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Teile I - V

mit 54 Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Johannes Beringer

Jazzistisches

Umschlag, Layout, Scans: Peter Gruchot (www.gruchots.de)

© 2016 by Johannes Beringer, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Herstellung und Verlag: BoD - Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-7412-5664-6

Inhalt

Vorwort

Die hier vorliegenden Texte sind unbeauftragt, aber nicht nebenbei entstanden. Als einer, der mit Schreiben zu tun hat und bereits seit Jahrzehnten Jazz hört, fühle ich mich relativ frei von den üblichen Verpflichtungen: weder gehöre ich der Gilde der Jazzkritiker an noch bin ich wissenschaftlich tätig; auch spiele ich keine Musik oder pflege besondere Kontakte zu Jazzmusikern. Meine Absicht geht demnach nicht dahin, den Experten und der berufsmässigen Kritik ins Handwerk zu pfuschen – aber doch darauf zu bestehen, dass ihre Weise, Jazz zu hören und zu vermitteln, nicht die einzige ist. Jazz hat einen grossen Teil meines Lebens ausgemacht, ist in mein Leben eingegangen: weshalb sollte ich also nicht von diesem Leben berichten können? Hörerfahrungen lassen sich auch ohne Insider-Kenntnisse und sogar ohne musiktechnisches oder musikologisches Wissen weitergeben: gerade das absichtslose, regelmässige, sich nur der Musik zuwendende Hören kann einen Standard erreichen, der trägt – der vielleicht sogar tragfähiger ist als derjenige einer Kritik, die sich allzu oft den Parolen der Zeit verschreibt und Tagesmoden hinterherläuft. Denn das nehme ich für mich in Anspruch: Jazz so zu hören und aufzunehmen, dass die ‚Schlacken’ des Kommerziellen abfallen, das Blenderische oder Anmacherische zurückbleibt – reine Musik und Musik in ihrer Reinheit mich ansprechen und berühren kann. (Jazz ist zwar sicher heute so durchkommerzialisiert wie irgendein anderer Bereich – trotzdem gibt es in ihm, wie ich glaube, immer noch eine Unterströmung, die sich dem entgegensetzt und Musik um der Musik willen macht. Und wenn etwas anziehen kann an dieser Musik, dann ist es dies: dass da etwas off limits bleibt, dem bloss Marktgängigen widerstrebt und widersteht – immer wieder zu sich findet und bei sich bleibt.)

Ich bestreite natürlich nicht, dass musikologische Kenntnisse förderlich sind – aber einmal wissenschaftlich eingeschliffen und zur Usanz geworden, können sie auch auf eine Weise festlegen, dass das Unmittelbare der Hörerfahrung verloren geht oder ausgeschlossen wird. Die methodisch streng wissenschaftlich vorgehende Analyse ist zwar imstande, den Gegenstand zu ergreifen und zu zergliedern – aber wenn sie vorgibt, sie könne ihn – sozusagen rücksichts- und rückstandslos – bis in die hintersten Ecken hinein ausleuchten und erklären, so ist dies als Anmassung zu entlarven. Die Synthese scheint denn auch nie ganz zu gelingen – und manchmal ist es fast so, als ob das, was der unbeleckte und naive Hörer beim ersten Hören ganz hat, mühsam wieder hergestellt werden müsste. Ich würde das die Macht der Musik nennen: eine Macht, heisst das, die sich dem analytischen, radikallogischen Zugriff immer wieder entzieht – nicht nur, weil das Ganze mehr ist als alle ihre Teile, sondern weil sich in allen ihren Teilen das Ganze ausdrückt. (Das quantifizierende, mathematisch-logische Verfahren der Naturwissenschaften hat – seit seinem Siegeszug und seinen ungeheuren Triumphen – auch auf andere Gebiete abgefärbt, insbesondere Einzug gehalten in die Geisteswissenschaften, diese mit dem Zwang zum Methodischen und Systematischen belegt. Solche Art von Wissenschaftlichkeit hat sich zu einem Popanz von solcher Grösse und solchem Gewicht ausgewachsen, dass sie andere Formen des Umgangs mit Wissen beinahe erdrückt oder vergessen gemacht hat. Aber es gibt sie, diese anderen Formen: sie gehen aus einer Haltung hervor, die um ihre physiologische und naturgeschichtliche Fundierung weiss – die Souveränität des Bewusstseins nicht überschätzt – und es gerade von daher zu einem wirklichen Wissen und wirklicher Wissenschaft bringt.)

