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Irene Pietsch

KOSELBRUNN

Mandamos Verlag

© 2018 Irene Pietsch

Umschlag, Illustration: Irene Pietsch Verlag:

Mandamos Verlag UG(haftungsbeschränkt)

Alte Rabenstr. 6, 20148 Hamburg

Herstellung und Auslieferung:

tredition GmbH

Halenreie 42, 22359 Hamburg

ISBN

Paperback      978-3-946267-42-3

Hardcover      978-3-946267-43-0

e-Book           978-3-946267-44-7

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Inhaltsverzeichnis

Eine wirkliche Fabel

Die sprechenden Briefe

„Molden hatte mich ermutigt, einen Brief an die Präsidentengattin zu schreiben. Für ihn als Wiener, einen Diplomaten der Republik Österreich, war das aus historischer Sicht der gangbarste Weg, um ins Gespräch zu kommen, falls alle anderen Gelegenheiten verpasst worden sein sollten…

Ich überlegte und schrieb ein paar Zeilen. Handschriftlich, aber leserlich. Ich war mir selber fremd.“

(„Der Vierte Alliierte“ S. 221/222)

Die Zeit war noch nicht reif dafür, fand ich damals und meine auch heute noch, damit richtig gelegen zu haben, was Fritz Molden mit intimen Erkenntnissen von politischen Aktivitäten, besonders auch im Nahen Osten, widerstrebt haben mag, sich jedoch – aus welchen Gründen auch immer - vertiefende Kommentierungen versagte.

Zehn Jahre nach Veröffentlichung von „Heikle Freundschaften - Mit den Putins Russland erleben“, vertraute ich neue Reflektionen, die auf alten Erkenntnissen beruhten, einer Fabel an.

Jetzt, nach der vierten Wahl von Wladimir Putin zum Präsidenten der Russischen Föderation, halte ich den Zeitpunkt für gekommen, eine überarbeitete, zweiteilige Fassung davon zu veröffentlichen. Es ist kein simpler Begleitbrief zu „Heikle Freundschaften – Mit den Putins Russland erleben“, sondern nach jahrelangen Beobachtungen der Entwicklung, die spätestens in den Jahren 1996/97 begannen, ein Appell auf Basis des Gedankengutes, das mir Ljudmila Alexandrowna in einem Konvolut an Briefen bis zu Beginn der ersten Präsidentschaft von Wladimir Wladimirowitsch Putin übermittelte.

Hamburg, im Frühjahr 2018

Irene Pietsch

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Eine wirkliche Fabel

nach

Jeux d’enfants von

Georges Bizet

1

Es ist ein ganz normaler Sonntagnachmittag, und doch irgendwie anders. Etwas Besonderes liegt in der Luft.

Auf der Terrasse des größten Hauses weit und breit sitzt ein hagerer, ernster Mann am gedeckten Kaffeetisch und sieht in immer kürzeren Abständen auf seine goldene Armbanduhr. Genau dieser kritische Blick ist es, der eine schwer erklärliche Unruhe in das sonst so friedliche Bild einer harmonischen – etwas spießigen -Familie bringt, weil er nichts Gutes zu verheißen scheint, zumal gerade jetzt ein sommersprossiger Rotschopf heranstürmt, als wenn es gälte, Verfolger abzuschütteln.

„Vater, so hör doch! Sie kommen“, japst er ein ums andere Mal.

Der Vater ist Herr Himmelheber. Als Bürgermeister der Stadt gibt er sich sehr würdevoll, was daran zu erkennen ist, dass er selten zu Scherzen aufgelegt ist.

„Felix, schrei‘ nicht so herum!“, tadelt er den Kleinen denn auch sofort. „Was heißt überhaupt ‚s i e kommen‘?“

Er räuspert sich.

„Ist Deine Mutter auch bei „sie“?“

Felix schüttelt den Kopf.

Herr Himmelheber zieht die rechte Augenbraue zu einem spitzen Dreieck hoch, was ein wenig einstudiert wirkt und was es wahrscheinlich auch ist. Im Theater kommt man für diesen Effekt selten ohne Maske aus.

