Odertor mit der Küche, einem Zimmer mit Schlafalkoven und einer Außentoilette wurde zu klein, sodass die Familie nach Gräbschen umziehen musste. Vierstöckige Wohnblöcke säumten die Kronstädterstraße, denn wir wohnten nun in einer Arbeitersiedlung am Rande der Stadt. In der ersten Etage der Hausnummer 55 erschien mir die neue Wohnung mit den zwei Zimmern, der großen Küche und dem Bad wie ein Palast. Allerdings blieb das Fensterbrett des Badezimmers der einzige Platz, an den ich mich zurückziehen konnte, jedoch selten ungestört.

Das Paradies meiner Kindheit waren die Lohewiesen und der Lohewald vor der Stadt. Im Sommer lief ich mit meinen Freunden zum Freibad Opperau und im Winter sauste ich mit ihnen auf dem Schlitten einen Abhang nahe der Bahnlinie Breslau-Freiburg hinab. Aber ich mochte die Weite der Natur genauso wie das Treiben in der großen Stadt. Mit der Straßenbahn fuhr ich in das Zentrum, bummelte durch das Labyrinth der Straßen mit den Geschäften und ging besonders gerne ins „Halla“, das Hallenschwimmbad.

Nach meiner Einschulung am 1. April 1937 wurde ich Mitglied in der Legion „Greif“, einer Bande, in der schon meine großen Brüder mit der Nachbarschaft ihre Kämpfe ausgefochten hatten. Zwischen der Kronstädter- und der Gräbschenerstraße führte ich heldenhaft eine Gruppe wilder Jungen zwischen unseren Wohnblocks an, organisierte eine Fahne und Wimpel. Ich scheute weder die Mühe noch die Strafe, den Kleiderstoff meiner Mutter zu Käppis verarbeiten zu lassen. Doch als mich meine Mutter in die „Kinderschar“, einer Vorstufe des Deutschen Jungvolkes einreihen wollte, sträubte ich mich gegen den Befehlston und die Gleichmacherei. Das änderte sich auch nicht in der Hitlerjugend. Ich weigerte mich, dort mitzumachen.

Erst 1941 wurde der Krieg sichtbar in meinem Leben. Zunächst war es ein neben den Gleisen entdeckter Koffer, den meine Freunde und ich nach einigen Diskussionen zur Polizei brachten. Nicht nur die Pistole unter der Kleidung verwirrte mich, sondern dass mein Freund Zimmer-Günter behauptete, dass jemand auf der Flucht das Gepäckstück weggeworfen hätte. Wovor musste ein Mensch fliehen?

Immer häufiger beobachtete ich fremde, vor allem junge Frauen und Männer, deren Kleidung mit einem „O“ für Ostarbeiter gekennzeichnet war. Sie wurden in den Straßen und Fabriken zum Arbeiten eingesetzt. Die französischen und englischen Soldaten, die hinter vergitterten Fenstern saßen, trugen auf ihren Uniformen ein Dreieck mit den Buchstaben „KGF“ für Kriegsgefangene. Stur überhörte ich alle Warnungen, denn meine Neugier war größer als meine Angst. Ich sprach die Männer an und freute mich über jedes deutsche Wort, das ich verstand und über die Schokolade, die sie mit mir teilten. Mit dem Seeflottenkalender meines Bruders in der Hand diskutierte ich am Zaun mit den englischen Soldaten über die Seeschlacht der befeindeten Marine-Einheiten.

Mein Kontakt blieb den eifrigen, nationalsozialistisch gesinnten Breslauern nicht verborgen. Vater und ich wurden zum Ortsgruppenleiter der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) vorgeladen, böse beschimpft und meine Lebensmittelkarte für einen Monat entzogen. Strafe durch Hunger.

Die ersten Brandbomben auf Breslau im November 1941 rüttelten die Einwohner der Stadt auf. Ich meldete mich als Luftschutzmelder und war froh, dass es bei Übungseinsätzen blieb. Im gleichen Monat verunglückte der bekannte deutsche Jagdflieger Werner Mölders in der Nähe von Breslau. Freunde forderten mich auf, mit ihnen das Flugzeugwrack zu besichtigten, doch ich verstand ihre Aufregung für dieses auch in den Zeitungen gemeldete Ereignis nicht. Dafür sah ich in den Straßen Breslaus bestürzt und hilflos zu, wie ein Zwangsarbeiter vor meinen Augen von den Aufsehern brutal geschlagen wurde.