Was die frühen Analysen etwa eines André Hodeir heute noch lesenwert macht, ist doch eben dies: dass er sich bewusst ist, wo das Verfahren an seine Grenze stösst und versagen kann, ja versagen muss. Er setzt es nicht ausschliesslich oder absolut, sondern stellt die richtigen Fragen und vertraut auch seiner Intuition. Mit anderen Worten: eine Dimension seines Künstlertums fliesst hier immer mit ein, und nicht zufällig, scheint mir, haben seine Publikationen nach „Hommes et problèmes du jazz” von 1954 immer mehr die Form von ‚Versuchen’ angenommen. Wenn man richtig hinschaut, bemerkt man jedoch, dass diese Art von Essayismus nicht weniger fundiert ist – ein Wissen vermittelt, das der Zeit sogar besser standhält als eines, das sich dem Nur-Rationalistischen verdankt und rein methodisch gewonnen wird. (Ich habe mir im übrigen erlaubt, den Titel eines Buches von Hodeir, „Jazzistiques”, ins Deutsche abzuwandeln und zur Bezeichnung dieser Texte zu verwenden.)

Aber vielleicht habe ich jetzt den Maßstab für mich selbst zu hoch angesetzt: das unmittelbare Hörerlebnis lässt sich wohl kaum vermitteln – das Sprachliche ist immer schon Vermittlung eines Unmittelbaren, Transponierung in ein anderes Medium. Trotzdem: die Absicht oder Vorgabe, da ganz nah dran bleiben zu wollen, ist sinnvoll – was Umwege und Abschweifungen nicht ausschliesst. (Denn gerade sie können, durch den Blick auf anderes, das ganz andere des Hörens deutlich machen.) In diesem Sinn ist das Hörerlebnis für mich Ausgangspunkt – und die Abschweifung notwendig. Es gilt Anschluss zu halten an die Unmittelbarkeit von Empfindung und Gedanken – das Schreiben und den Umgang mit Worten so zu praktizieren, dass der ‚Bau’, der da entsteht, so etwas wie eine strukturelle Ähnlichkeit aufweist mit dem ‚Bau’ der komponierten und improvisierten Musik. – Ein Schreiben, das Tag für Tag geschieht (Skizzen aufgreift, die über einen längeren Zeitraum hin niedergelegt worden sind), wächst sozusagen organisch: aus solcher Arbeit heraus ist denn auch schichtweise – also spontan und reflektiert – die Dreiteilung der Texte entstanden. Der essayistische Charakter zieht sich durch alle drei Teile hindurch – aber die inhaltlichen Gewichte sind verschieden gelagert: in Teil I überwiegen – grob gesprochen – Reflektionen über das, was einen Jazzfan macht und ausmacht (seine Initiation, sein Formatives), ausgehend auch von eigenen Erinnerungen und Reminiszenzen, in Teil II geht es vermehrt um die Musik selbst, um Musiker und Hörerlebnisse, inner- und aussermusikalische Entwicklungen, in Teil III dann vor allem um den Niederschlag, den der Jazz in Büchern und Zeitschriften gefunden hat. (Wobei ich allerdings zugeben muss, wenig gelesen zu haben, was die spezialisierte Literatur betrifft: aber es kommt ja nicht unbedingt darauf an, viel zu lesen, sondern das richtige.) Wichtig war mir darüber hinaus – neben und mit der Schilderung von Konzertbesuchen über Jahrzehnte hinweg –, nicht nur im Binnenbereich von Musik mich aufzuhalten, sondern von der Musik und der Welt zu sprechen – von der Welthaltigkeit der Musik mich ansprechen zu lassen.

Berlin, Ende Oktober 1994

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„Jazzistisches I – III” ist von mir, wie oben angezeigt, selbst verlegt und vertrieben worden. Als Fortsetzung geplante Texte sind zunächst liegengeblieben – bis ich mich jetzt, eine andere Veröffentlichungs-Möglichkeit wählend, entschlossen habe, sie in die ihnen angemessene Form zu bringen. Ich habe also die Teile IV und V konzipiert, das heisst, das meiste neu geschrieben und die älteren Texte überarbeitet, dabei auf die Zusammenstellung und die Folge geachtet. Die Teile I bis III sind zudem durchgeschaut und korrigiert worden, wobei die Eingriffe, die sich dabei ergeben haben, recht minim waren. Zwei Stücke habe ich allerdings weggelassen: ‚Nochmal zum „Guide”’ (jeder, der Lust hat, kann ja in den „Penguin Guide to Jazz Recordings”, dessen erste Ausgabe ich damals rezensiert habe, selbst reinschauen1) und ‚In der Jazzliteratur wird immer behauptet (ein etwas zu lang geratenes Stück über Tradiertes und Improvisiertes). Ein paar Fussnoten und eine ergänzte Fussnote sind dazugekommen, eine habe ich aufgehoben.