„Es ist bereits mehrere Minuten über der Zeit!“

Der Junge schaut dem Vater mit einer Direktheit ins Gesicht, als wolle er ihn entlarven.

Dann trotzig:

„Die Soldaten kommen! Und vornweg macht ihr Anführer in einem knatternden Auto ohne Verdeck ein Riesenspektakel. Er trägt eine Uniform wie die anderen, nur auf seinen Schultern glänzt es wie bei Mutter, wenn sie ihre Hauptbroschen anzieht.“

„Die Hauptbroschen sind Orden und man zieht sie nicht an, sondern trägt sie. Und ‚ohne Verdeck‘ gibt es nicht. Irgendwo wird er schon sein Verdeck haben, Dein Herr ‚Anführer‘.“

„Auf den Händen?“

„Was ‚auf den Händen‘?“

„Muss man Orden auf den Händen tragen?“

„Man kann.“

„Wie Mutter?“

„Das sind Ringe.“

„Die trägt der Anführer auch…“

Felix atmet tief und zerkaut dann die Luft mit seinen Milchzähnen, was in einem Schluckauf mündet, der schnell vorbei geht, als sein Vater ihm rät, sich auf den Kopf zu stellen.

„…und auf den Ärmeln hat der…

„Kommandeur“, flicht Herr Himmelheber schnell ein, bevor Felix noch einmal mit „Anführer“ kommt.

„…mehr goldene Streifen als ich Finger an beiden Händen zusammen“, stößt er voller Achtung hervor.

Herr Himmelheber lacht.

„Dann sag doch mal genau, wie viele Streifen Du auf jedem Ärmel gezählt hast“, weicht er dem gedanklichen Streifzug seines Nachwuchses aus, um nicht in Verlegenheit zu kommen, sämtliche protokollarischen Extrafeinheiten von Orden welcher Klassen auch immer erklären zu müssen.

„Ich weiß es nicht“, antwortet Felix wahrheitsgemäß und erntet dafür schallendes Gelächter. Herr Himmelheber hält sich geradezu den Bauch vor Lachen.

„Das soll man also glauben! Die ganzen Ärmel von oben bis unten voll mit goldenem Besatz!“, ruft er ein ums andere Mal.

„Gleich wirst Du uns wieder weismachen wollen, Du hättest unter dem Postkasten an der Straße gesessen und dort gehört, wie sich die Briefe in aller Akkuratesse über alle Petitessen unterhielten“, spottet Herr Himmelheber. Er ist Vorstandsvorsitzender der örtlichen Arbeitsgemeinschaft für akademische und berufene Laiendarsteller und bereitet gerade die jährliche Uraufführung einer satirischen Boulevardkomödie vor, in der er sich selber spielt und deshalb – bis zur ersten Probe mit den Ko-Akteuren aus diversen Rathäusern der Bundesländer - zu sprunghaften Themenwechseln neigt, um die verschiedenen Rollen des Stückes zu simulieren. Gerade war es ein Polizeipräsident gewesen, einer von der Sorte mit dem scharfen Dreieck einer Augenbraue. Jetzt ist er der Innenminister. Danach – das kommt darauf an, was ihm als allround Vorstandsvorsitzendem zugespielt wird, worauf er im Augenblick noch wartet.

Felix überhört gekonnt, was er nicht versteht. Das ist zwar nicht immer probat, aber die beste Medizin, wenn der Vater mit sich beschäftigt ist.

„Sie kommen aber wirklich! Ich habe ihr Lied gehört! Ganz laut! Und die Trompete klingt wie…“

Wieder schnappt er vor Erregung nach Luft und sucht nach dem passenden Wort.

„Wie Silber“, hilft ihm die Mutter rasch, die gerade rechtzeitig hinzugetreten ist.

„Unsinn!“, grunzt Herr Himmelheber, noch nicht sicher, ob er das den Polizeipräsidenten oder den Innenminister sagen lassen will. Vielleicht bewahrt er diesen kostbaren Einwurf auch für sich als Bürgermeister auf. Es kommt auch hier darauf an, was ihm als Vorstandsvorsitzenden zugespielt wird. Momentan stellt er die hohe Erwartung an seine Frau.