Der Hitlerjugend hatte ich mich verweigert, ohne mit den Konsequenzen zu rechnen. Allein meiner Tante Luzie hatte ich zu verdanken, dass ich mit vierzehn Jahren nicht zum Errichten von Befestigungsanlagen eingezogen wurde. Sie verhinderte auch, dass ich mit meinem Vater in der Festung Breslau dem Feind trotzen sollte. Stattdessen organisierte sie in der eisigen Winternacht des 23. Januar 1945 ein Auto, das meine Mutter, meine jüngeren Geschwister und mich zum Bahnhof brachte und sich in einem Zugabteil mit vom Frost erblindeten Fensterscheiben für uns Platz fand. Vater blieb als einziger der Familie in Breslau zurück, denn alle dienstpflichtigen Bürger sollten ihre Stadt verteidigen. Die Nationalsozialisten zögerten nicht, ansonsten die Leute zu verfolgen und zu töten. Heinz und Werner konnten nicht mehr verpflichtet werden, denn sie dienten bereits in der Wehrmacht.

Während wir im Zug durch die Dunkelheit einem unbekannten Ziel entgegensteuerten, rangen zehntausende Flüchtende verzweifelt und hungrig bei eisiger Kälte auf schneebedeckten Wegen um jeden Meter Richtung Westen. Unzählige alte Männer, Frauen und Kinder blieben entkräftet am Rande der Straßen liegen, wurden von Jagdfliegern erschossen oder erfroren. Unsere Fahrt wurde durch Fliegeralarm mehrmals unterbrochen. Das angstvolle Wimmern der Kinder und schwangeren Frauen brannte in meinen Ohren und schien niemals zu verstummen.

Bad Landeck hieß die Endstation. Die einhundertfünf Kilometer südlich von Breslau gelegene Stadt mit fast fünftausend Einwohnern zählte zu den ältesten Kurorten Niederschlesiens. In den nächsten Wochen richteten uns Mutter und Tante Luzie ein Zimmer im „Hotel Merkur“ bescheiden ein und wir Kinder erkundeten bei fernem Geschützdonner die Gegend. Breslau entflohen, ereilte mich noch in Bad Landeck der Aufruf zum Volkssturm mit Vereidigungsappell vor dem Kurhaus und Ausbildung an der Panzerfaust. Zum Bau von Straßensperren konnte ich nicht mehr eingesetzt werden, denn die russischen Truppen marschierten ein. Deutschland kapitulierte, versank im Chaos und in den Plünderungen der Besetzer und krimineller Banden.

Mutter, Tante Luzie und ich sorgten uns um Vater, Heinz und Werner und beschlossen meine Rückkehr nach Breslau, um Vater zu suchen. Gemeinsam mit zwei Mädchen, die älter als ich waren, machten wir drei uns zu Fuß auf den Weg, vorbei an verwüsteten Feldern, zerschossenen Panzern, den erstarrten Leichen getöteter Soldaten. Ihr Anblick steigerte meine Angst um meine Brüder. Eine Angst, die mich mit jedem Schritt begleitete, denn unser Plan war gefährlich. Gerade noch rechtzeitig gelang es mir, die Mädchen vor angetrunkenen Russen zu verstecken, die sich wahllos Frauen griffen, um sie zu vergewaltigen.

Als wir nach über einhundert Kilometern Breslau erreichten, starrte ich fassungslos auf die Mauerreste an den Rändern zerbombter Straßen, in denen Monate zuvor die Menschen zur Arbeit oder zum Einkaufen geeilt waren. Nun existierte unsere Wohnung nicht mehr. Völlig ausgehungert, kletterte ich in verschüttete Wohnungen und Keller und suchte nach Essbarem. Nur Vater fand ich nicht.

Nach meiner Rückkehr in Bad Landeck fehlten mir die Worte, das Gesehene zu schildern. Die vielen offenen Fragen sorgten Tante Luzie und Mutter so sehr, dass sie Passierscheine für Breslau beantragten. Sie hörten nicht auf die Warnungen des russischen Kommandanten. Bereits am 18. Juni 1945 saßen wir im Viehwaggon eines Zuges Richtung Osten. Am Bahnhof in Frankenstein formierte sich ein Flüchtlingstreck. Ich wurde angewiesen, ihn mit unserem schwer beladenen Handwagen anzuführen, denn ich war der Einzige, der den Weg bereits gegangen war. Vier Tage später kamen wir völlig erschöpft in Breslau an.

Ich konnte den Schock beim Anblick der zerstörten Heimatstadt für Tante Luzie und meine Mutter nicht mildern. Niemand wagte sich vorzustellen, was sich dort in den Monaten nach unserer Flucht abgespielt hatte. Jeder kämpfte um das kleine Stück Hoffnung, Vater trotzdem wiederzusehen und auch meine Brüder Heinz und Werner. Aus unserem Kellerquartier zogen wir nach einigen Tagen in eine Wohnung in der Wielandstraße Nummer 6 und bekamen die Küche, die Toilette und zwei Zimmer zugeteilt.