Teil IV beschäftigt sich vor allem mit dem ‚Zeitenbruch’ oder der ‚Zeitenwende’ von ’68 – den Aufbrüchen, Abbrüchen, Veränderungen und Konsolidierungen, die es da, bezogen auf den Jazz, gegeben hat. (Gil Evans und George Russell etwa waren nach diesem Umbruch nicht mehr dieselben.) Dazu gehört auch die späte Wiederkehr des ‚Idiomatischen’ in der freien Improvisation.

Teil V besinnt sich auf das, was der Jazz immer schon war und immer noch ist: er beginnt mit einem Text von Jacques Réda – ‚Die einzige Farbe’ –, der dem Blau des Blues gewidmet ist, und setzt dem Hinweise auf Geschichtliches über ‚schwarze Kultur’ hinzu. Früheste (wenig bekannte) Hörerlebnisse von Fritz Usinger und Ernest Borneman werden herbeizitiert; ein schöner musikalischer Anfang – Jutta Hipp, Hans Koller (1952) – wird markiert. Wie im vorherigen Teil auch schon geht es dann aber vor allem um das, was sich ‚hindurchzieht’: jene Art von musicianship, die zwar mitten in der Zeit steht und doch über sie hinausreicht – die also imstande ist, etwas ‚Übergreifendes’ zu aktualisieren und die ‚Fackel’ weiterzureichen.

Berlin, im Januar 2016


1 Der letzte „Guide” liegt in der zehnten (und letzten) Ausgabe von 2010 vor. Richard Cook, einer der beiden Herausgeber, ist jedoch 2007 mit fünfzig Jahren an Krebs gestorben.

I

Un Air de Jazz – Jazz in the Air

Wenn ich früher durch Strassen ging – irgendwo – und aus einem Fenster ein paar Töne drangen, die wie Jazz klangen, fühlte ich mich sofort angesprochen, war versucht stehenzubleiben ... Weiter zu hören: Wer mochte das sein, der da spielte? Was war das für ein Thema? Um welche Platte konnte es sich handeln? Und wer war das, der da hörte? – Es lag dann etwas wie ein Versprechen in der Luft, die Welt schien schlagartig geändert, die gleichen Häuser und Strassen nicht mehr die gleichen Häuser und Strassen. Wie wenn ein gleichmässig-gleichmütig vor sich hinschnurrendes Motörchen einen kleinen Schubs bekäme – und plötzlich läuft es anders, schneller; wie wenn also, im ganz innerlich und ganz äusserlich ablaufenden Getriebe des Alltags, eine kleine Wendung eingetreten wäre und im Moment eine neue Verbindung sich auftäte. Das Aussen nicht mehr nur einfach das Aussen, das Innen nicht mehr nur einfach das Innen: ein Brückenschlag durch ein paar Töne, einen Klang.

Ein simples Phänomen des Bewusstseins tut sich darin – in diesem schnellen Umschalten, Einklinken, Festhaken – kund, zeigt zugleich einen allgegenwärtigen Mangelzustand an: etwas, an dem wir nicht direkt teilhaben, aber teilhaben möchten, kommt uns immer schöner und begehrenswerter vor, als es vielleicht ist. Es ist noch ein Stück Unbekanntheit drin und das macht die Sache geheimnisvoll – zieht an und verlockt. – Wenn wir in einem Lokal, an einem Nebentisch, zwei Menschen in ein intensives Gespräch verstrickt sehen, von dem wir nichts hören können, wenn wir ein Liebespaar, sich zugetan, einen fernen Waldweg entlang gehen sehen, wenn unser Blick abends oder nachts ein hellerleuchtetes Fenster streift, wir Menschen und Dinge so sehen, wie wir sie sonst nicht sehen – wie im Lichtkegel einer Bühne sehen, während wir im Dunkel stehen –, dann nimmt dieses Sichtbare sofort eine unbestimmt sehnsuchtsvolle Aura an. Wir nehmen es so wahr, wie wir es sonst nicht wahrnehmen – das Vertraute, Alltägliche tritt augenblicks zurück und etwas anderes schiebt sich an dessen Stelle.