„Felix“, wendet die sich sanft an den Jungen, „lass die Soldaten, wo sie sind – oder hast Du sie etwa zu uns eingeladen?“

Sie schüttelt Felix. Der nickt mit dem Kopf.

„Du hast also…“

„Er ist ein kleines Ungeheuer!“, knurrt Herr Himmelheber.

„Er ist kein kleines Ungeheuer, er ist Dein Sohn, August!“

„Ein schönes Kompliment!“

Felix steht still und stumm.

„Felix, wir brauchen die Soldaten nicht“, wendet Anna Himmelheber sich sanft an ihren Sohn.

Haben wir es nicht auch ohne Parademarsch und Kommandos sehr schön hier?“

Felix schaut die Mutter zweifelnd an. Sie trägt heute Nachmittag keine Broschen, nur eine Spange im Haar. Die allerdings mit Steinen besetzt.

„Trägst Du einen Orden im Haar?“

Herr Himmelheber räuspert sich, als ob er angesprochen worden wäre, wobei außer Zweifel steht, dass sein Haar keine Spange halten würde.

„Das ist eine Dienstmütze“, mischt er sich ein.

„Unsinn!“, kontert seine Frau. „Das war noch nie eine Dienstmütze und wird auch nie eine werden. Du verwechselst irgendetwas. Ich möchte lieber nicht wissen, warum.“

Frau Himmelheber lächelt den gefährlichen Moment einer emotionalen Entgleisung weg.

„Was Dich betrifft“, sie schaut ihren August herausfordernd an, „so meine ich, dass Du einen Sonnenhut tragen solltest“. Und zu Felix: „Gib zu, Du hast geträumt, dass Du die Kompanie eingeladen hast!“

Felix macht große Augen. „Habe ich gar nicht.“

„Warum hast Du dann genickt?“ „Du hast mich festgehalten.“

„Am Kopf?“

„Anna, Du hast ihn am Arm geschüttelt!“

„Deswegen muss er doch nicht in die falsche Richtung nicken!“

Sie lächelt ihr Frau-Bürgermeister-Empfangskomittee-Lächeln.

„Natürlich kommen keine Soldaten – und auch kein Feldherr“, fügt sie mit einem leisen Unterton des Bedauerns hinzu.

Es klingt zwar sanft, aber so bestimmt, dass Widerworte nicht infrage kommen. Sogar Bürgermeister Himmelheber hält sich in Spielprobenpausen außerhalb der regulären Dienststunden daran, so sehr, dass die Eltern in der Summe aller zur Verfügung stehenden Möglichkeiten einerseits immer mehr, andererseits immer weniger Zeit für Felix haben, der deshalb tagaus, tagein mit seiner Puppe unter dem Briefkasten an der Straße sitzt und den Briefen zuhört, bevor sie in alle Welt weiter reisen.

Auch jetzt ist Herr Himmelheber in Gedanken wieder ganz woanders. Der Innenminister muss noch einen zusätzlichen Dialog eingearbeitet bekommen, der die Tagesthemen streifen soll.

Er hat sich von seiner Frau abgewandt, die auf das Tortenstück vor sich blickt.

„Was stehst Du herum und sagst nichts?“, schnauzt er Felix unvermittelt an, als habe er einen Delinquenten vor sich.

Der zuckt zusammen. „Ich meine…“, stottert er.

„So fängt das immer an. Davon fallen noch keine Ciceros und Ciceronen vom Himmel.“

„Du solltest Dich schämen!“, fällt ihm Frau Himmelheber in seine schöne Dialogidee.

„Weswegen?“

„Genau das habe ich mir gedacht, dass Du mal wieder null Ahnung hast, über was ich gerade nachdenke. Aber schämen soll ich mich! Und wenn ich das nun nicht tue, was dann?“

Frau Bürgermeister Himmelheber lächelt. Herr Bürgermeister Himmelheber wendet sich grimmig ab, als habe ihm Cato den Cicero vermasselt.