Mit meinen fünfzehn Jahren wurde ich zum Ernährer der Familie. Arbeit zum Geldverdienen gab es nicht, ausreichend zu essen durch die Bezahlung mit Lebensmittelkarten auch nicht. Mein jüngerer Bruder Horst und ich holten das Wasser vom Brunnen, schaufelten uns auf der Suche nach Einweckgläsern, Konserven sowie verfaulten Kartoffeln Schächte in die verschütteten Keller zerstörter Häuser, hangelten uns durch auseinandergebrochene Treppenhäuser, gruben in Beeten verwüsteter Kleingärten und bettelten auf den Bauernhöfen in den Dörfern. Immer Hunger zu haben, immer die geschwächten Beine und Arme zu spüren und trotzdem achtsam sein zu müssen, um verborgenen Minen und Granaten und anderen Verzweifelten auszuweichen, zehrten an meinen Kräften. Als die Quellen versiegten, beobachteten wir den Schwarzmarkt, stahlen und verkauften, manchmal auch im Auftrag der Nachbarn im Haus.

Im Dezember 1945 stellte mich ein deutscher Glasermeister als sein Gehilfe ein. Wir setzten bei polnischen Geschäftsleuten, Hotels und Kaufläden Fensterscheiben ein. Doch schon bald verlor der Meister seine Arbeit an einen polnischen Handwerker. Die Repressalien gegen die deutschen Bewohner nahmen spürbar zu. Wir wurden zu Fremden in unserer Heimatstadt, lernten ausgegrenzt und gehasst zu werden. Gleichzeitig hassten wir ebenso die Eindringlinge.

Nur durch die Freundschaft zu einem polnischen Jungen wurde ich von einem Klempnermeister eingestellt. Er war zufrieden mit meiner Arbeit und hätte gerne gesehen, wenn ich geblieben wäre, doch Mutter konnte sich nicht vorstellen, für Polen zu optieren. Stattdessen wurde ihr am 13. Oktober 1946 der Ausweisungsbescheid übergeben. Zwei Tage später räumten wir wenige Sachen aus der Wohnung, die wir schon seit einigen Monaten mit einem polnischen Ehepaar teilen mussten.

Mit einer Scheibe Brot wurden wir in einen Viehwaggon am Freiburger Bahnhof verfrachtet und hockten frierend auf dem Boden, bis Mutter das mitgenommene Bettzeug über uns legte. Die Fahrt ohne bestimmbares Ziel endete am 25. Oktober 1946 in Hannover. Bei schlechtem Essen und fehlendem Heizmaterial übernachteten wir zunächst auf Krankentragen in Baracken, sogenannten Nissenhütten, die auf einem Schulhof aufgestellt worden waren. Später wurden wir im Keller eines Verwaltungsgebäudes in Ricklingen untergebracht.

Ankunft in Stadthagen

Meine Mutter zögerte nicht, als ihr eine Wohnung in Stadthagen angeboten wurde. Hoffnungsvoll sah sie dem Montag, den 20. Januar 1947, entgegen. Doch am Ende der Fahrt durch eine schneeweiße Winterlandschaft, in einem dürftig mit Planen abgedeckten Lastwagen, wartete nur das nächste Übergangslager auf uns. Ein Klassenzimmer in der Bürgerknaben-Schule, ausgelegt mit Stroh, wurde für uns und elf andere Flüchtlinge für die nächsten Monate zur provisorischen Heimstatt.

Einem Irrtum unterlegen, hatte ich die Stadt Hagen erwartet und war enttäuscht, in einer Kleinstadt mit mittelalterlichen Häusern, einem Rathaus und einem Schloss angekommen zu sein. Die zehntausend Einwohner waren weitestgehend vom Krieg verschont geblieben und manche blickten skeptisch auf die Fremden. Empört bemerkte ich ihre Vorbehalte, und dass sie uns als Polen betrachteten, obwohl wir Deutsche wie sie waren.

Die nächste Enttäuschung erwartete mich im Arbeitsamt. In meinem siebzehnten Lebensjahr begann ich zu begreifen, dass mir der Krieg nicht nur meine Konfirmation genommen hatte. Den Anzug dafür hatte ich stolz im Herbst 1944 probiert, jedoch konnte ich ihn auf unserer Flucht nach Bad Landeck nicht mitnehmen. Schwerwiegender war, dass ich keinen ordnungsgemäßen Schulabschluss besaß. Damit fehlten mir die Voraussetzungen für die Wahl eines Lehrberufes. Mein Traum von der Karriere eines Landschaftsgärtners bis zum Gartenbauarchitekten wurde unerreichbar.