Es ist wie das Bild von dem, was die Welt sonst nicht ist. Das Bild der Welt, wie sie sein könnte – ohne die Schwerkraft der Verhältnisse, ohne Hinderndes und Einschränkendes. Wir lassen uns also täuschen: aber das ist gewiss eine schöne und auch notwendige Täuschung. – Die Ent-täuschung tritt jedesmal dann ein, wenn wir zu wissen bekommen, worum es sich handelt: wenn wir hören, wovon die beiden da reden am Nebentisch, wenn wir die Gesten mit den Worten, die Worte mit den Inhalten verknüpfen können; wenn wir vernehmen, wo das Liebespaar wohnt, welchen Beruf der Mann hat, was die Frau tut (denn Liebespaare können nur im Nirgendwo zuhause sein); wenn wir erfahren, wie das Familienleben hinter jener erleuchteten Fensterscheibe sich tatsächlich zusammensetzt, wie kümmerlich oder sorgenvoll es vielleicht ist. Dann ist das Geheimnis weggewischt, das Versprechen gebrochen.

Und doch ist unsichtbar, zwischen den Welten, so etwas wie eine Verheissung immer noch da: im Zauber des Klangs, der in der Luft hängt, in den paar Tönen, die der Wind aus der Ferne heranträgt, im Blick, der durch den Spalt der Tür fällt und momentweise etwas anderes wahrnimmt.

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DIE WELT WIE SIE NICHT IST: ist es das vielleicht, was die Musik uns zu hören gibt? Was sie wie einen Empfindungsraum vor uns hin stellt, woher sie die Macht ihrer Anziehungskraft bezieht?

Sie hebt ab von der Wirklichkeit und ist doch nichts Utopisches, sondern ganz da, gegenwärtig, mittendrin im Wirklichen. Also auch, genährt aus dem ‚Triebgrund der Wirklichkeit’, selbst wirklich: Ausdruck der Welt, wie sie ist. – Ein Schwellenphänomen, Verbindung von zwei Sphären, die gleichzeitig da sind, bewusst-unbewusst, wirklich-unwirklich: Ausdruck der Welt, wie sie nicht ist – wie sie ist – nicht ist – ist – nicht ist ...

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JAZZ IST GROSSSTADTMUSIK. (Wenigstens der Jazz, der mich anspricht – und der fängt mit Charlie Parker erst an.) Dass der bebop in New York entstanden ist, ist ebensowenig zufällig wie die herausragende Bedeutung von New Orleans, Kansas City oder Chicago. Die Vielzahl der Eindrücke, das Passagere, Flüchtige (das, was Walter Benjamin früher einmal als ‚Chocs’ bezeichnet hat) wird von den gehetzten Phrasen des bebop aufgenommen und als Lebensgefühl wiedergegeben. In Charlie Parkers Spiel liegt etwas durchaus Triumphierendes: wie bei einem, der es schafft, das Unbewältigte zu bewältigen und momentan hinter sich zu lassen. Aber wenn das Schnellebige und Hektische immer noch zunimmt, ist dem Wechselhaften und Unablässigen der Eindrücke (die über die Sinne quasi gleichförmig auf die Ebene der Empfindungen prasseln) nur standzuhalten, indem man eine andere Haltung einnimmt: eine glatte Oberfläche ausbildet – wie der cool jazz –, um etwas Schutz zu haben und innerlich nicht unterzugehen. Das ist ein Akt des Willens oder des Bewusstseins, welcher der Verausgabung und reinen Veräusserlichung das kontrollierte Verhalten, das Mittendrinstehen und doch Distanzhalten, eben die ‚Kühle’ entgegenstellt. (Birth of the Cool von MILES DAVIS: ein geschmeidiges, gut vertäutes Neun-Mann-Orchester, das ein Zuviel an Turbulenzen glätten muss; nicht leicht vorstellbar heute, wie ultramodern diese Platte – mit Aufnahmen von 1949/50 – damals wirken musste.)

Diese Haltung ist eine, die vor allem auch von Jugendlichen übernommen wurde und etwa über Filme jener Zeit Eingang in Köpfe und Körper fand: selbst wenn die innere Kompassnadel wild hin und her pendelt, die Leidenschaften hochschwappen und die Begierden brodeln – nach aussen hin gilt es Fassung zu bewahren, kühl bis ans Herz hinan – lässig zu sein. (Paul Newman, eben von einem Mississippi-Dampfer an Land geschwommen und sich dem vor ihm liegenden Südstaaten-Kaff zuwendend, schiebt sich lässig den Hut in den Nacken mit einem Ausdruck, der sagt: ich bin zwar nur ein Tramp, aber mit euch nehm’ ich’s allemal auf. Das war, trotz der Umgebung, eine Großstadthaltung und hätte ebenso gut in eine Spielhölle gepasst. Oder Marlon Brando als „Mann mit der Schlangenhaut”: da sieht man schon am Kleidungsstück, dass es besser ist, Abstand zu halten. Oder das Haarekämmen vor der Mutprobe des nächtlichen Auto-Wettrennens in den Abgrund in „Rebels Without A Cause”: James Dean, der die Verletztlichkeit und Unsicherheit des Jugendlichen überspielt und einbringt in Gesten der coolness.)