„Ich wollte…“, meldet sich Felix wieder zu Worte.

Vater August und Mutter Anna warten gespannt.

„Ich wollte…“

Wie kann er es glaubwürdig überbringen, dass er die Nachricht von dem zu erwartenden Besuch von einer Bassstimme hat, deren Volumen den Blechkasten fast ins Wanken gebracht hat?

„Der Feldmann kommt mit Leibkoch, Gewandmeister…äh… “

Der Vater ist noch immer oder schon wieder woanders. Er spielt mit seinem Mobiltelefon, während die Mutter ihre beringten Hände begutachtet.

Dann wie nebenbei zu Felix:

„Woher hast Du das?“ „Von Dir.“

„Was von mir?“

„Mit dem Gewandmeister.“

Warst Du etwa heimlich in ‚Kalif Storch‘, obwohl Du das schon dreimal gesehen hast und ich ein viertes Mal verboten habe?“

„…sogar Stallmeister haben sie, eine Kammerjungfer und Missjö und Madamm Figaro“, hat meine Puppe gesagt, erkämpft sich Felix das Wort.

Vater und Mutter Himmelheber geben sich unbeeindruckt.

„Feldherr, nicht Feldmann, Felix“, sagt schließlich die Mutter wie nebenbei, „aber das musst Du noch nicht wissen.“

Herr Himmelheber spielt weiter mit dem Mobiltelefon.

„Er ist alt genug, um nicht Feldmann zu sagen, wenn es sich um einen Feldherrn handelt“, merkt Vater August ohne aufzugucken an, während Frau Anna unentwegt ihre Ringe betrachtet, so dass Felix sich unbemerkt auf und davon stehlen will.

Herr Himmelheber merkt sich das für den Polizeipräsidenten.

„Felix, bleib hier!“

Felix bleibt wie angewurzelt stehen.

„Du musst Dich mehr um die Familie kümmern! Wie heißt Dein Patenonkel, der Maître?“

„Koselbrunn.“

„Und was war sein Vater?“ „Feldmarschall.“

Frau Himmelheber nimmt einen Ring ab und hält ihn gegen die Sonne, reibt ihn an der leinenen Tischdecke blank und steckt ihn wieder auf.

„Siehst Du, der ist auch kein einfacher Feldmann mehr gewesen“, sagt sie.

„War er vorher einer?“

„Ich denke schon.“

„Was redest Du dem Jungen für einen Unsinn ein!“, herrscht Herr Himmelheber seine Frau an.

„Wenn der Koselbrunn das hören würde, hättest Du es für alle Zeiten mit ihm verdorben!“, protestiert Frau Himmelheber.

Die Passage mit dem Koselbrunn will Herr Himmelheber gerade deswegen für seinen Bühnenauftritt reservieren. Koselbrunn ist für fiktive Streitgespräche gut zu haben. Seine Frau kennt ihn nicht von der Seite.

Anna Himmelheber kennt auch ihren Mann nicht von der Seite und nimmt einen anderen Ring von den Fingern, poliert ihn gründlich nach und steckt ihn wieder auf.

„Geh nur, Felix, Vater und ich haben etwas zu besprechen. Ich rufe Dich zum Abendessen.“

Eigentlich möchte Felix jetzt gerade bleiben, aber er trollt sich zum Briefkasten.

„Hör mal!“, flüstert er der Puppe leise ins Gesicht. Ohren hat sie nicht, was Felix nicht stört, solange ihr nichts entgeht. „Pass auf!“, gibt er ihr gerade jetzt ein Zeichen, „da ist wieder der Bass von vorhin!“

„Ich bin der Meinung, unser Bürgermeister sollte seine Exzellenz, den Generalfeldmarschall, schriftlich einladen!“, kommt es dunkeldumpf aus dem Briefkasten, dessen Bauch wahrscheinlich noch zu leer ist, um schön klingen zu können.

„Große Stimmen in leeren Blechkästen wirken einfach nicht“, denkt sich Felix, der selber sehr gute Ohren hat und bei seinen Eltern als musikalisch gilt.