Mutter drängte mich in unserer Not, jede Arbeit anzunehmen, die mir angeboten wurde. Die wenigen Lebensmittel, die wir auf die Bezugsscheine erhielten, machten meine Geschwister und mich nicht satt. Eisige Kälte und schneebedeckte Straßen ließen uns bitter frieren und raubten jegliche Zuversicht.

Das Arbeitsleben beginnt

Einen kleinen Hoffnungsschimmer weckte der 4. Februar 1947, mein erster Arbeitstag bei der Firma Heinrich Lühr Staubtechnik Stadthagen, die mich als Metall-Hilfsarbeiter einstellte. Das 1938 von Heinrich Lühr gegründete Unternehmen spezialisierte sich nach dem Umzug in die Enzerstraße vor allem auf die Fertigung von Filteranlagen, auf Industrie-Entstaubung und Ventilatoren.

Obwohl von schmächtiger Statur und immer hungrig, musste ich körperlich oft schwer arbeiten. Gemeinsam mit einem schlesischen Kollegen, dem alten Schaffer, transportierten wir Material in einem ehemaligen Autoanhänger, reinigten die Filterschläuche in der Schlauch-Reinigungsanlage und tauschten Gas- und Sauerstoffflaschen um. Durch meinen Fleiß und meine Zuverlässigkeit verschaffte ich mir langsam Respekt unter den Kollegen, auch wenn einige von ihnen mich spüren ließen, dass ich nur der Hilfsarbeiter war.

Im Juli 1947 stand plötzlich mein Vater unter den vielen anderen Flüchtlingen in der Bürgerknaben-Schule. Aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassen, hatte er uns zu Fuß auf gefährlichen Umwegen vom Osten in den Westen Deutschlands über den Suchdienst in Stadthagen gefunden.

Unseren Fragen nach den Monaten in der Festung Breslau und über die Zeit nach Kriegsende wich er aus. Dafür besorgte er innerhalb weniger Wochen eine Wohnung in der Hagenstraße, die uns erst nach großen Widerständen seitens der Vermieterin von der Wohnungsverwaltung zugewiesen wurde. Die Eigentümerin verhinderte jedoch, dass wir die Toilette auf dem Flur benutzen durften, sondern erzwang, dass wir durch den Keller in den Schweinestall zum Plumpsklo gehen mussten.

Sowohl unter den jugendlichen Flüchtlingen in der Bürgerknaben-Schule als auch unter den Kollegen schloss ich erste Freundschaften. Horst Reinhardt, einem Lehrling, hatte ich zu verdanken, dass mir sein Vater einen Bezugsschein für Kleidung organisierte, um meine viel zu kurzen und schäbigen Sachen gegen eine Hose und eine Jacke tauschen zu können.

In der Firma brachte mich der wochenlange Abbau der Schießblenden und Wallanlagen der ehemaligen Schützenanlage auf dem Werksgelände an den Rand meiner körperlichen Kräfte. Deren Beseitigung hatte die englische Militärbehörde angeordnet. Seelisch litt ich, weil meine Eltern mich zu Hause nicht mehr bei wichtigen Entscheidungen einbezogen. Anstatt mich wie einen frühzeitig in harten Kriegszeiten gereiften Jugendlichen zu behandeln, fühlte ich mich wie ein Kind. Ich verlor ihre Aufmerksamkeit endgültig, als Heinz Ende 1948 aus polnischer Kriegsgefangenschaft zu uns nach Stadthagen kam. Werner sollten wir nie wiedersehen. Jahrzehnte mussten vergehen, bis es mir gelang, in einem Standesamt in Berlin zu erfahren, dass mein achtzehnjähriger Bruder am 5. März 1945 an der Oder, südlich von Stettin, dem heutigen Szczecin, gefallen war.

Eine schlimme persönliche Niederlage erlitt ich mit der Kündigung der Firma Lühr zum 24. August 1949. Sie wurde mit Arbeitsmangel begründet. Ich erfuhr, was es bedeutete, stempeln gehen zu müssen, um Arbeitslosengeld zu erhalten. Zwei Mal in der Woche quälte ich mich zum Arbeitsamt, empfand die Prozedur als erniedrigend und vermisste meine Arbeit, aber auch meine Kollegen. Nach fünf Wochen erhielt ich die Nachricht, dass mich die Firma Lühr wieder benötigte.