Der Pendelschlag zwischen hot und cool, das ist wohl schon gesagt worden, hat den Jazz bestimmt bis in die neuere Zeit. Wenn man so will, ist diese Spannung aber bereits in der Mikrostruktur des Augenblicks angelegt: eine kleine Volte – und schon ist das, was eben noch überschäumen wollte, in den Grifff genommen; ein paar kontrollierte, bestechend einfache und klare Töne, die sich fortspinnen – und unversehens, fast weiss man nicht wie, ist etwas Ekstatisches drin. – Schon das timekeeping – die präzise, variable und zugleich stetige Wiederholung desselben durch die Rhythmusgruppe – bedeutet doch eine gewisse Anspannung der Physis in der Zeit, um den Raum zu liefern für die darüber liegende Improvisation – und die geht zuerst aus der Entspannung hervor, auch wenn sie sich dann anspannt und weit ausholt. (Vom Tenorsaxophonisten WARDELL GRAY ist zum Beispiel gesagt worden, die Qualität seines Spiels liege in „its total relaxation, even at the most turbulent tempos ...”) Mit der Zeit getraute man sich dann, die Unterlage auch wegzunehmen und das Sicherheitsnetz fallenzulassen – sich dem ‚Schweigen des Raums’ und dem ‚freien Fall’ in der Zeit zu überlassen.

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REFERENZINSTRUMENT DES KÖRPERS: die Kälte der Denkoperation braucht die Wärme des Organischen, den Herzschlag, den Atem, das Pulsieren des Blutes. Ausschliesslich technische Brillanz, wie sie heute im Jazz vielfach geübt und vorgeführt wird, unterläuft die Spannung des Wechselspiels zwischen Kalt und Heiss, ebnet in gewissem Mass den lebendigen Austausch ein, simuliert und funktionalisiert ihn: leerlaufender, vergessener Körper. (In ziemlich genauer Parallele zur Hervorbringung und Anwendung von Technik anderswo – Erfolg der naturwissenschaftlichen Objektivierung, welche die Funktion des Forschergehirns auf ‚Logizität’ einschränkt.)

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Traumgedanke. – Könnte es sein, dass es im Jazz etwa der 50er-Jahre eine Art von Lyrismus gegeben hat, der verloren ist? (Und nur BILL EVANS hätte ihn, mit seiner Vorliebe und seinem Flair für bestimmte Standards, aufgenommen, weiter getragen – so weitgehend, dass er eingeflossen ist auch in seine eigenen Kompositionen?)

Stücke, die schon im Titel eine schöne und nachdenkliche Hinneigung erkennen lassen, Songmaterial, zeitlos eingesponnen in die Zeit, wie märchenhaft verzaubert, Melodien, die wie von irgendwoher und nirgendwoher kommen – ins Vergessen abgesunken aus betriebsamen und langen Jahrzehnten schnelllebiger Folklore des amerikanischen Showgeschäfts, am Wegrand gefunden und aufgelesen von einigen professionellen Liebhabern, Aficionados, Könnern, Enthusiasten, die etwas brauchten für ihr songbook.

(Wie es immer geht: die Geschichtsschreibung zeichnet grosse Entwicklungen nach, bringt Linie in einen Ablauf und einen Prozess hinein, dessen Komplexität nie ganz zu fassen ist – etwas bleibt aussen vor, fällt runter. Einer stützt sich auf den andern, stützt sich ab, schreibt ab, bezieht sich auf, retouchiert vielleicht – und am Ende ist der Blick wie abgezogen, eingeschränkt, begrenzt durch die nachgerade etwas unwirklich anmutende Wirklichkeit der gezogenen Linie – während das, was sich nicht fügen wollte, erst vernachlässigt oder übersehen, bald vergessen ist.)

‚Deep In A Dream’ (von J. van Heusen und E. De Lange), eingespielt vom JIM HALL-Trio im Januar 1957, lässt etwas von solcherart zauberhaften Verstrickung hören: die wie als sanfte Frage gesetzten Gitarrentöne scheinen zusammen mit Bass und Piano die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit wegzuschmelzen – den Traum im Wachzustand, den Wachzustand im Traum einzuholen. („Treten wir”, fragt Edmond Jabès, „wenn wir den Traum denken, in den Traum des Gedankens ein, spulen dessen tägliche und phantastische Geschichte ab?”) Beispiele dieser, mehr auf der Nachtseite des Betriebs verlaufenden Linie liessen sich mühelos finden: ‚Lullaby For Dreamers’, ‚Lost In The Night’, ‚Pretty Little Theme’, ‚Little Lost Bear’ u.a., aufgenommen Ende der 50er-Jahre vom CHICO HAMILTON-Quintett, das Cello und Gitarre verwendete, mit ERIC DOLPHY, Altsaxophon, Bassklarinette und Flöte. (Noch weit bis in die Aufbruchsphase der 60er-Jahre hinein, scheint mir, klingt bei Dolphy der Einfluss dieser Schule nach.)

Ist dieser Traum ausgeträumt, leergeträumt? – Der Lyrismus, von dem die Rede war, lässt sich nicht herstellen, sondern stellt sich her: er kommt aus einem nur so und nicht anders In-der-Zeit-stehen, In-die-Zeit-eingehen – und das mag dann aus der Ferne anmuten wie Eingesponnensein oder Entrückung. Der Nimbus, der dem Jazz unterdessen zugewachsen ist und den er sich zugelegt hat, trübt das Bewusstsein – lässt erinnerungssüchtig, verwertungstüchtig dem nachspielen und hinterherhören, was so nicht mehr einzuholen und wiederzubekommen ist. – Hat der Jazz seine ‚Unschuld’ verloren – und wie die Erwachsenen mit der Kinderwelt einen Teil von sich selbst vergessen? Der von aussen kommende, angenommene oder selbstauferlegte Anspruch muss jedenfalls versagen oder verkommen, wenn er nicht auf ein Wahrnehmungsvermögen trifft, das sich auch mit der Gegenwart auseinandersetzt, lernt, amalgamiert (die Tradition) – und sich doch in gewissem Sinn ‚rein’ erhält.

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Frühe Liebesaffaire. – In einem Kino meiner Heimatstadt hatte ich „Jazz On A Summer’s Day” gesehen – einen Dokumentarfilm über das Newport-Festival von 1958. Da gab es, gleich am Anfang, eine Sequenz mit Wasserspiegelungen, während das JIMMY GIUFFRE-Trio ‚The Train And The River’ spielte: sicher keine besonders belangvolle Kameraspielerei (alles, was mit der Montage von Film und Musik zu tun hatte, sprach mich jedoch damals stark an) – aber was für eine fein gewirkte und wie von innen erwärmte Musik! Sie war es, die mir nachging und der ich nachhing: die Tonlage von Giuffres Bariton- und Tenorsaxophon und vor allem seiner Klarinette, die schöngesetzten Gitarrentöne von JIM HALL, der Bass von RALPH PEÑA. Ich suchte herum und fand das Stück schliesslich auf einer 45-tourigen Platte: Vol. 2 der LP the jimmy giuffre 3 auf ‚Atlantic’. (Es konnte immerhin geschehen, dass man den Titel sogar in einer Musicbox fand – allerdings eher im französischsprachigen Gebiet als im deutschsprachigen. Der Plattentext verzeichnet es als gutes Zeichen, dass in der Welt des „geräuschvollen” Rock’n Roll diese exquisiteste aller Kleinformationen einen solch „sensationellen Erfolg” erzielt habe.)

In meiner zweistündigen Mittagspause in Zürich (wo ich kaufmännischer Angestellter werden sollte – oder es wohl war) schlenderte ich oft durch die Strassen der Stadt – fuhr manchmal in die im obersten Stockwerk des grössten Warenhauses gelegene Schallplattenabteilung und hörte mir, auf einem Barhocker in einer Reihe mit andern sitzend, Musik an. Die erste Langspielplatte, die ich mir da erstand, hatte mich zuerst durch das cover angezogen: ein ganz in gold gehaltener Untergrund, darauf in einer Art cocteau’schen Zeichenmanier zwei ineinander verschränkte Hände (oder wenigstens die Andeutung davon), dann blau, in modernistisch abgewandelter art deco-Schrift third stream music, und rot, in kleinergehaltenen Grossbuchstaben THE MODERN JAZZ QUARTET & GUESTS. Ob die beiden ersten Stücke – ‚Da Capo’ von JOHN LEWIS und ‚Finé’ von GIUFFRE – mich gleich in Beschlag nahmen, kann ich nicht mehr sagen – aber es war jedenfalls um mich geschehen: die raffiniert einfachen Themen, die feine Behandlung des Materials, die ungewöhnliche Besetzung, die sich aus dem Zusammenspiel von Modern Jazz Quartet und Jimmy Giuffre-Trio ergab, setzten sich nachhaltig in meinem Kopf fest, ja gingen mir dermassen nach, dass ich ein bisschen um meinen Verstand zu fürchten begann. Ich glaube, ich spielte damals die Platte auf meinem kleinen Plattenspieler (im hochmodernen weiss-schwarzen Kunststoffstyling von Braun) über Wochen und Monate hin fast jeden Tag ab, legte die beiden ersten Stücke oft sogar mehrmals hintereinander auf. In was für eine abseitige Art von musikalischer Welt war ich da eingetreten, welche Art von süssem Wahn hatte mich ergriffen?