Fünf Wochen, in denen ich begann, über die Rolle der Gewerkschaften und Parteien ernsthaft nachzudenken. Im Herbst 1947 hatte mich ein Kollege in der Firma auf die Rolle der Gewerkschaft aufmerksam gemacht und mich zum 1. November 1947 als Mitglied der IG Metall geworben. Allerdings war ich nach einem Jahr wieder ausgetreten, nachdem unsere Gewerkschaftsbeiträge veruntreut und von uns Nachzahlungen verlangt worden waren.

Ich war kein politisch interessierter Mensch. Mein Vater hatte mich in meinem Beitritt zur Gewerkschaft bestärkt, trotzdem diskutierten wir niemals politische Themen oder aktuelle Nachrichten in der Familie. Aber die Erlebnisse meiner Kindheit vor, während und nach unserer Flucht, die entbehrungsreiche Zeit in Bad Landeck, Breslau, später auch in den ersten Monaten in Stadthagen, die Vertreibung aus der Heimat und das Gefühl der innerlichen Zerrissenheit zwischen Verlust und erzwungenem Neubeginn stimmten mich nachdenklich. Ich war in einer Stadt angekommen, die mich nicht erwartet hatte. Ich hatte eine Arbeit angenommen, die ich mir nicht aussuchen konnte. Obwohl von Freunden und Kollegen umgeben, fühlte ich mich oft einsam und spürte, dass ich noch immer nicht wusste, wonach ich suchte, worauf ich wartete.

Erstmalig beruflich anerkannt fühlte ich mich, als der Werksleiter, Herr Lühe, mich nach meiner Rückkehr in die Firma Lühr zum Spritzlackierer ernannte. Eifrig stürzte ich mich in meine neue Tätigkeit. Es war wichtig für mich, nicht mehr der Hilfsarbeiter zu sein, sondern als gleichwertiger Mitarbeiter von meinen Kollegen gesehen zu werden.

Aber der berufliche Aufstieg schützte mich nicht vor einer erneuten Entlassung. Ohne abgeschlossene Berufsausbildung und als unverheirateter Zwanzigjähriger gehörte ich zu den ersten Arbeitern, von denen sich die Firma Lühr im August 1950 erneut trennte und die Kündigung mit Arbeitsmangel infolge Auftragsrückgang begründete. Auch wenn ich den Stempel-Vorgang bereits kannte, war er nicht weniger demütigend.

Im Gegensatz zur ersten Arbeitslosigkeit wurde ich zu einem Arbeitseinsatz bestellt. Lange Tonrohre waren von einem Schwerlasttransporter abzuladen. Mit meiner schmalen, nicht gerade kraftvollen Statur kämpfte ich mit dem Gewicht der Ladung und war am Ende des Tages vollkommen erschöpft. Der Betrag, der mir als Tageslohn ausgezahlt wurde, reduzierte mein Stempelgeld.

Ohne mit mir gesprochen zu haben, erfuhr ich am 20. September 1950, am Auszahlungstag für das Arbeitslosengeld, dass ich zukünftig bei einem Landwirt in Wackerfeld arbeiten sollte. Eine Tätigkeit in der Landwirtschaft hatte ich nie erwogen und war somit sehr überrascht. Als ich das Angebot ablehnte, wurde mir am gleichen Tag die Arbeitslosenunterstützung entzogen und eine Sperrfrist auferlegt.

Zu Hause erzählte ich empört von der Situation, aber Vater zeigte kein Verständnis für meine ablehnende Haltung. Nur mein Onkel in Bielefeld unterstützte mich und empfahl, mich bei der Firma Miele zu bewerben. Obwohl ich nie eine Antwort erhielt, konnte ich sowohl mit meiner Suche nach Arbeit in Bielefeld als auch mit meiner schlechten körperlichen Verfassung gegen die Maßnahme des Arbeitsamtes argumentieren.

Es wurde eine amtsärztliche Untersuchung angeordnet, um durch einen Arzt feststellen zu lassen, dass ich für eine Tätigkeit in der Landwirtschaft nicht geeignet war. Am 9. November 1950 fand ich mich in der Praxis in der Niedernstraße ein. Im Gespräch mit Dr. Maue stellten wir fest, dass wir beide aus Schlesien nach Stadthagen vertrieben worden waren. Gemeinsam erinnerten wir uns an das unwiederbringlich schöne Breslau und an die Folgen der Aussiedlung. Währenddessen stellte mir der sympathische Arzt die erforderliche Bestätigung aus. Vier Tage später wurde mir vom Arbeitsamt bescheinigt, dass die verhängte Sperrfrist aufgehoben worden sei.