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„EINWEIHUNG IST ALLES” schreibt Ludwig Hohl in ‚Grade des Bewusstseins’ („Von den hereinbrechenden Rändern/Nachnotizen”, Nr. 515): schaut man nicht ganz anders zum Sternenhimmel hoch, wenn man zum Beispiel ein paar Kenntnisse über Beteigeuze, die ‚rote Riesin’, den Stern der Kategorie M, mit hundertmal grösserem Durchmesser als die Sonne, aber nur dreitausend Grad Oberflächentemperatur hat?

Diese Einweihung gibt es gewiss auch beim Jazzfan – aber hier kommt, bevor die Dinge sich durch Kenntnisse enthüllen, erst noch die Initiation. Der englische Sozialhistoriker E. J. Hobsbawm (der von der Studentenbewegung vor und nach ’68 stark rezipiert wurde) hat in einem Artikel über das ‚Comeback des Jazz’ (1987) auf das Phänomen der ‚frühen Liebe’ hingewiesen: „Der Jazzfan, so viele Kenntnisse er besitzen mag, ist im tiefsten Grunde immer ein Liebender. Während altmodische Schlager, wie jeder weiss, die Beziehung der Menschen in der Liebe kristallisierten und konservierten („sie spielen unser Lied”), ist der Jazz weit häufiger selbst Gegenstand der Liebe seiner Anhänger. Der tschechische Romancier Josef Skvorecky hat die ursprüngliche Wirkung des Jazz mit der ersten Liebe in jener vergangenen Zeit verglichen, als solche Gefühle, wie flüchtig auch immer, noch als unvergesslich galten. – ‚Es hatte begonnen als Liebesgeschichte, wie die anderen’, so beschreibt Dr. Dietrich Schulz-Köhn seine Entdeckung des Jazz – ein Mann, der im informellen Pantheon der Geschichte der Jazzliebhaber eine kleine Nische einnimmt: als jener deutsche Offizier, der 1944 bei St. Nazaire in amerikanische Gefangenschaft geriet und als erstes fragte: ‚Haben Sie Platten von Count Basie?’”2

Und wie die erste Liebe, hätte Hobsbawm hinzufügen können, behält auch diese ein Leben lang einen gewissen Reiz: man kommt von ihr nicht mehr los – selbst wenn sie vorbei ist, hegt und pflegt man sie, um sie zu bewahren.

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IN EINER KLEINSTADT GROSSGEWORDEN, hatte ich wie jeder Provinzler den Drang zur Grossstadt – und lernte bald diese besondere Art von Ausgesetztheit kennen, wie nur die Anonymität des Grossstädtischen sie zu bieten hat. Und doch: was für ein schönes Gefühl, allein in einer fremden Stadt, ganz auf sich gestellt, fremde und abgelegene Regionen zu erforschen, Streifzüge ins Unbekannte zu machen und dieses Alleinstehen, Für-sich-sein ganz auszukosten. Kleinstadt ist Angebundensein, Enge, Beschränktheit der Bindungen und Verpflichtungen – Grossstadt ist Bindungslosigkeit oder nur lose Bindung, freischweifendes Suchen, Gesetz des Zufalls, Eintreten des Unerwarteten. In diesem Gefühl wurde MILES DAVIS mein zuverlässigster Begleiter – war ich doch, folgerichtig, gleich nach meinen ersten Jazz-Entdeckungen auf Kind Of Blue gestossen. Ich hatte diese Platte (damals bei ‚fontana’ herausgekommen, einer Untermarke von ‚Phillips’) auch bei Aufenthalten in anderen Städten bei mir, behandelte sie mit der Rücksicht eines zärtlichen Liebhabers: besonders die langsamen Stücke – ‚Blue In Green’ und ‚All Blues’3 – hatten es mir angetan. Wie oft habe ich die Platte zum Beispiel in Genf gespielt, in meinem Untermietzimmer, abends, nach den Stunden im Büro, mich von der Lethargie, dem Drückenden der Arbeit erholend. – Dieses Bedürfnis hatte schon etwas mit meinem Angestelltendasein zu tun – war dessen andere Seite. Da sass jeder Ton an der richtigen Stelle und war doch ganz ungezwungen hingesetzt, gelang ein Zusammenspiel, das weghob von der Öde des Alltags, der abstumpfenden und repetitiven Tätigkeit im Beruf, die den Einzelnen ausrichtet und deformiert. Die Büroarbeit: das war Zurichtung auf Stillsitzen, Anbindung ans Immergleiche, Sinnentleerung, bleierne Zeit; der Jazz: das war ins Spiel gebrachte Körperlichkeit, Intuition und freies Schweifen der Gedanken, Kraft des Ausdrucks und Verbindung mit anderen, sinnvoll erlebte Zeit.

Bill Evans hat das in den liner notes zu Kind Of Blue über ‚Improvisation in Jazz’ hervorragend ausgedrückt: indem er eine Parallele herstellt zur japanischen Art des Tuschzeichnens – zum einmaligen, nicht rücknehmbaren, organischen Pinselstrich –, weist er auf, wie die Ausführung mit dem Gedanken verbunden ist: dass nämlich die Tat die ‚meistbedeutende Reflektion’ schon ist. – Darauf hat auch Ludwig Hohl verschiedentlich hingewiesen: „Man kann nicht etwas voll erkennen und nicht tun. Das Erkennen geht unmerklich in die Tat über.” Oder: „Wir erkennen durch die Sinne. Aber unser Sinn aller Sinne ist das Tun.” („Die Notizen”, I,47 und I,50.)

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„(...) Nun ergibt sich folgender Widerspruch: die wirkliche Einseitigkeit des Standpunkts führt zur geistig lebendigen Gesamtansicht der Welt, der theoretisch-systematische Anspruch auf Vollständigkeit zur Verkümmerung in Spezialgebieten. Die systematische Vereinigung der einzelnen Ansichten ist keine wirkliche Schau des Ganzen, denn so wie das sinnliche Auge des Körpers hat auch das Auge des lebendigen Geistes nie die Möglichkeit einer vollständigen Ansicht, sondern unterliegt der Perspektive als dem biologischen Gesetze der sinnlichen und der geistigen Schau. Damit aber ist mit jeder Veränderung des Standpunkts eine neue Welt gegeben, und die Unendlichkeit der möglichen Perspektiven lässt den Geist nie zur Ruhe kommen. Die moderne Wissenschaft glaubt dagegen an eine Zusammensetzung der verschiedenen Seiten des absoluten und festgehaltenen Objekts der Erkenntnis zum Ganzen der Gesamtansicht; diese Zusammensetzung ist mechanisch, nicht eigentlich ausgeführt, sondern bloss gedacht, nicht erlebt, sondern ins Leere gesetzt und hat nicht den Einheitscharakter der Schau, an der Körper, Seele und Geist teilhaben. Für die moderne Wissenschaft ist die allgemeine Ansicht kein Problem mehr, besteht sie doch im blossen leeren Zusammendenken der Einzelansichten, eine Verbindung, wie sie die Universität als die gleichgültige Einheit des Orts der verschiedenen Wissenschaften symbolisiert. Also: nur in Einzelgebieten soll die Forschung fortschreiten. Aber sie schreitet nicht fort, wenn sie im Ganzen nicht fortschreitet! Die grossen Probleme des verheissungsvollen Anfangs werden immer mehr zu Problemchen, die Kleinlichkeit, verkleidet als saubere Exaktheit und Liebe zur Wahrheit, herrscht vor, um schliesslich in der Technik eines blossen Könnertums zu endigen. Das Todesurteil des abgetrennten Geistes ist damit gesprochen.” (Hans F. Geyer, „Von der Natur des Geistes”, Philosophisches Tagebuch I, Freiburg i. Brsg. 1969, S. 70)

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WAS EINE MELODIEN UND HARMONIEN, Melodiöses und Harmonisches explorierende Musik für die Gefühls- und Seelenlagen, also auch für das intellektuelle Leben der Menschen vermag, ist bislang wenig beachtet worden. Die Ödnis, die Nüchternheit des normierten Alltags ebnen ein, stumpfen ab und machen gleich-gültig: nichts Überwältigenderes also, als zu differieren – ein vergessen geglaubtes, lange verschollenes und ich weiss nicht in welche Regionen der Physis abgesunkenes Gefühl wiederzuentdecken! Diese Art von Sensitivität und Intelligenz, scheint mir, kultiviert der Piano-Klang von PAUL BLEY